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Einst Siechtum, jetzt Agonie

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„Ein Moses unserer Tage würde die Ölkrise ankündigen als die schwerste aller Plagen. Alle anderen Plagen kennt Indien bereits. Doch unter der Ölkrise droht die Union zu zerbrechen.“ Umarshankar Joshi, Prorektor der Universität Ahme-dabad, Lyriker und Sanskritgelehrter, brauchte mehr als sechs Jahrzehnte, um diesen Pessimismus zu erlernen. Indien und Ahmedabad sind gute Lehrstätten. Vor Umar-shankars Haus stehen Gewehrpyramiden, die Soldaten campieren auf dem Cricketplatz. Durch die engen Straßen der Altstadt patrouillieren Gendarmen. Über die breiten Straßen des neuen Stadtteiles rollen Panzerautos. Uber den Schornsteinen der Fabriken ist es 24 Stunden am Tage rauchlos blau. Nach 7 Uhr abends sind die Häuser verschlossen und auf den Straßen sieht man Uniformierte, die andere Sprachen sprechen: Standrecht in der größten Stadt, dem Textil- und Studentenzentrum des indischen Bundesstaates Gujarat. Die Unruhen begannen zwei Wochen nach der Erdölumwälzung.

Wird das Standrecht nur einige Tage lang gelockert, sind die Straßen wieder voll von Demonstranten. In den Bazaren setzten Studenten und Arbeiter zum Sturm auf die Lagerhäuser der ölspeku-lanten und — aus altem Haß — der Getreidespekulanten an. Ganz Gujarat forderte den Rücktritt der Pro-vinzregierung. Als endlich nach Dutzenden von Straßenkämpfen die Unionsregierung in Delhi der Forderung Rechnung trug und die Provinzregierung abgesetzt wurde, war die Rebellion auch durch das Standrecht nicht mehr aufzuhalten und die Rebellen richteten neue Forderungen an Delhi. Die Provinzregierung hatte schuld an der Korruption und an dem Spekulantentum gehabt. Der Zentralregierung' gaben sie die Schuld an der Inflation, der galoppierenden Arbeitslosigkeit, am Stillstand der Wirtschaft. Seit der Dürre von 1973 entwickeln Korruption und Wucher eine unstillbare Gier. Seit dem Ausbruch der Erdölkrise ist das Fieber zum kritischen Punkt gestiegen. Ahmedabad ist immer ein Zentrum der Unruhe gewesen. Jetzt ist die Empörung überall — in allen 21 Staaten der Indischen Union.

Die Hungerdemonstrationen während der Dürre von 1973 waren verhältnismäßig harmlos verlaufen. Der Monsun setzte der Dürre ein Ende. Doch die Inflation trieb die Stimmung mitten in einem grünen Winter zum kritischen Punkt. In den zwei Wintermonaten der beginnenden Ölkrise stiegen die Preise um 9 bis 20 Prozent, wuchs die Arbeitslosigkeit um 15 Prozent. Die Produktion wurde überall eingeschränkt. Die Nahrungsmittel wurden in den Lagerhäusern gespeichert. Preise und Kaufkraft entwickelten sich in verkehrter Proportion. Immer mehr Produkte kamen einem immer kleineren Teil zugute. Das erhöhte die Möglichkeiten der Spekulation, bereicherte die Spekulanten und vergrößerte die Zahl der Betrogenen. Als wieder Demonstrationen einsetzten, waren es politische, aggressive.

Wie die Zentralregierung in Delhi, war die Provinzregierung in Gujarat von der Kongreßpartei gebildet, der Partei der Indira Gandhi. Der „Indische Sozialismus“ der Tochter Nehrus ist bei den Verstaatlichungen steckengeblieben und hat im Kampf gegen den Hunger nicht einen Fußbreit Boden gewonnen. Zwischen Delhi und Ahmedabad sind es fast 2000 Kilometer. Und mit jedem Kilometer wird der Einfluß der Indira dünner, wächst der Einfluß der Grundbesitzer, der Spekulanten und der Händlerkasten. In den Bundesstaaten ist der Sozialismus das Zentrum zur Litanei der Profltierer geworden. In Gujarat reagierte die Provinzregierung auf die Notlage mit dem Signal „Freie Fahrt“ für Preistreiber und Spekulanten, mit einer Vervielfachung der Erdölknappheit und Erdölpreise, Kunstdüngermangel und Kunst-dünigerpreise boten ein ideales Spielfeld, auf dem die Elite des Handels und die Spitze der Bürokratie die Bälle einander zuspielten.

