Unterhöhlung des säkularen Staates

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Eine Welle von Gewalt scheint in Indien gegen die christliche Minderheit ausgebrochen zu sein. Die Hintergründe reichen weit zurück, bis in die Kolonialzeit Indiens.

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Eine Welle von Gewalt scheint in Indien gegen die christliche Minderheit ausgebrochen zu sein. Die Hintergründe reichen weit zurück, bis in die Kolonialzeit Indiens.

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Bis heute verbindet sich Indien mit Mahatma Gandhi, mit seiner unerschrockenen Gewaltlosigkeit, die die Massen mitriß, um gewaltlos für ein freies Indien zu kämpfen. Der Kampf war erfolgreich, doch die Spannungen zwischen den beiden großen Religionsgruppen, den Hindus und den Moslems, ließen sich nur durch die Gründung von zwei Staaten lösen: das Pakistan der Moslems und das Indien der Hindus. Hunderttausende verloren 1947 nach der Unabhängigkeit dadurch ihre Heimat, und viele kamen um. Gandhi starb 1948 durch die Kugel eines Hindu-Fanatikers, der seine Toleranz gegen die Moslems zutiefst mißbilligte.

Doch Indien blieb ein multireligiöses Land: heute leben hier 850 Millionen Hindus, 120 Millionen Moslems, und religiöse Minderheiten: Sikhs, Jains, Christen und Angehörige von Stammesreligionen. Die indische Verfassung schreibt fest, daß Indien ein säkularer Staat ist und die Religionsausübung frei. Trotz aller Differenzen zwischen den Religionen gelang es bis vor wenigen Jahren, den inneren Frieden aufrechtzuerhalten. Die Wende markiert das Jahr 1992: im Herbst zerstörte eine aufgebrachte Menge unter der Führung der rechtsradikalen BJP, der Nationalen Hindu-Partei, in Ayodhya eine Moschee, die auf den Fundamenten eines Tempels des Gottes Rama errichtet worden sein soll. Die Zerstörung der Babri Mesjid war ein symbolischer Akt, gerichtet gegen die Moslems, die wegen ihrer Religion nicht wirkliche Inder seien, wie die Ideologen der BJP sagten. Es folgten blutige Unruhen und Kämpfe zwischen Moslems und Hindus in Großstädten wie Bombay und Kalkutta.

Seit dem Frühjahr 1998 führt die BJP in Indien die Staatsgeschäfte und ist in mehreren Bundesstaaten an der Regierung. Seither wurden mehr als 200 Angriffe auf Christen verzeichnet, das ist ein Vielfaches mehr als in den fünfziger Jahren seit der Unabhängigkeit Indiens. Doch man könne nicht von Christenverfolgung sprechen, meint der Jesuit Francis D'Sa, Professor für Theologie an der Hochschule der Jesuiten in Poona und Fachmann für hinduistisch-christlichen Dialog, die rechte Regierung nehme eben die Ausschreitungen gegen Christen auf die leichte Schulter.

Viele der Gewalttaten werden in Gebieten der Adivasi, der alten Stammesbevölkerung verübt. In diesen von Armut geplagten Gebieten, in denen die staatlichen Organisationen nicht präsent sind, haben Christen Spitäler und Schulen errichtet, die für alle frei zugänglich sind. Manche der Adivasi sind Christen geworden - ein Stein des Anstoßes für rechtsradikale Hindus. Sie wollen nun die Dorfleute zum Hinduismus "rückbekehren". Im indischen Bundesstaat Gujarat mußten aus diesem Grund nicht weniger als sechzig Menschen aus drei Dörfern in der ersten Jännerwoche ins heiße Wasser einer als heilig geltenden Thermalquelle steigen. Die Veranstalter der Zeremonien waren Angehörige einer radikalen Hinduorganisation aus dem Umfeld der BJP, die die Dorfleute mit Drohungen zu dieser "Taufzeremonie" zwangen - obwohl die Adivasi ihre eigenen Stammesreligionen haben, also nie Hindus waren. Doch auch aus den Städten werden Übergriffe berichtet: in der südindischen Stadt Mangalore überfiel eine Gruppe rechtsextremer Hindus die Teilnehmer eines Sonntagsgottesdienstes mit Kricketschlägern und Eisenketten. Es gab dreißig Verletzte. Bisheriger Höhepunkt: ein Pastor und seine beiden Söhne wurden mit Benzin überschüttet und verbrannt.

