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Ein Waisenkind sucht Anschluß

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Nach dem Zusammenbruch des engen Freundes Sowjetunion ist auch der riesige Subkontinent Indien heimatlos geworden. Das Land am Ganges sucht nach einer neuen Identität. Eine aufregende und zugleich mühsame Suche.

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Nach dem Zusammenbruch des engen Freundes Sowjetunion ist auch der riesige Subkontinent Indien heimatlos geworden. Das Land am Ganges sucht nach einer neuen Identität. Eine aufregende und zugleich mühsame Suche.

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Ankunft in Bombay, es ist früher Morgen. Schon die erste Begegnung mit dem fremden Land ist voller Irritationen. Vom Flugzeug aus kann man ihn ausmachen: Dharavi, den größten Slum der Stadt. Dicht aneinanderge-drängt stehen die Hütten, meist aus Brettern und Blech gebaut, abgedeckt mit vor Schmutz starrenden Fetzen. Einige Bewohner, meist Männer und Kinder, stehen da und beobachten fasziniert, was sie vermutlich jeden Tag sehen. Ein modernes Flugzeug, aus Europa kommend. Was sie wohl denken? Über sich, ihr Leben?

Die Statistik gibt darüber keine Auskunft. Sie sagt nur, daß dort auf diesen zwei Quadratkilometern 650.000 Menschen leben (müssen). Für sie sind 80.000 Hütten ihr Lebensund vermutlich auch Sterbe räum. Die Infrastruktur dafür besteht aus 500 Latrinen und rund 200 Brunnen mit Handpumpen. Viele Hütten sind zweistöckig. Auf einer Art Hühnerleiter klettert man in den oberen Raum, in dem eine weitere Familie lebt.

Zähes Wachstum

Indien ist voller Gegensätze. So hat man doch gelesen in dem Reiseführer im Flugzeug. Es ist das Land einer reichen Minderheit, das Land der Bettler und einer unvorstellbaren Armut, der Raketen, der heiligen Kühe und der Gurus, der Maharadschas und des Taj Mahal; voller Exotik, geheimnisvoller Tempel, einer faszinierenden Baukunst aus alten Glanzzeiten. Aber auch eines unverständlichen Kastensystems, dem die Menschen nicht entkommen. In das sie hineingeboren werden, und das grausam und unmenschlich ist - so urteilt man als Europäer üblicherweise.

Wie diese kommenden fünf Wochen wohl sein werden?

So wie ich sind 22 Kollegen aus 21 Ländern der Welt hierher unterwegs, eingeladen vom katholischen „Internationalen Kontaktnetz junger Journalisten" mit Sitz in Genf. Im Rahmen eines Universitätsprogrammes dürfen wir Indien und Pakistan entdecken, sollen wir eintauchen in diese, bei uns meist wenig bekannten, Länder. Die Reise wird uns nach Bombay, Karachi, Lahore, Islamabad, Delhi, Agra, Kalkutta, Bangalo-re, Madurai, Trivandrum und Cochin führen. (Die FURCHE wird in lockerer Folge darüber berichten.)

Es ist dunstig an diesem ersten Morgen in Bombay. Stimmengewirr umfängt mich zusammen mit dem anfangs so entnervenden ständigen Hupen der Autos. Dazu die Gerüche, Farben, Klänge. Ein Gewühl von Menschen und Autos wälzt sich durch die Straßen derZwölf-Millionen-Stadt mit seinen Wolkenkratzern, bunten Geschäften; dazwischen die Elendsviertel und Gehsteigschläfer. Nicht ganz die Hälfte der Bewohner von Bombay lebt in überfüllten Räumen, baufälligen Häusern, Unzählige einfach nur auf den Gehwegen.

Frauen in bunten Saris balancieren Wasserkrüge auf den Köpfen. Es ist Zeit für das tägliche Morgengeschäft. Auf zahllosen offenen Feuerstellen wird meist Fladenbrot gemacht. Die Straßen vom Bombay sind alles für diejenigen, die nichts haben: Küche, Wohn- und Schlafzimmer, Bad und Klo. Und das sind viele Menschen.

Hier überschütten einander vergnügt lärmende Kinder mit Wasserkübeln, die schwarzen Haare eingeseift. Dort kehren Frauen in bunten Saris vor ihren Hütten. Das scheint so sinnlos zu sein in dieser brodelnden, schmutzigen Stadt und trotzdem legen sie Wert auf diesen Akt des täglichen Saubermachens. Es ist seltsam. Wie schaffen diese Frauen es nur, sorgfältig gekämmtes, geknotetes Haar zu haben, gewaschene Wäsche?

Auch Büffel genießen die lange Prozedur des Schrubbens durch ein paar Mädchen, während sie gemächlich Gras kauen. Woher wohl das bißchen Grün herkommt?

Das Leben hier in Indien ist bunt; anders als in den ehemaligen grauen, hoffnungslosen Oststaaten mit deren Schicksal das von Indien so eng verknüpft ist.

