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„Auch Indiens Armut hat System"

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Mit Aufmerksamkeit hat eine Gruppe indischer Katholiken Anfang September die „Instruktionen" der Kirche zur „Theologie der Befreiung" zur Kenntnis genommen. Der Ruf aus Lateinamerika nach einer Neuordnung der Hilfe für die Armen der Dritten Welt blieb dabei im Orient insgesamt nicht ohne Echo.

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Mit Aufmerksamkeit hat eine Gruppe indischer Katholiken Anfang September die „Instruktionen" der Kirche zur „Theologie der Befreiung" zur Kenntnis genommen. Der Ruf aus Lateinamerika nach einer Neuordnung der Hilfe für die Armen der Dritten Welt blieb dabei im Orient insgesamt nicht ohne Echo.

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Zunächst war es allerdings der Basiskirche auf den Philippinen, später in Südkorea vorbehalten, ihre Kirchenobern zur Kritik an den traditionellen Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Arm und Reich herauszufordern. Doch auch die indischen Christen machten in jüngster Zeit durch spektakuläre Aktionen im Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit von sich reden.

Niemand anders als die Friedensnobel-Preisträgerin Mutter Teresa, deren Alters- und Waisenheime zum Inbegriff christlicher Armenhilfe in Indien geworden sind, wurde diesen Sommer zum Gegenstand einer heftigen Kontroverse zwischen traditionellen Entwicklungs-Politikern und den Anhängern des neuen Befreiungs-Denkens in der indischen Kirche.

Als Auslöser des Streitgesprächs wirkte ein Hungerstreik mehrerer junger Priester und

Nonnen im südwestlichen Bundesland Kerala. Sie wollten auf die wachsende Verarmung einiger zehntausend Fischer aufmerksam machen, die seit Jahren vergeblich gegen die Ausbeutung ihrer Küstenzonen durch den kommerziellen Fischfang ankämpfen.

Die lokalen Klein-Fischer, die jeweils zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang mit ihren traditionellen Schmalbooten, den Katamarans, auf hoher See bleiben und bei heftigem Wellengang oft unter Lebensgefahr ihre Beute einbringen, hatten gegenüber den mechanisierten Schleppern das Nachsehen.

Einige dieser Fischerstämme sind christlich, andere hindui-stisch oder islamisch. Ohne Rücksicht auf diese Glaubensunterschiede begannen sich junge Ortspriester mit dem Widerstand der Fischer gegen die „Politik der Unterdrückung durch die kapitalistische Behörde" zu solidarisieren.

Diese deutlichen Worte gegen die.indische Elite stammen aus dem Munde von Schwester Alice, die im August nach langem Hungerstreik in Spitalpflege gebracht werden mußte. „Sister Alice" war es auch, die später in einem Interview die „falsche Wohlfahrt der katholischen Hierarchie" kritisierte und, wie sich der „Indian Express" ausdrückt, „das neue Denken der jungen indischen Kirche formulierte".

Ohne die Absicht, am charismatischen Ruf von Mutter Teresa zu rütteln, wollte die Ordensfrau lediglich festhalten, daß „Wohltätigkeit keine Langzeit-Kur für die indische Armut" bedeute. Dabei machte sie aber klar, daß „Indiens politische und kapitalistische Elite Mutter Teresas Einsatz für die Armen und Kranken deshalb lobpreise, um selbst damit nichts zu tun zu haben."

Und die kleinwüchsige, ruhelose Schwester fügte auch gleich hinzu: „Indiens Elite benötigt Mutter Teresas Altersheime und Waisenhäuser, weil sie eben laufend neue Waisen und Verwahrloste schafft." Dieses laute Denken über die Problematik des rein karitativen Helfens, für das Mutter Teresa geradesteht und selbst betont, sie „strebe keine Sozialreform an", ist nicht neu.

Schwester Alice und ihre Priesterkollegen, die in Kerala für die „ausgebeuteten Dorffischer" hungerten, lernten diese Art des „christlichen Soziallebens" von jungen Theologen in Bangalore kennen, die ihrerseits im Rahmen eines „sozialen Ausbildungszentrums" die lateinamerikanische Befreiungstheologie studierten und diskutierten.

„Wir waren damals vor allem von Paolo Freires Pädagogik der Unterdrückten fasziniert", erinnert sich der Schweizer -Jesuit Henry Volken, seit 1948 in Indien und Mitgründer des Sozial-Zen-trums im südindischen Bangalore. „Doch wir mußten das Buch zuerst ins Land schmuggeln und dann in nächtlichen Einsätzen heimlich abschreiben und kopieren, da unsere kirchliche Obrigkeit diese linken Ideen, wie sie glaubten, auf den Index gesetzt hatten."