National-Hinduismus Die Gründe für diese Eskalation von Gewalt gegen eine religiöse Minderheit - in Indien gibt es nur 2,4 Prozent Christen, das sind 23 Millionen - sind komplex, und ihre Hintergründe reichen bis in die englische Kolonialzeit zurück. Angesichts der Mission durch die christlichen Kolonialherren entstand Ende des 19. Jahrhunderts eine Reformbewegung, die versuchte, den Hinduismus nach dem Vorbild des Christentums zu modellieren. Der Neohinduismus - einer seiner wichtigen Vertreter ist Vivekananda - behauptet zum Beispiel die Einzigartigkeit und Überlegenheit der vedischen Religion, die alle anderen Religionen umfasse, weil sie sanathana dharma, ewige Wahrheit, sei. Im Zuge der Befreiungsbewegung entstanden Gruppen wie die RSS, die paramilitärisches Training mit der Pflege des kulturellen und spirituellen Erbes verband. (Gandhis Mörder war ein ehemaliges Mitglied der RSS). Aus dieser Gruppierung ist 1964 die VHP, Vishva Hindu Parishad (Weltkongreß der Hindu) hervorgegangen, als Dachorganisation. In den Unterorganisationen der VHP erhielten die Shankaracharyas, die Oberhäupter der großen Hindu-Orden, zum Teil führende Rollen, und viele von ihnen identifizierten sich mit der Linie der VHP, deren Ziel ist, die Identität der "Hindu-Nation Indien" zu stärken. Dazu gehört unter anderem ein Erziehungsprogramm, das sich auf die Veden stützt. Mit der Forderung nach verpflichtender Einführung des Sanskrit- und Veda-Unterrichts hat die BJP erst im letzten Herbst große Diskussionen in Indien ausgelöst. Zugleich haben die radikalen Hindu-Gruppen Vorwürfe erhoben, daß die Inder in den christlichen Schulen - die anerkannt besser als die staatlichen sind - verwestlicht würden.

Mit zum Erbe der vedischen Tradition gehört auch das Kastensystem, das bis heute die soziale Wirklichkeit Indiens bestimmt. Die ständische Gesellschaftsordnung der Kasten, in der man durch sein Karma unveränderlich hineingeboren wird , schließt von vornherein zirka 16 Prozent aller Inder, das sind rund 150 Millionen, als Unberührbare aus. Die Dalits gehören zu den 53 Prozent der Bevölkerung, die unter dem Existenzminimum lebt. Die gehobene Mittelschicht, das sind zirka 25 Prozent der Bevölkerung, gehört dagegen überwiegend den oberen Kasten an. (Nur diese haben im übrigen traditionellerweise Zugang zu den heiligen Sanskrit-Texten). Zwar ist die Unberührbarkeit seit 1947 aufgehoben, doch deswegen nicht verschwunden. Allerdings geben sogenannte "Reservationen" den Unberührbaren und den Mitgliedern der Stammesbevölkerung bessere Zugangsbedingungen zu Arbeitsplätzen und Ausbildungen. Zugleich sorgt die Öffnung für den Weltmarkt und die Globalisierung für eine größere soziale Mobilität. Beides, soziale Mobilität und bessere Bildung, durchbrechen das starre Kastensystem. Durch die Globalisierung wird Indien aber auch zum Billiglohnland - vor allem im Bereich EDV wird dieser "Standort-Vorteil" von internationalen Konzernen kräftig genützt - und die staatlichen Regulierungen der Wirtschaft, die den Status quo bis vor wenigen Jahren geschützt hatten, werden abgebaut. Damit gehen Hunderttausende Arbeitsplätze beim Staat verloren, die vielfach der Mittelschicht vorbehalten waren.

Rezept: Inkulturation Aus der Mittel- und Oberschicht rekrutieren sich die Stammwähler der BJP, und wahrscheinlich kommt von hier auch der Etat von rund 15 Millionen Schilling, das der VHP für die Rehinduisierungsprogramme zur Verfügung steht, wie der "Indian Express" berichtet. Da Indien von islamischen Staaten umgeben ist und im Land selbst rund 120 Millionen Moslems wohnen und zudem die BJP-Regierung im Augenblick erfolgreich neue Beziehungen zu Pakistan knüpft, eignet sich die kleine Gruppe der Christen weit besser als Objekt der Ausgrenzung, um eine "Hindu-Identität" zu stärken.

Wenn dann überdies - wie heuer im Herbst - christliche Fundamentalisten, etwa der selbsternannte Evangelist Reinhard Bonnke, als Touristen getarnt nach Indien reisen, um - im übrigen erfolglos - zu Massenkonversionen aufzurufen, stachelt das den nationalreligiösen Eifer traditionalistisch gesonnener Hindus an. Denn auch wenn sich die katholische - und zum Teil die protestantische - Kirche in Indien schon seit langem um eine Inkulturation des Christentums in Indien bemühen, die meisten der rechtsextremen Hindus unterscheiden nicht, welcher christlichen Konfession jemand angehört.

Die Mehrheit der Inder steht dem Christentum freilich positiv gegenüber, wie Francis D'Sa berichtet. Selbst Angehörige der Linken und Intellektuelle, die jeder Religion fernstehen, drückten ihre Unterstützung aus. Denn wer die Verfolgung der religiösen Minderheit der Christen toleriert, akzeptiert auch die Aushöhlung des Prinzips der Säkularität. Doch die Christen müssen sich noch mehr um eine Integration in die indische Kultur bemühen, meint D'Sa, und selbst mehr Solidarität mit unterdrückten Gruppen wie den Dalits und Adivasi zeigen.

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