Ümarshankar Joshi trägt den Dhoti und das weiße Käppi, das Kleid der Gandhianer. Er ist einer der wenigen, die das Kleid des Gandhi nicht zur Uniform der Heuchelei machen. Er hat an der Seite des Mahatma gekämpft, später dem Kongreß des Nehru, des Shastri und der Tochter Nehrus, Indira, die Treue gehalten. Als aber Spekulation und Korruption in einer Flut der Mißwirtschaft ineinanderflössen, stand er an der Spitze der rebellierenden Studenten. Die Provinzregierung setzte Ümarshankar ab. Das hätte sie nicht tun dürfen. Indien sucht nach Mahatmas. Militär und Polizei würgten die Empörung ab. Doch es starben unter den Salven viel mehr Menschen als die amtlich zugegebenen 51, bis die überlastete, überforderte, von allen Seiten bedrängte Zentralregierung die Provinzpotentaten absetzte. Die Aktion kam zu spät. Das Wechselspiel von Standrecht und Demonstration geht weiter und es breitet sich auf die anderen Bundesstaten aus. Jetzt gilt es, den Wurzeln des Übels — noch nicht der Indira Gandhi.

Mit der Absetzung der Provinz-regierunig ist das Übel nicht gebannt und das Standrecht schafft eine Schutzzone um die Wurzeln. Wo die Enttäuschten und die Verbitterten nicht an jene herankommen, die von Polizei und Müitär geschützt werden, wenden sie sich blind gegeneinander. Die nur dünn überwachsenen Risse zwischen Hindus und Muslim, Kastenhindus und Parias, Einheimischen und Zugewanderten brechen auf. Unter dem Druck der wachsenden Krise zeigt es sich, aus wie vielen Elementen, Religionen, Sprachgruppen, Kulturgruppen, Kasten dieser Staat der Nationalitäten zusammengesetzt ist. In Ahmedabad kennt man die Folgen des Hasses zwischen Hindus und Muslim. Vor fünf Jahren haben sie einander hingemetzelt. Und in Ahmedabad hat man gelernt. Einheitlich und geschlossen fordert man vom Zentrum Neuwahlen und freie Hand gegen Spekulanten und Wucherer. Aber in Bombay, der Metropole des Subkontinents, leben sechs Millionen Menschen zusammengepfercht. Täglich fliegen zumindest 2000 aus den energiesparenden Betrieben aufs Pflaster und täglich kommen mehr als 1000 aus den Dörfern daau. Um jede Arbeitsstelle, um jeden Quadratmeter, auf dem man schlafen und seinen Stand aufstellen kann, wird gekämpft

In den Chwals von Bombay, den vollgepackten Slums aus brüchigen Ziegeln und schäbigem Verputz, sind sie schon übereinander hergefallen. Mob hat sich in „Senas“ organisiert, in den Terror- und Schutzorganisationen der Kasten, der Landsmannschaften, der Religionen. Shiv-, Sena, die sich stolz SS nennt und das Gesicht der SA trägt, steht für den arischen Kastenhindu aus Maharash-tra und terrorisiert die Parias, auch zugewanderte Dunkelhäutige aus dem Süden. „Dalit-Panther“', Panther der Erniedrigten, verteidigt aggressiv die Unberührbareh. Hwaker-Sena, neugegründet und über alle Märkte und Straßen verteilt, sammelt die Wanderhändler, die Bosse der Straßen.

