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Wachstum - ein Schuldgeständnis?

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Die vor wenigen Tagen beendete Weltbevölkerungskonfcrenz hatte das erwartete Ergebnis: Warnungen, apokalyptische Visionen — aber wenig Hoffnung auf wirkungsvolle Maßnahmen oder auch nur einen Konsens, was nötig wäre. Industrie- und Entwicklungsländer schieben einander den Schwärzen Peter der Verantwortungslosigkeit zu.

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Die vor wenigen Tagen beendete Weltbevölkerungskonfcrenz hatte das erwartete Ergebnis: Warnungen, apokalyptische Visionen — aber wenig Hoffnung auf wirkungsvolle Maßnahmen oder auch nur einen Konsens, was nötig wäre. Industrie- und Entwicklungsländer schieben einander den Schwärzen Peter der Verantwortungslosigkeit zu.

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Wie lange kann sich die Menschheit noch vermehren? Oder ist dei Erdball schon jetzt übervölkert? Könnte die Erde, wenn alle finanziellen und technischen Mittel für die Hungernden mobilisiert werden, viel mehr Menschen ernähren, als heute auf ihr leben? Oder würde eben diese Mobilisierung der technischen Mittel die Umweltbelastung ins Unerträgliche steigern? In diesem von der UNO zum Weltbevölkerungsjahr erklärten Jahr 1974 steht Meinung gegen Meinung, steht Optimismus gegen Pessimismus, nehmen alle, ob Optimisten oder Pessimisten, für ihre persönliche Meinung das Etikett des Realismus in Anspruch.

Unbestreitbar ist nur, daß es sich die Menschheit nicht mehr lange leisten kann, so schnell wie jetzt weiterzuwachsen. Beim gegenwärtigen Bevölkerungswachstum würden, wie unschwer auszurechnen, in rund 500 Jahren so viele Menschen leben, daß man sie nur noch in einem einzigen, die ganze Erdkugel einschließlich aller Ozeane und Polar- regionen bedeckenden, vielstöckigen Wolkenkratzer unterbringen könnte, (Selbstverständlich wäre die Menschheit lange vorher verhungert.)

Heute wächst die Erdbevölkerung um zwei hungrige Münder pro Se kunde, 200.000 pro Tag, sechs Millionen jeden Monat — das heißt, daß sich die Weltbevölkerung pro Monat fast um die Einwohnerschaft Österreichs vermehrt.

Aber das Bevölkerungsproblem ist überaus vielschichtig. Vorerst gibt es auf der Erde nur wenige Regionen, die nicht wesentlich mehr Menschen ernähren könnten — solange man keine anderen Kriterien als eben die Ernährung heranzieht. Selbst ein etw.as weniger korrupt verwaltetes, effizienter geführtes Indien könnte wesentlich mehr Menschen — beziehungsweise seine heutige Einwohnerschaf t sehr viel besser — ernähren. In Südamerika gibt es auch ohne Abholzung der Amazonas-Urwälder mit ihrem unschätzbaren Wert als Klimaregulator noch große Landreserven, und einzelne Gebiete, wie etwa der Kongo, leiden geradezu unter ihrer Unterbevölkerung, weil ihre dünne Besiedlung den Ausbau der kaum vorhandenen, aber dringend benötigten Infrastrukturen (Straßen, Nachrichtennetze, Starkstromleitungen usw.) pro Kopf gewaltig verteuert.

Aber es ist ja gar nicht die Frage, ob mehr Menschen ernährt werden können. Die Alternativen lauten anders, nämlich so: Entweder werden Nahrungsmittel für wesentlich mehr Menschen herbeigeschafft — oder es kommt zu Hungersnöten, wie man sie sich heute noch nicht vorstellen kann, nicht mit Millionen, sondern mit MUliarden direkter und indirekter Opfer. Ein großer Teil der heute lebenden Menschen wird es erleben, denn jeder Fachmann weiß, daß die Menschheit auf jeden Fall noch einige Jahrzehnte in einem bestenfalls langsam gebremsten Tempo weiterwachsen wird. Das ist so sicher wie die Erkenntnis, daß ein Zug nach dem Ziehen der Notbremse keineswegs sofort zum Stillstand kommen kann.

In einem gewissen Sinn wird sich das Bevölkerungswachstum sogar noch erheblich beschleunigen, wenn nichts geschieht, denn in vielen Entwicklungsländern ist der Anteil der Unterfünfzehnjährigen an der Gesamtbevölkerung bereits auf die Hälfte gestiegen, diese Altersgruppe aber ist die Elterngeneration der nächsten Jahre und Jahrzehnte. Es ist daher damit zu rechnen, daß in den neunziger Jahren dieses Jahrhunderts nicht mehr vier Fünftel des Bevölkerungswachstums auf das Konto der Dritten Welt gehen werden, wie es im vergangenen Jahrzehnt der Fall war, sondern sieben Achtel.

