Nur ein Gott, der die wahre Wirklichkeit ist

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Der Sikhismus, die Religion an der Grenze zwischen Islam und Hinduismus, ist auch in Wien zu Hause.

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Der Sikhismus, die Religion an der Grenze zwischen Islam und Hinduismus, ist auch in Wien zu Hause.

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Wer an einem Sonntag vormittag in einen unscheinbaren Hinterhof im 22. Wiener Gemeindebezirk tritt, fühlt sich nach Indien versetzt. Männer mit langen schwarzen Bärten und malerischen Turbans, Frauen in bunten, golddurchwirkten Gewändern, meistens mit kleinen Kindern an der Hand oder im Arm, junge dunkelhäutige Burschen, mit einem Kopftuch mit Knoten versehen, stehen im Gespräch beieinander oder streben auf den Eingang einer Halle zu. Unzählige abgestreifte Schuhe vor dem Eingang verraten, dass der Besucher hier barfuß einzutreten hat. Hoch über dem Szenario weht an einer Stange eine orange Fahne mit zwei gekreuzte Krummschwertern und zweischneidigem Schwert in der Mitte.

Doch wer meint, hier seien gläubige Hindus versammelt, irrt gewaltig. Es sind Angehörige des Sikhismus, der im nordindischen Bundesstaat Punjab beheimatet ist. Etwa 3.000 Sikhs leben in Wien, zirka 5.000 in ganz Österreich, erzählt Manjit Aulakh Singh, der Sprecher der Gemeinschaft. Die meisten Sikhs betreiben Import-Export-Geschäfte und haben sich einen bescheidenen Wohlstand erarbeitet. In Wien haben sie sogar schon eine zweite Gurdwara, einen Tempelraum für ihre Gottesdienste, eingerichtet.

Ein Gott, keine Bilder Aus der Halle tönt inzwischen Tabla-Musik, die ersten Hymnen werden intoniert, Gebete gesprochen. Doch wer indische Üppigkeit erwartet, wird enttäuscht. Der große Gebetsraum ist völlig kahl, keinerlei Devotionalien oder Gemälde schmücken die weißen Wände. Dies ist ein wichtiges Charakteristikum des Sikhismus: die Verehrung des monotheistischen Gottes findet bilderlos statt. Der Gründer Guru Nanak (1469-1538), geboren in der Stadt Lahore im heutigen Pakistan, war sowohl vom Hinduismus wie vom islamischen Monotheismus beeinflusst. Kein Wunder, denn aufgrund der Herrschaft muslimischer Dynastien war der Nordwesten Indiens seit mehreren Jahrhunderten islamisiert. Zu diesem Zeitpunkt gab es innerhalb des im Ritual erstarrten Hinduismus verschiedene Reformbewegungen, die sich an einer einheitlichen, mystischen Gottesvorstellung orientierten. Nanak wandte sich gegen die hinduistischen bildhaften Formen von Frömmigkeit und lehrte einen rein geistigen Gottesbegriff, angelehnt an den Islam. Auf der Suche nach einer neuen Glaubenswahrheit war er jahrzehntelang durch Indien und den Mittleren Osten gepilgert, bevor er anfing, seine eigene Lehre zu predigen. Seine Anhänger nannten sich Sikhs - Schüler.

"Es gibt nur einen Gott, der die wahre und endgültige Wirklichkeit ist. Er ist ohne Furcht, ohne Hass, jenseits aller Zeit, jenseits von Geburt. Durch seine Gnade enthüllt er sich den Menschen." So lauten die Anfangszeilen seines Buches Japji Sahib. Dieses Buch - unter Guru Nanaks Nachfolger um weitere heilige Schriften erweitert - wurde unter dem Namen Adi Granth Sahib Mittelpunkt der Lehre des Sikhismus und genießt seit dem 17. Jahrhundert selbst religiöse Verehrung. Auf kostbaren Seidentüchern und Brokatkissen aufgebahrt, wird es sorgsam bewacht. Jeweils ein Mitglied der Gemeinde verscheucht mit einem Pferdehaarwedel liebevoll alle etwaigen Fliegen. Im Anschluss an die Zeremonie wird das Heilige Buch vorsichtig wieder in seine Samtumschläge gehüllt und mit großem Pomp und Gefolge im Himmelbett eines eigenen Zimmers zur Ruhe gelegt.