Im Vorort der bittersten Chwals, Worli, brachen die Kämpfe aus. Die Generalstreikdrohung der Textil-und der Hafenarbeiter fachte die Glut an, der Streik der Taxifahrer versprengte sie über die ganze Stadt. Als ich in Bombay ankam, hatten Hafen- und Textilarbeiter Frieden geschlossen. Aus den Löchern, in denen sie in Worli wohnten, trugen sie Steine und Prügel auf die Straße und schlichteten die Wurfgeschosse und die Schlagwaffen zu großen Haufen: Zeiohen des Friedens zwischen Shiv-Sena und Dalit-Panther. Doch die Preise steigen weiter. In Woi brennen jede Nacht weniger Lichter. Wo es noch elektrisches Licht gibt, sind Stromausfall und Stromverteuerung lästige Übel. Wo der elektrische Strom nicht mehr hinkommt, ist die Verteuerung des Petroleums eine Katastrophe. Mit der wachsenden Dunkelheit in den Chwals wächst wieder die Verbitterung. Die großen Parteien, die Regierungspartei „Kongreß“, die Kommunistische Partei als unterstützende Opposition mit scheinrevolutionärer Rückversicherung, beruhigen die Menschen in den Chwals — und hetzen sie gegeneinander.

Doch in den Skims, die zwischen den Wolkenkratzern liegen, ist es immer hell. In einem Teil des Bombay von 1974 gibt es die Lebensintensität des Berlin, die Wolkenkratzerwut des New York der zwanziger Jahre. Die Stadt Bombay liegt auf einer Insel, und am Nariiman-Point senkt sich der Boden unter der Last der neuen Hochhäuser. Der Bürgermeister von Bombay, Doktor Joshi, nennt es „mörderische Megalomanie“. Der Gewerkschaftsführer Desai nennt es „Korruptions-, Schmuggel- und Wuchergeldanlage“. Staatskredite und Entwicklungshilfe finanzierten das prächtigste Sheraton-Hotel Asiens. Durch den Prunk sollten Touristen angelockt, Devisen geangelt werden. „Drei Viertel der Gäste sind Inder“, sagt der Manager, Brewer, „fast jeden Tag trägt einer seine Millionen als Beteiligung an. Nirgends sah ich so viele Multimillionäre. Ihre Zahl wächst langsam. Ihr Reichtum schnell. Jede Krise heißt für sie Geschäftskonjunktur.“

Je weniger produziert wird, je weniger legal importiert wird, um so mehr „schwarzes Geld“ gibt es. Bürgermeister Joshi schätzt, daß 60 Prozent des Kapitals in Bombay schwarzes Geld sind: bei Spekulationen gewonnen, in Krisenzeiten vergrößert, vor der Steuer nicht deklariert und industriell nicht investierbar: „Ein wachsender Polyp an der schrumpfenden Wirtschaft.“ Und Uguran, ein prominenter Anwalt der Schmuggler und des schwarzen Geldes, brüstet sich: „Wir sind die wahre Wirtschaft Indiens, die finanzielle Elite, mit der jede politische Elite rechnen muß. Auch die Indira, auch die Kommunisten.“ Wie groß ist diese Elite in Bombay? „An die dreitausend Familien. Die Zugehörigkeit beginnt bei einer Million Dollar.“ In Bombay ist der Boden teurer als in New York und in Tokio. Da stehen die teuersten Wolkenkratzer und da gibt es die teuersten Wohnungen. In den Tälern zwischen den Hochhäusern haben sich Slum-hütten zu Clustern ineinander verschränkt. Das Licht aus den Hochhäusern des Manhattan von Asien nimmt den Nächten der Slum- und der Pflastersiedler die Dunkelheit. In den Mammutslums von Dharavi, am Rande der Stadt, kann sich von den 150.000 „Haushalten“ nur jeder liehen eineinhalb Prozent von 1973. Selbst das geht nur mit Hilfe der Sowjets. Für ein Lebensminimum von Erdöl muß Indien heuer 1200 Millionen Dollar In Devisen aufbringen. Im vergangenen Jahr hat die reichliche Versorgung mit Erdöl kaum 500 Millionen Dollar gekostet. Da es aber an Devisenreserven nur 1400 Millionen Dollar gibt, müssen von den Märkten des Warenmangels für den Export geeignete Waren abgeschöpft werden. Die doppelte Abschöpfung — durch die Spekulanten und für den Export — verödet die saatlos gewordenen Felder der Kleinbauern und der Pächter und fegt die Rationsvertei-lungsläden und die Marktstände in den Vororten der Städte leer.