Der gewaltige Menschenstrom, der sich in den unterentwickelten Ländern zwischen Rio, Kinshasa und Djakarta vom Land, wo man sie nicht mehr braucht, in die Städte ergießt, deren Wirtschaft sie noch nicht braucht, läßt Wachstum zu einem unkontrollierten Wucherungsprozeß entarten. 1950 lebten in den unterentwickelten Ländern nur 16 Prozent in den Städten, im Jahr

2000 werden es 43 Prozent sein.

16 Städte schicken sich an, in den folgenden Jahrzehnten die Zehn-Millionen-Marke zu überklettern, sechs in den entwickelten Industrieländern, zehn in den Welten des Elends.

Um nur von der Nahrung zu sprechen und nicht von allen anderen Gütern: schon heute verbraucht jeder Europäer soviel Getreide wie sieben Inder. Die Welternährungsorganisation FAO erklärt, daß selbst eine Verdreifachung der Weltnahrungsproduktion bis zur Jahrtausendwende, also in nur 25 Jahren, nur den jetzigen elenden Lebensstandard aufrechterhalten kann. Alles, was unter der Verdreifachung bleibt, bedeutet noch weniger als jetzt für den einzelnen.

Höhere Nahrungsmittelpreise auf dem Weltmarkt und damit auch höhere Ernährungskosten in den Industriestaaten sind nur eine von den Folgen des Bevölkerungswachstums, auf die wir uns auch in Europa einstellen müssen. In seiner Ansprache anläßlich der Ankündigung des Jahres 1974 als Weltbevölkerungsjahr erklärte UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim: „Jede Nation, jede

Gemeinschaft, jede Familie muß sich klarmachen, in welchem Ausmaß diese Entwicklungen ihre Hoffnungen auf höheren Lebensstandard, bessere Erziehung, bessere Gesundheit und Glück berühren.”

Nun gibt es eine Reihe von Ländern, die sich allen Aufrufen internationaler Organisationen, das Bevölkerungswachstum der Welt zu beschränken, widersetzen — und zum Teil mit recht guten Gründen, zumindest aus dem Blickwinkel der unmittelbar gegenwärtigen Situation. Senegal zum Beispiel erklärte, eine Limitierung seiner Geburtenrate würde auf eine Katastrophe hinauslaufen, weil dann in einem Land, in dem jetzt nur sieben Menschen auf jedem Quadratkilometer leben, alle Entwicklungsprozesse mitgebremst würden. Bevölkerungswachstum, erklären ja viele Experten, sei nicht zuletzt eine Folge von technischer und wirtschaftlicher Entwicklung, in deren Verlauf es später zwangsläufig abklinge.

Unter den großen Ländern wendet sich Brasilien am’ energischesten gegen alle internationalen Programme zur Geburtenbeschränkung, mit der Begründung, die Industrie staaten würden dieses Problem übertreiben und das Bevölkerungswachstum der Entwicklungsländer als Ausrede benützen, um sich den Verpflichtungen internationaler Solidarität zu entziehen. Wenn es die entwickelten Länder wirklich ernst mit ihrer Sorge um die Zukunft der Menschheit meinten, so der brasilianische Delegierte zu den anderen Teilnehmern der UNO-Weltbevöl- kerungskonferenz, dann sollten sie doch lieber mehr in Ländern mit hohem Bevölkerungswachstum, aber vorläufig niedriger Bevölkerungsdichte investieren, statt die Bevölkerung ihrer eigenen, dichter besiedelten Länder durch Arbeitskräfteimport zu vergrößern.

Freilich wird bei solchen Diskussionen meist der wichtige Umstand übersehen, daß es sich dabei um Verhandlungen über den Weg handelt, den ein mit hundert Stun denkilometern dahinrasender Zug, der frühestens nach einem Kilometer zum Stillstand kommen kann, auf den nächsten hundert Metern zurücklegen soll. Es gibt nur noch wenige Länder, die es sich leisten können, ein Wachstum in der Nähe der Drei-Prozent-Alarmgrenze noch einige Jahrzehnte hinzunehmen oder die sogar noch Jahrzehnte vor sich haben, in denen ein solches Bevölkerungswachstum ihre Entwicklung (Infrastrukturen!) erleichtert:

Kongo, Senegal, Brasilien, Argentinien usw.

Auch diese Länder werden aber früher als möglicherweise angenommen jenen Punkt erreichen, wo die Krise plötzlich so schnell näherkommt, daß Steuerungsmaßnahmen kaum noch rechtzeitig greifen können. Man muß sich vor Augen halten: Algerien hat heute 15 Millionen Menschen. Ein Jahrhundert nur genügt, um daraus beim jetzigen Wachstumstempo 285 Millionen zu machen. Indonesien hattei970 nocfi 121 Millionen Menschen und wird 1985 bereits 194 Millionen haben, aber ein Jahrhundert genügt, um die Zahl der Indonesier — im jetzigen Zuwachstempo — auf 1,8 Milliarden zu vermehren. Das heißt: Kaum mehr als hundert Jahre Bevölkerungswachstum im jetzigen Stil und in Indonesien allein würden so viele Menschen leben, wie am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts auf der ganzen Erde gelebt haben.

