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Die neuen Unberührbaren

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Die Zwangssterilisierung ist von der Landesregierung des indischen Bundeslandes Maharashtra zum Gesetz erhoben worden. Wie barmherzig, im Vergleich zur Landesregierung des sandigen Bundeslandes Rajastan! Die trägt es an den Kindern aus.

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Die Zwangssterilisierung ist von der Landesregierung des indischen Bundeslandes Maharashtra zum Gesetz erhoben worden. Wie barmherzig, im Vergleich zur Landesregierung des sandigen Bundeslandes Rajastan! Die trägt es an den Kindern aus.

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Keine freie Schule, keine freie Spitalsbehandlung für Kinder von Eltern, die mehr als deren drei haben. Während die Unberührbaren durch Schute und Privilegien in den Strom des nationalen Lebens gezogen werden, schafft man ein Heer von neuen Unberührbaren: die Kinder aus den traditionellen, den großen, meistens armen Familien.,

Nach mehr als 25 Jahren halbherziger Verwirklichung wird die Bevölkerungsplanung zum nationalen Notproblem. Der Ausnahmezustand, am 26. Juni 1975 proklamiert, erweist Sich als Instrument zur Bildung einer Nation. Bevölkerungsstabilisierung ist die unerläßliche Voraussetzung für eine „Nation Indien“. Jugendführer und der „Kronprinz“ Sanjai, der Sohn Indiras, wurden zur Geißel der Kinderreichen. Indira Gandhi selbst? Wie in so vielen Fragen ist sie unentschlossen; sie will bremsen. „Ein bißchen kraß“, War ihr Kommentar. „Man muß alle Wege versuchen.“

Die Angst ist gerechtfertigt; ohne Bevölkerungspoliitik wird es nie eine „Nation Indien“ geben können. Die Ernte in diesem Jahr ist die größte, die es je gegeben hat. Fünfzehn Millionen Tonnen über den Erwartungen. Und die Regierung hat sechs Millionen Tonnen als Reserve aus dem Ausland dazugekauft. Was aber der Monsun gegeben hat, nimmt der menschliche Zuwachs. Die industrielle Lage ist nicht rosig: Rezession, steigende Arbeitslosigkeit, und jeder Entlassene hat sein lebenslanges Urteil, arbeitslos zu bleiben, in der Tasche. Drei Millionen Jugendliche kommen in jedem Jahr auf den Arbeitsmarkt, drängen sich zu den wenigen Arbeitsplätzen, die offen sind. So gut könnte die industrielle Entwicklung gar nicht sein, daß sie

die neue Arbeitskraft in jedem Jahr aufsaugt. Zwangsläufig bringt jedes Jahr nicht nur 14 Millionen mehr Münder, die Nahrung wollen, sondern auch drei Millionen mehr Menschen, die in den Arbeitsprozeß eintreten wollen. Was immer Indien erreicht — es ist zuwenig ohne Bevölkerungspolitik. Doch auf der Linie der Bevölkerungspolitik vollzog sich die radikale Veränderung.

Noch ist es in Indien und in den meisten Entwicklungsländern so, daß allein die große Zahl der Söhne soziale Sicherheit bietet. Bei der Landesregierung von Rajastan in Jaipur gibt es unveröffentlichte Zahlen. In den Dörfern gebiert jede Frau im Durchschnitt neunmal und fünf ihrer Kinder bleiben am Leben. Man tut alles, damit mehr Jungen als Mädchen aufwachsen. Bei einem Banjaras-Stamm in Rajastan hörte Ich sagen: „Wer bleibt neben mir, wer läßt nicht zu, daß ich am Weg zurück bleibe, wenn ich hilflos bin? Ein einziger Sohn kann nur meine Hilflosigkeit teilen. Bei drei Söhnen beginnt die Sicherheit.“ Was dieser Nomade mir sagte, hörte ich auch in den Dörfern. Nur eine Gesellschaft, die Sicherheit gewährt, kann an eine freiwillige Geburtenbeschränkung denken.

Die 150 Millionen Menschen, die über dem Durchschnittseinkommen einer Familie (500 Rupien, 1100 Schilling) leben, werden bereits von der Propaganda der Regierung beeindruckt. Indien war der erste Staat, der Familienplanung zur Regierungspolitik erhoben hat und seit 1952 betreibt er Planungspropaganda und Planiungsberatungen. Ganz erfolglos war die. Propaganda nicht. Der Bevölkerungszuwachs verringerte sich von 3,2 auf 2,7. Achtzehn Millionen Menschen, drei

Prozent der Bevölkerung, ließen sich sterilisieren. Und in den Städten begrenzen 40 Prozent mit verschiedenen — oft auch weniger problematischen Methoden als Sterilisierung — ihren Nachwuchs.

Der Widerstand im niederen Mittelstand kommt nicht so sehr aus dem Sicherheitsbedürfnis, als aus der konfessionellen Rivalität. Die Hindus weisen auf die Geburtenfreudigkeit der Mohammedaner hin: „Wenn wir uns beschränken, werden sie bald die Majorität sein!“ Die Mohammedaner wieder fürchten, zu einer Minderheit zu schrumpfen.

Die Schärfe der neuen Gesetze richtet sich gegen die Hilflosen; sie geraten bei der Nationsbildung durch die neue Bourgeoisie eben unter die Räder. Vor allem wird es jene treffen, die jenseits der Grenze der elektrischen Beleuchtung in dunklen Lehmhütten leben; die Mehrheit der indischen Bevölkerung. Die Zone des elektrischen Lichtes ist die Zone der selbstverständlichen Geburtenbeschränkung. In den weiten Territorien mit den langen lichitlosen Abenden ist jede Predigt über Geburtenbeschränkung ins Leere gesprochen.

Endlich war man doch schon etwas weitergekommen; endlich kamen mehr Kinder der untersten Schichten in Schulen, gab es mehr Schulen für die Kinder der untersten Schichten. Endlich kamen Sanitäter auch in die Viertel der Dorfarmut und der Pariahs. Und es gab

sogar Mütter, die aus ihren Lehmhütten in die Spitäler zur Entbindung kamen. Die Viertel, die den neuen Segen zu genießen begannen, waren die Viertel der allen Gefahren Ausgesetaten, und darum der Kinderreichen.

Jetzrt geht das alles nur bis zum dritten Kind. Kommt das vierte, geht selbst den vorher Gekommenen das Grundrecht auf Leben verloren. Schule, Spital, Arzt, öffentliche Arbeit, Wohnung, Bewässerung sind im Gesetz von Rajastan den Kinderreichen entzogen.

“in diesem Prozeß der Nationbildung, wenn Gesundheit und Wissen zu zahlen beginnen, wird in den Dörfern und in den lichtlosen Slums der Städte eine neue Masse der Unberührbaren geboren. Vielleicht wind die größere Kindersterblichkeit in den arztlosen Familien mit mehr als drei Kindern und wird die Schwäche der Heranwachsenden das Problem auf natürliche Weise lösen ... Die aber überleben, ohne Arzt und ohne Schule und mit dem Brandmal der vom Gesetz Verpönten gezeichnet, werden die neue Kaste der Ausgestoßenen sein.

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