Indira hat auf dem Weg zur Macht die Möglichkeiten der Demokratie ausgenützt und die Massen sehen gelehrt, um sie zu mobilisieren. Der Krieg, für den die Massen mobilisiert worden sind ist an den Parteiführern gescheitert, die vom Hunger profitieren, den sie bekämpfen sollten. Die Fähigkeiten aus den Anfangsjahren des Indira-Regimes sind lebendig, nur die Blickrichtung ist unter dem Druck wirr geworden. „Bürokratie, Spekulantentum und Politik sind ineinander verschmolzen“, so beschrieb es Namdes Dha-sal, Führer und Dichter der Unberührteren, Dalit-Panther im Bordellviertel von Bombay, Kamati-pura. Dann schwenkt er aber die Zielrichtung: „Klassenkonspiration und Kastenkonspiration sind in Indien eins. Sie haben ihren Brahma-nensozialismus, an dem auch andere der hohen Kasten teilhaben dürfen. Wir aber dürfen die Latrinenreiniger, das Lumpenproletariat, die Prostituierten stellen.“ Dalit-Panther kämpft den Kastenkampf, Shiv-Sena den Kampf der Einheimischen gegen die Zugewanderten. In jedem Bundesstaat kämpfen die Empörten allein. Dringt die Empörung über die Grenzen, vereint sie doch nicht die Empörten. Es gibt keine Oppositionspartei, die frei von den Hydren der Korruption und der Kastenwirtschaft ist, so daß die Empörung in der ganzen Union sich um sie kristallisieren könnte. In Bombay fand ich bestätigt, was Umarshankar mir in Ahmedabad gesagt hatte: „Zerbricht das Regime der Indira, zerbricht auch die Union.“ Die Union der 21 Bundesstaaten, die groß ist wie ein Subkontinent.

An das Siechtum hat man sich gewöhnt, erst die Erdölkrise brachte die Merkmale der Agonie zutage. In Bombay sprach ich mit Feldmarschall Sam Manekshaw, dem Sieger von Bangladesh. Er kam aus Delhi, berichtete über Indira Gandhi. „Sie hat immer das Gewicht der Verantwortung gespürt. Die Erdölkrise nahm sie aber zu Anfang leicht. Jetzt weiß sie, daß alles Vergangene leicht war im Vergleich zu dieser neuen Last.“ Der FeldmarschaU sagte dann: „Sie ist eine Frau, die vor Entscheidungen steht.“ Vor welchen Entscheidungen? „Über die Art der Radikalchirurgie.“ Aber Indira steht allein. Nein, sie verfügt über die Armee. Aber der Tochter des Nehru ist die Demokratie so wichtig wie die Einheit. „Sie kann, wenn sie will, auch über das Volk verfügen. Dann gibt es eine Chirurgie ohne Gefährdung der Demokratie.“ In den größten Bundesstaaten finden Wahlen statt, Wahlen der Unzufriedenheit, aber ohne Alternative. Man fragt: „Wird Indira mit einem neuen Mandat die Explosion verhindern?“ fünfte Petroleum leisten. Doch die Luft über den Slums ist jetzt besser, weil es in den Textilfabriken der Nachbarschaft wegen des ölmangels Kurzarbeit und keine Nachtschichten mehr gibt.

Nach dem Beginn der Erdölkrise zeigte es sich bald, daß die schwachen Länder der „Dritten Welt“ härter getroffen waren als die Industrieländer, und in den schwachen Ländern die schwachen Schichten am härtesten. Indien ist ein agrarisches ^Entwicklungsland mit inselhaft konzentrierter Industrie. 85 Prozent der Menschen leben auf dem Dorf. Doch auf der Weltliste der industriellen Produktion steht Indien an vierzehnter Stelle, würde Indien bei Ausnützung der ganzen Industriekapazität an neunter oder zehnter Stelle stehen. So ist Indien von der Welle der ölpreise doppelt getroffen. Die Landwirtschaft war trotz der sehr rudimentären Bodenreform einer nationalen Selbstversorgung nahe gewesen und fällt jetzt weit zurück. Die Industrie sollte im neuen, dem fünften Fünfjahresplan zu einem Produktionswachstum von vier Prozent getrieben werden. Jetzt ist man froh, bleibt es bei den frag-

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