Doch der offizielle Widerstand hinderte den ausländischen Sozi-al-Lehrer und seine indischen Theologenkollegen nicht, ihre gesellschaftliche Umgebung anhand der lateinamerikanischen Abhängigkeitstheorien zu betrachten. Es war ihnen lange vorher aufgefallen, daß auch in Indien nur dort Entwicklungshilfe geleistet wird, wo der Empfänger zunächst in der Gunst des Spenders steht und zweitens überhaupt in der Lage ist, das Risiko des Experimentierens einzugehen.

So war den Theologen von Bangalore, die in regelmäßigen Kursen mit Laien-Helfern deren Einsätze analysierten, auch klar geworden, daß die meisten Hilfsgelder nicht an die Basis gelangen, auch nicht zu den Harijans, den kastenlosen Hindus, die von ihren Glaubensbrüdern aus höheren Kreisen schlicht übergangen wurden. Oder viele indische Ureinwohner, die den Animismus pflegen und keiner traditionellen Religion angehören, galten weder den Hindus, den Muslims, noch den Christen als Zielgruppe.

Schließlich konnten diese ärmsten der armen Inder mit Bargeld ohnehin nichts anfangen, weil sie lediglich über Mittelsmänner zum Markt Zugang hatten und hier schamlos ausgenützt wurden. Sachhilfe zur Verbesserung ihres Bauerndaseins war bei ihnen oft fehl am Platz, weil sie landlos sind oder von der Hand in den Mund leben und sich eine Fehlernte, verursacht durch ein falsch angewendetes Düngemittel, nicht leisten konnten.

Solche Erkenntnisse, gewonnen aus der systematischen Gesellschaftsanalyse nach lateinamerikanischem Beispiel, überzeugten die indischen Sozialtheologen, daß auch Asiens Armut „System hat". Fr. de Souza, Direktor des katholischen „Indian Social Instituts", schreibt in seinen Veröffentlichungen immer wieder, daß bei dieser Sicht der Lage „Entwicklungstheorien, wie sie in Indien zur Anwendung kommen, nicht von den Armen ausgedacht sind, sondern aus dem obersten Stockwerk der Bürokraten" stammen, und Entwicklungs-Investitionen aus dem In- und Ausland seien nur mit Hilfe der Opfer der Armut anwendbar, indem man deren billige Arbeitskraft brutal ausnütze.

Geholfen, so glaubt auch de Souzas Mitstreiter Fernandes, werde schließlich nur einer Mittelschicht, um die es im Vergleich zu den 300 Millionen völlig mittellosen Indern nicht allzu schlecht stehe.

„Daß die christliche Lehre, die Worte Buddhas, die Auslegung der hinduistischen Veden oder der Koran nicht mehr von oben nach unten weitergegeben werden muß, sondern daß das gewöhnliche Volk die Bibel auf seine Art interpretieren und dort nicht nur seine eigene Situation, sondern auch Lösungsmöglichkeiten finden kann, leuchtete der Hierarchie nicht ein", faßt Pater Volken seine Auseinandersetzungen mit den Bischöfen zusammen.

Für die engagierten indischen Theologen und mit ihnen für viele Laienhelfer aber gab es nur mehr eine Entwicklungspolitik: Weg von jedem karitativen Projekt-Denken, volle Solidarität mit den Armen und Unterdrückten, mithelfen, sie in ihrem Widerstand zu einigen und ihnen eine solide Sozialbasis zu schaffen.

Mit dieser Überzeugung fand gleichzeitig zum ersten Mal im unabhängigen Indien eine Abkehr von der Entwicklungs-Philosophie des Freiheitshelden Mahatma Gandhi statt.

„Gandhi war ein Kämpfer gegen die Kolonialstrukturen", erklären diese jungen Inder offen, „doch auch seine eigene Gesellschaft, die internen Machtstrukturen, hat er zu wenig scharf analysiert. Er glaubte an die Bildung einer neuen Moral, doch schließlich setzte sich die befreite indische Elite auf die Sessel der Engländer und verweigerte ihrem Volk jeden Machtanteil."

Dieses hierarchische Denken, von vielen Gandhianern in ihrer Sozialarbeit weitergeführt, verhinderte, daß die Strukturanalyse aus Südamerika in Indien rasch an Boden gewann.

Auf dem Subkontinent herrschte zudem nach wie vor westlich orientiertes Lehrgut vor, viele einflußreiche Akademiker absolvierten einen Teil ihrer Ausbildung in Europa oder den Vereinigten Staaten „und da kann man nicht erwarten, daß sie über Nacht einsehen, daß das kapitalistische System die Entwicklungsprobleme der Dritten Welt nicht löst", meint ein Katechet aus Südindien.

Zudem ist der Kontakt zwischen der indischen Kirche und den Basisgemeinden auf ein Minimum beschränkt, Indiens Christen, aber auch andere Glaubensgemeinschaften sind zu sehr institutionalisiert. So ist das Verständnis der Hierarchie (noch) nicht vom eigenen Erlebnis geprägt - und folglich konservativ.

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