Der Sikhismus hat - im Gegensatz zum Hinduismus mit seinem ausufernden Kastenwesen - die Gleichwertigkeit aller Menschen betont und lehnt die soziale Stufung nach Kasten ab. Als Ausdruck dieser Haltung tragen alle Sikhs den gleichen Nachnamen: während die Frauen "Kaur", "Prinzessin", genannt werden, heißen die Männer "Singh", was Löwe bedeutet. Hinweis für Mut, Tapferkeit und den kriegerischen Charakter der Sikhs.

Denn die junge religiöse Bewegung an der Grenze zwischen Islam und Hinduismus war in ihrem Entstehungsgebiet, dem Punjab, immer wieder Angriffen ausgesetzt und musste sich gegen übermächtige Gegner verteidigen. So entstand die Überzeugung, sich das Recht auf Religionsfreiheit erkämpfen und gegen die Unterdrückung von Angehörigen anderer Religionen einsetzen zu müssen.

Guru Gobind Singh, der zehnte Nachfolger nach Guru Nanak, organisierte die Sikhs in einer sakralen Kampfesbruderschaft. Es entstand die Khalsa, was "Gemeinschaft der Reinen" bedeutet. Ihre Mitglieder mussten sich durch besondere Tapferkeit auszeichnen und konnten an folgenden fünf Zeichen erkannt werden: der Krummdolch zur Selbstverteidigung, ein Armreif aus Stahl als Zeichen der Brüderlichkeit, die Pluderhose statt des üblichen Lendenschurzes, um beweglicher zu sein, langes Bart- und Kopfhaar, das vom Turban verdeckt wird sowie ein Kamm aus Holz für die Haarpflege.

Entsprechend dem Anfangsbuchstaben der Worte in der Volkssprache Panjabi werden diese Symbole die "Fünf K's" genannt. Sie werden heute von der Mehrzahl der Sikhs getragen. Guru Gobind Singh verkündete beim Frühlingsfest Baisakhi am 13. April 1699 die Regeln für die Gemeinschaft. Er bestimmte, dass in Zukunft nicht mehr der Guru, sondern nur mehr das Heilige Buch die religiöse Führung der Anhänger übernehmen solle. In jeder Gemeinde gibt es außerdem einen demokratisch gewählten Fünferrat, der die weltlichen und sozialen Belange regelt.

Baisakhi ist heute noch eines der wichtigsten Feste im religiösen Jahreskalender und wird üblicherweise mit einer eindrucksvoll-opulenten Parade begangen. Alle bisherigen Bemühungen der Wiener Sikhs, die Erlaubnis für ihren Zug über die Ringstraße zu bekommen, scheiterten. Doch dieses Jahr - dank der Parteien, die auch ausländische Mitbürger als Wählerpotential entdeckt haben - scheinen die Chancen gut zu stehen. Die Entscheidung soll Mitte März fallen. Im positiven Fall könnten die Wiener am Ostersonntag eine farbenprächtige Prozession erleben.

Askese und Feiern Ansonsten konzentriert sich die spirituelle Praxis der Sikhs auf das Lesen des Adi Granth Sahib, regelmäßige Gebete zu Tagesbeginn und rituelle Waschungen sowie auf enthaltsames Leben. Denn Erlösung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten kann ein Sikh nur durch Hingabe an Gott und fromme Lebensweise erlangen. Arbeit als brüderlicher Dienst an der Menschheit, Verantwortung für die eigenen Taten, Reinigung des Geistes und Selbstlosigkeit gehören zu den fünf Stufen des geistlichen Wachstums. Das Verbot von Alkohol wird jedoch nicht so streng gehandhabt. Wer je zu Gast in einer Sikh-Familie war, weiß, dass diese zu feiern verstehen.

Wichtigster Punkt im religiösen Leben ist die sonntägliche Puja. Hier versammeln sich die Familien zu gemeinsamen Gesängen, Gebeten und zur Lesung aus dem Adi Granth. Dann wird geweihtes Essen, so genanntes Prasadh, an alle verteilt. Ein gemeinsames Mittagessen schließt den Gottesdienst ab. Dass Menschen verschiedener sozialer Schicht und Herkunft einträchtig nebeneinander sitzen, war revolutionär angesichts des hinduistischen Kastensystems. Dieser Brauch wird auch im wichtigsten Heiligtum der Sikhs, dem Goldenen Tempel von Amritsar, gehandhabt. Die Mahlzeit ist dort als wohltätige Speisung für Arme und reisende Pilger gedacht.

Nach dem Essen wird es auf dem Grundstück im 22. Bezirk wieder ruhig, bis am nächsten Sonntag wieder buntes Leben den Hof und die Tempelhalle erfüllt.

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