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Wie Indien überlebt

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Am 16. Juni kommt die indische Premierministern Indira Gandhi für ein paar Tage auf Besuch nach Österreich, wo sie auch am Dialogkongreß Westeuropa-Indien in Alpbach teilnehmen wird. Was wissen wir heute überhaupt über dieses riesige Land? Unser Sudasien-Korrespon- dent hat das Wesen dieser zerrissenen Nation zu durchleuchten versucht.

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Am 16. Juni kommt die indische Premierministern Indira Gandhi für ein paar Tage auf Besuch nach Österreich, wo sie auch am Dialogkongreß Westeuropa-Indien in Alpbach teilnehmen wird. Was wissen wir heute überhaupt über dieses riesige Land? Unser Sudasien-Korrespon- dent hat das Wesen dieser zerrissenen Nation zu durchleuchten versucht.

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Indiens Größe liiuß an den Anfang jedes Nachdenkens über das soziale, politische oder ökonomische Zusammenspiel in einer solchen Nation gestellt werden. Nur der Vergleich mit dem Europa vom nördlichsten Skandinavien bis zum südlichsten sizilianischen Dorf ist erlaubt — mit den notwendigen Korrekturen.

Auf dem Subkontinent gibt es einen nördlichen Gürtel, der ethnisch-kulturell beinahe homogen und dicht bevölkert ist. Dieses Hindi- und Hindu-Volk entlang dem Ganges und seiner Ausläufer ist Erbgut der ständigen Stürme von West- nach Südasien. Wer den Böen nicht standhielt, wurde an den Rand gedrängt, oder nach Süd-Indien.

Der zentrale Norden, wie immer gespalten in Rasse, Klasse und Macht, war sich in seiner Dominanz über diesen Rest des Landes bald einig. Und es stand nie zur Diskussion, daß hier die Pfeiler von Pplitik und Wirtschaft stehen: in Delhi, Bombay und Kalkutta, so haben es schon die Mog- hulen und die Engländer gewollt.

In einem Staat mit enormer Bevölkerung und beschränktem Reichtum hat eine solche Gewichtsverlagerung seine praktischen Folgen. Jeder kämpft für sein Stück Brot, der Geschickte mit Erfolg, der Zögerer bleibt zurück. Und weil der, der schon hat, auch noch an morgen denkt, behält er jede Krume für sich. Ein Ego entwickelt sich, das, mit ein wenig Historie und Religion gar niert, auch ideologische Wurzeln treibt.

Diese Erklärung für das extreme Oben-und-unten im modernen Indien mag verallgemeinern. Doch sie liegt nahe, um das Verschwinden des sozialen Denkens, das wir in den Veden, den alten hinduistischen Schriften finden, zu verstehen.

Indiens Norden und Süden, Mehrheiten und Minderheiten, Kasten und Klassen sind sich fremd geworden, weil errungener Stolz und neidisches Mißtrauen sich nicht vertragen. Ein isoliertes Zentrum lebt auf Kriegsfuß mit isolierten Regionen: Mit dem Unterschied, daß Delhi seine Einsamkeit genießt, während die indische Landschaft, die restlichen 600 Millionen, in ihr darbt.

Delhi, und der auserwählte Nord-Gürtel, ist die ausschließliche Heimat der indischen Polit- Elite. Natürlich gehören nur ganz wenige zwischen Indus und Ganges dazu, die meisten fühlen lediglich die Macht in ihrer Nähe und hoffen, einmal daran teilzuhaben.

So war der Norden immer die Hausmacht der regierenden Kongreß-Partei. Hier wurden die Briten bekämpft, und 1947 die Unabhängigkeit gefeiert. Hier sprach man die Sprache Nehrus, von hier stammt Indira Gandhi.

Auch aus dem Süden, oder aus den Stammesgebieten der Ureinwohner kamen Stimmen: für Nehru, weil er die Engländer ersetzte und man Ehrfurcht gewohnt war; für Frau Gandhi, weil noch viele im Dorf draußen glauben, sie sei die Tochter des großen Mahatma.

Aber ob Gandhi, Nehru oder Indira, trotz der traditionellen Respekterweisung ist kaum jemandem bekannt, was sie in seinem Leben bewirkt haben. Nach Indira kann’s auch ein Filmstar sein, wenn er sich geschickt in Szene setzt; so geschehen in zwei großen, bisher Kongreß-treuen südindischen Bundesländern, Tamil Nadu und Andhra Pradesh.