Viele Leute, auch anerkannte Fachleute, lehnen es ab, sich den Kopf kommender Generationen zu zerbrechen. Man muß ihnen entgegenhalten, daß das Bevölkerungswachstum etwa der ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts auch schon unser Problem sein sollte, und dies deshalb, weil die schicksalhaften, kaum noch einzudämmenden Geburtenüberschüsse einer jeweiligen Epoche Produkt weit zurückliegender Entwicklungen sind. Der heutige Geburtenüberschuß in Ländern wie Indien oder Indonesien oder in einigen anderen Regionen ist nicht das, als was er so gerne hingestellt wird. Er ist nicht etwa Folge eines disziplinlosen Verhaltens des einzelnen. Er ist zu einem großen Teil Folge demoskopischer Entwicklungen vergangener Jahrzehnte. In Ländern, in denen zehn, zwanzig, dreißig Jahre zurückliegende mächtige Geburtenüberschüsse jetzt dazu führen, daß eben diese damals geborenen Generationen in das zeu- gungs- beziehungsweise gebärfähige

Alter kommen, sind die Weichen bereits gestellt.

Was ist also zu tun? Es soll hier, ohne auf die Problematik der Pille einzugehen, eines festgehalten werden: Mit der Pille allein ist das Bevölkerungsproblem auf keinen Fall zu lösen. Jeder Eindämmung der Geburtenüberschüsse muß erzieherische Arbeit vorangehen, die wiederum hohe organisatorische Ansprüche stellt — und damit erst auf einem bestimmten technischen und wirtschaftlichen Entwicklungsstand voll einsetzen kann.

Daher sägen die Industriestaaten an dem Ast, auf dem sie selber sitzen, wenn sie den Hinweis auf die Geburtenüberschüsse, die zuerst ein- gedämmt werden müßten, dazu benützen, sich an der Entwicklung der Unterentwickelten nur zögernd zu beteiligen. Geburtenregelung hat sicher ihre Effekte und mag in manchen Regionen unvermeidlich sein. Wenn aber die Menschheit den Rutsch in das Chaos, und nicht zuletzt in ein Chaos unkontrollierter lokaler /atomarer Kraftakte, verhindern will, müßten zunächst die Industrieländer erhebliche Abstriche von ihrem eigenen Lebensstandard zugunsten umfangreicher Entwicklungsprojekte in Kauf nehmen.

Was freilich einfacher klingt, ąls es, selbst bei gutem Willen, durchzuführen wäre. Was den Entwicklungsländern fehlt, sind nicht allein die Produktionskapazitäten, sondern vor allem jene Entwicklung des tertiären Sektors, der die Menschenmassen absorbiert und damit in die Lage versetzt, das Produzierte zu kaufen. Die sozialistischen Gesellschaftsmodelle auf ihrem heutigen Stand bieten nur einen scheinbaren Ausweg aus diesem Dilemma an. Länder wie Indien schneiden sich mit ihrer strikten Autarkiepolitik und ihrer Politik der unüberwindlichen Einfuhr- und Zollschranken wahrscheinlich ins eigene Fleisch, weil sie dadurch gerade jene Entwicklung des Handels und Dienstleistungssektors bremsen, auf die es ankäme, wenn nicht nur produziert, sondern auch verbraucht werden soll.

Hinter der Hungerkatastrophe, deren Abwendung heute die Gehirne beschäftigt, tauchen soziale Katastrophen auf: Selbst eine Menschheit, an der, fast möchte man sagen, wie durch ein Wunder, die großen Hungerkatastrophen vorbeigegangen sind, wäre eine in Reiche und Arme gespaltene Menschheit. Denn es ist längst zur Binsenweisheit geworden, daß die natürlichen Resourcen der Erde sowie die Umweltprobleme eine Entwicklung der gesamten Menschheit auf den heutigen Verbrauchsstandard der Industrienationen nicht zulassen. So gesehen, ist jede wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik der Industrieländer ein Verbrechen an der Menschheit, jede überproportionale Zuwachsrate ein Schuldgeständnis.

Daß soziale Ungerechtigkeit immer unwilliger hingenommen wird, daß die Reizschwelle weiter sinken wird, daß die Ungleichheiten immer leichter zu Gewaltausbrüchen führen werden, Gerechtigkeit aber nur in einer Welt möglich ist, in der sehr viel weniger Menschen leben als heute — das ist eine Erkenntnis, die der Spezies homo sapiens erst langsam dämmert. Noch halten wir den Terrorismus, der uns so beunruhigt, für eine Folge lokaler Probleme. Daß sich hier neue menschliche Verhaltensformen in einer übervölkerten Welt ankündigen, wollen wir vielleicht deshalb nicht wahrhaben, weil es uns unmöglich wäre, mit dieser Erkenntnis weiterzuleben — zumindest so wie bisher.

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