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Mit Messern und Lanzen …

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Indien kommt nicht zur Ruhe: Immer wieder krachen religiöse Gruppen aufeinander, Tote und Verletzte sind die Folgen. Doch was die Inder als Streit zwischen Glaubensrichtungen bezeichnen, ist wesentlich ein Konflikt zwischen Habenden und Nichthabenden.

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Indien kommt nicht zur Ruhe: Immer wieder krachen religiöse Gruppen aufeinander, Tote und Verletzte sind die Folgen. Doch was die Inder als Streit zwischen Glaubensrichtungen bezeichnen, ist wesentlich ein Konflikt zwischen Habenden und Nichthabenden.

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So banal der Anlaß zum Streit im südindischen Staat Kerala gewesen sein mag, die Folgen jedenfalls erwiesen sich als tragisch:

Ein Polizeibeamter . bat den Imam der Moschee von Alleppey, den Minarett-Lautsprecher abzuschalten und sein Gebet auf den Andachtsraum zu beschränken. Offenbar hatten sich Angehörige anderer Religionsgemeinschaften beklagt, sie würden durch die weit hörbaren Koran-Rezitate belästigt.

Wie dem immer war, die Muslims der Region empfanden die Aufforderung des hinduistischen Polizisten, ausgerechnet am Geburtstag des Propheten Mohammed, als Attacke auf ihren Glau-

ben. Und als ihre Prozession im nahegelegenen Trivandrum von der Verkehrspolizei an den Straßenrand geleitet wurde, kam es im ganzen südwestlichen Bundesland zu Straßenschlachten.

So endete das indische Jahr 1982 wie es begonnen hatte: mit vielen Fragezeichen, weshalb kommunale Zusammenstöße dem Subkontinent allmonatlich 50 und mehr Tote bescheren.

Nur drei Wochen vor den Hin- du-Muslim-Kämpfen in Kerala war Baroda nördlich von Bombay Schauplatz religiöser Zwistigkeiten. Hier ging es um die Versetzung eines hohen Beamten, der sich mit einer Gemeinde-Gruppe verkracht hatte.

In Meerut, unweit von Delhi, schlugen sich Hindus und Muslims wegen eines Tempelbezirks die Köpfe blutig. Und im südostindischen Tamil Nadu waren

nur kurz zuvor auch Christen im Kampf mit Messern und Lanzen um ein ungeklärtes Besitzverhältnis beteiligt. In einem Jahr fordern die religiösen Unruhen in Indien an die 500 Tote und rund das zehnfache an Verletzten.

Die Diskussion, wie dieser gesellschaftlichen Friedlosigkeit Einhalt zu gebieten sei, ist in Indien so alt wie das Aufeinanderpral- len der Religionen. Kaum ein anderer Efdteil hatte und hat eine solche Bürde an religiösen, rassischen und sozialen Problemen zu tragen wie der indische Subkontinent, und selbst die Geburtsstunde der Indischen Union wurde zum Holocaust.

Als Südasien 1947 gemäß seiner religiösen Trennung politisch gegliedert wurde und Millionen Hindus und Muslims ihre Heimat im Bevölkerungsaustausch verlassen mußten, kam es zum größten Massenmord in seiner Geschichte. Seither gab es, vor allem in den Grenzgebieten zu Bangladesh und Pakistan, immer neue Massenabschlachtungen. Nagaland im Nordosten und Gujarat erlebten Tausende von Toten.

Die heutigen blutigen Vorfälle kommen zwar rascher unter Kontrolle, wiederholen sich dafür immer häufiger. Und dennoch geht jedesmal ein Entsetzen, ja Erstau

nen durch die indische Öffentlichkeit, daß eine säkulare Staatsform so viel kommunalen Haß gebären kann. Untersuchungen werden angestellt, doch jede Gruppe sieht die Schuld beim anderen und wagt nicht, das Kind beim Namen zu nennen.

Was der Großteil der Inder als kommunale Unruhe, als Streit zwischen Glaubensrichtungen bezeichnet, ist wesentlich zu einem Kampf zwischen Habenden und Nicht-Habenden geworden. Seit rund zehn Jahren wird er zudem mit veränderten Vorzeichen ausgefochten, und das erklärt, weshalb nach den 70er auch die 80er Jahre Indien mit zunehmenden Gewaltakten konfrontieren.

Noch lange nach der Unabhängigkeit waren die indischen Muslims die Handwerker, das Geschäft machten die gebildeten beziehungsweise ausgefuchsten Hindus. Auch in Politik und Verwaltung dominierte die religiöse Mehrheit; wie ihre niederen Kasten, so benutzte sie auch die Minderheiten als braves Stimmvieh.

Erst seit der weltweiten Ölkrise und dem Goldregen in Westasien verkaufen die indischen Muslims ihre Ware, Kupfer, Silber und Seide, direkt an die Scheichs. Mit dem Geld kam Selbstbewußtsein -in ihre Reihen. Der islamische

Fundamentalismus, den Indiens Polit-Mächtige so sehr anklagen, fand nur minimales Echo. Der indische Muslim ist ein Konvertit und weit vom Fanatismus eines Chomeini entfernt.

Die wirtschaftliche Stärkung der Muslim-Gesellschaft Süd- Asiens brachte weitgehende soziale Veränderungen mit sich. Die Mohammed-Gläubigen waren nicht mehr in die überfüllte Altstadt verbannt, sondern konnten sich Land und Villa im Herren- Viertel leisten. Muslim-Söhne drängten in die Hochschulen oder schufen eigene Lehranstalten.

Diese Neuverteilung von Besitz und Wissen in einem Land, dessen Kapital derart konzentriert, die qualifizierte Arbeit ohne Infrastruktur ist und die Industrie Hunderttausende von Arbeitslosen kennt, muß zu Neid und Mißgunst führen.

Und doch ist nicht der Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung Ursache für Indiens sogenannte kommunalen Zusammenstöße, sondern im Gegenteil eine neue Gruppendynamik.

Noch reagiert der indische Politiker scharf auf diesen neuen Wandel. Er ist zwar laut Verfassung auf die kommunale Harmonie verpflichtet, und Premierministerin Indira Gandhi kann die

„nationale Integration“ nicht genug preisen. Doch niemand sieht darüber hinweg, daß die Macht- ‘ Verteilung in Indien weit hinter der Gesellschaftsumschichtung nachhinkt.

Die zunehmende Unruhe in Indien rührt daher, weil jeder Privilegierte auf seinem Thron hocken bleibt. Jeder Angriff von unten wird abgewehrt, und doch nehmen sie zu und führen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft zu ständigen Querelen, die in Indien immer eine Sogwirkung haben. Der Streit um den Lautsprecher wird zur Massenagitation.

Der indische Muslim mit seinem gewonnenen Selbstbewußtsein ist an der Vorfront der Aggressivität gegen die Hindu-Dominanz. Auf dem Land sind auch die Christen im Vormarsch. Beide wissen um die Grundsätze der säkularen Ordnung und verlangen für die zehn respektive zwei Prozent ihrer Glaubensbrüder die gleichen Rechte wie für die Hindu-Kasten.

Wenn auch 1983 wieder hier und dort in Indien kommunale Straßenschlachten stattfinden, dann kämpfen\Minderheiten für ihre soziale Aufwertung und nicht im Namen Allahs, der Sikh-Gurus oder Jesus Christus.

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