Vier Jahrzehnte glaubten das Land des großen Mahatma Gandhi an den Traum vom „eigenständigen Weg", mit der mächtigen Sowjetunion als Freund und als Führungsmacht im Lager der Blockfreien. Doch mit dem Zusammenbruch des Kommunismus wankte auch der asiatische Riese. Die Visonen eines Jawaharlal Nehm vom „indischen Weg" sind längst dahin. Die Bewegung der Blockfreien ringt um eine neue Identität, Indien und die anderen Mitglieder drohen nicht mehr zwischen den Supermächten zerrieben zu werden; sie können jetzt aber auch den Ost-Westkonflikt nicht mehr zu ihren Gunsten ausnutzen.

Heute kämpft die Regierung in Delhi mit einem zähen Wirtschaftswachstum, mit Arbeitslosigkeit, Inflation, überholten Technologien, alten Industrien, hohen Auslandsschulden und einem wachsenden Haushaltsdefizit.

Je länger man durch Indien reist, desto länger, unbezwingbarer und schier unlösbar erscheint der Berg der Probleme, der sich vor der Regierung Premierministers Narasimha Rao aufgetürmt hat.

Fortschritt und Modernität

Derzeit werden Fortschritt und Modernität propagiert: Die indische Bevölkerung muß sich an Wandel und Veränderung gewöhnen. Rao und sein Finanzminister Manmohan Singh wollen mit einer Radikalkur dem Land wieder einigermaßen auf die Beine helfen.

Nach Meinung von Experten führt auch kein Weg an einer Entschlak-kung des Staatssektors, der Öffnung des Landes, der Privatisierung mit all den bedrückenden Begleiterscheinungen vorbei. Ähnlich wie im europäischen Osten floß ausländisches Geld doch nicht so ergiebig, wie man sich das in Delhi gewünscht hat. Der Westen ist zurückhaltend bei Investitionen in unsichere Regionen. Sie kämpfen selbst mit Problemen.

Offensichtlich glaubt man aber in internationalen Finanzkreisen an die Bemühungen und Erfolgschancen der Regierung in Delhi. Erst kürzlich hat Indien von einem internationalen Konsortium unter der Führung der Weltbank (13 Geberländer und acht internationale Organsiationen) Kreditzusagen für 7,2 Milliarden erhalten. Viel, gewiß. Aber was ist es schon, gemessen an den mehr als 100 Milliarden DM jährlich für die ehemalige DDR?

Viele Inder sind auch für eine Änderung, für die Lockerung der zentralen Kontrolle. Aber noch viel mehr Menschen haben Angst vor Veränderung. Zu tief sitzen die antiimperialistischen Parolen gegen westliche Ausbeutung.

Was haben die 500 Millionen Analphabeten Indiens von großen Reformen? Die Hälfte der Inder lebt unter dem Existenzminimum; nur rund 25 Millionen der 320 Millionen Arbeitskräfte sind in den organisierten Privat- und Staatsektor integriert.

Dazu kommt, daß da und dort auch in Indien immer noch der Glaube herrscht, mit Unabhängigkeit und Selbständigkeit werden alle anderen Probleme von selbst gelöst. Immer noch tobt im Punjab Bürgerkrieg. Viele Sikhs träumen von einem eigenen Staat, von Khalistan. Blutige Aufstände in As-sam und Kashmir lassen Indien immer wieder in die Schlagzeilen der Medien geraten. Aber nicht nur blutige Unruhen schaffen der Regierung große Probleme, auch der soziale Verteilungskampf um das Wenige, das überhaupt noch da ist, wird immer härter geführt. So etwa in Uttar Pra-desh, in Bihar und Orissa (siehe Graphik). Diese Staaten des indischen Nordens geht es besonders schlecht. Korruption, Überbevölkerung, Gewalt, mangelnde Bildung und hoher Analphabetismus plagen die Region. 80 Prozent der Frauen in Rajasthan etwa können nicht lesen.

Indien zählt weiters zu den fünf Hauptemittenten, die für die Erderwärmung verantwortlich sind. Mülldeponien, Viehaltung, Reisanbau produzieren das schädliche Methan. Ursache ist die Verbrennung fossiler Brennstoffe und gefällter Bäume.

Der Ganges, heißt es, ist biologisch tot. Drei Viertel des indischen Wasservorrates sind durch Bakterien und Chemikalien verunreinigt. Die Luftqualität bewegt sich am unteren Ende im internationalen Vergleich. Nach Expertenschätzungen sind nicht einmal mehr zehn Prozent Indiens bewaldet.

Dies alles geht einem durch den Kopf, während man in den indischen Alltag hineingleitet und versucht, auf die neue, fremde Welt zu reagieren. Erst später wird klar, daß diese trok-kenen Befunde über Indien im Grunde nichts sagen. Am wenigsten über die Menschen.

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