Dies heißt nicht, daß sich der Inder für dumm verkaufen läßt. Es bedeutet, daß Indien zu groß, zu mächtig ist, um regiert zu werden. Nehru zehrte vom Charisma der freien Nation, um sie zusammenzuhalten. Indira, seine Tochter, mußte den aufgebrauchten Nachlaß mit Manipulationen aufbessern. Ein loyaler Parteigänger hier, ein gehorsamer Knecht dort, wer nicht mitspielte, wurde abgespalten.

Und die Mutterfigur, von der viele sprechen? Als Retter in der Not, ja; als Aufsteh-Figur im Chaos, das man selbst oder die anderen inszeniert hatten. Frau Gandhi ist eine kluge Politikerin, sie ist immer präsent, Wo es Klagen gibt. Und sie verspricht viel, sehr viel:

1967, als Indien der alten Führer-Garde überdrüssig war; 1969, als der Kongreß zum sinkenden Schiff wurde und sie die alten Anker neu warf; 1971, als der Sozialismus sich als unfähig erwies und Indira mit äußerer Stärke drohte; 1980, als ihre Diktatur und ihre Gegner versagt hatten und ein neuer Lichtstrahl dringend nötig war. Nur die Versprechen sind noch immer nicht eingelöst.

Nicht allein weil Indira Gandhi und Moraji Desai und Charan Singh versagten, sondern weil in Indien eine kleine Minderheit zu regieren glaubt und der ganze Rest sich um sich selbst kümmert, ohne Erwartungen: eine Demokratie ohne Demokraten.

Aber Indien hat überlebt? Die Statistiken sprechen von einem Aufschwung in der Wirtschaft, vom Abbau der Analphabeten- Zahlen, der Landreform, mehr Rechten für die Harijans, die Kastenlosen?

Was die Statistiker verschweigen, aber täglich in den Zeitungen steht, sind die zunehmende Kriminalität, blutige Kämpfe zwischen den Religionen, Aufstände ethnischer Minderheiten, Proteste von Unterdrückten, sind die Zahlen der Verhungerten und Verdursteten neben den Villen der Reichen (siehe auch FURCHE Nr. 22/8).

Indien überlebt, weil jedes Dorf, und es sind 600.000, versucht, sich selbst über Wasser zu halten. Den wenigen Dorfmächtigen gelingt das mühelos, und neben den

Grauzonen gibt es überall eine kleine Grünzone. Und wenn alle diese Wenigen, im Dorf, im Bezirk, in der Stadt, in Delhi, sich die Hand geben, geht’s ihnen ganz gut. Der Rest, über die Hälfte der 700 Millionen, kann sich bloß eine fleischlose Mahlzeit am Tag leisten.

Indien überlebt, weil jeder für sich selbst kämpft und auf keine Regierung mehr wartet, die ihm ein besseres Morgen verspricht. Das Regieren überläßt er dem Spiel der Politiker, der Elite im nördlichen Hindi-Gürtel, die sich solche Extravaganzen leisten kann, denen, die Indira Gandhi als ihr Aushängeschild mißbrauchen. Und „Madame“, wie man die Premierministerin gehor- samst nennt, läßt Politik und Politiker korrumpieren.

Lange Zeit spielte sie selbst mit, wie sie es als Brahmen-Tochter aus Kaschmir selbst eine Jugend lang gelernt hat. Heute, dies muß man aus ihrer innenpolitischen Müdigkeit herauslesen, steht sie resigniert vor dem Scherbenhaufen. Hat sie gelbst an ihre vielen Versprechen zu glauben begonnen und ist nun enttäuscht, daß nichts in Erfüllung ging?

Sie kann sich trösten. Der Inder überlebt, wenn auch in seiner eigenen kleinen Welt. Indien, das sich selbst fremd geworden ist, die indische Nation, zerrissen und gespalten, die indische Politik, ein Interessenbündel von roher Macht, sind weit davon entfernt. Dieses Auseinanderbrechen des indischen Subkontinents aber war nur möglich, weil die Regierenden versagten, versagen mußten, um der ethnischen und kulturellen Vielfalt, dem eigentlichen Reichtum Indiens, wieder volle Entfaltungsmöglichkeiten zu geben.

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