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DER TANZ DER GÖTTER

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Das Johannesevangelium beginnt mit den inhaltsschweren Worten: „Im Anfang war das Wort... und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort.“ Nach alter indischer Auffassung stand am Anfang der Rhythmus, die Musik des Alls, der Wandel des Werdens und Vergehens, der im Tanz des Gottes Shiva symbolhaft dargestellt ist. Wo immer Shiva mit seiner Handtrommel rasselt, erbleichen die Menschen, stürzen die Berge zusammen und erlischt das Leben. Der Gott der Zerstörung vernichtet in schauerlichem Tanz, was

er geschaffen, um in ewigem Rhythmus wieder Neues zu wirken. Ist er doch zugleich der Gott des ewig sich erneuernden Lebens. — Ähnlich dem rhythmischen Reigen des Tanzes denkt sich der Inder auch den Verlauf seines Lebens. Er muß in immer neuen Formen geboren werden und sterben, muß von Kalpa zu Kalpa (Zeitalter) wandern, bis das Rad seines Samsära zum Stehen kommt, bis er endlich zur Vereinigung mit Gott gelangt und zur Erlösung findet.

Tanz und Musik reichen in Indien so viele Jahrhunderte zurück, daß es heute tinmöglich ist, ihre Geschichte und ihre Entwicklung zurückzuverfolgen. In alten Handschriften wie in mündlichen Überlieferungen heißt es, daß diese beiden Kunstarten göttlichen Ursprunges sind. Der Gott Krishna gilt als der himmlische Flötenspieler; Saraswati, die Göttin der Weisheit, findet sich stets mit einem Saiteninstrument dargestellt und Parvati, die Frau des Gottes Shiva, gilt als die Mutter des Tanzes. Vom Rig-Veda angefangen bis in die Gegenwart gibt es ungezählte Beispiele, welche die religiöse Bedeutung des Tanzes hervorheben. Im Rig-Veda wird bereits mit Nachdruck darauf verwiesen, den Tanz heilig und rein zu erhalten. Es heißt dort: .....Das ist unsere Überlieferung und unser Erbe. Und für jene, welche die Kunst herabwürdigen, besteht ein schrecklicher Fluch: ,Sie sollen unrein sein für ewig!'“

Der Gedanke, daß der indische Tanz einzig religiösen Charakter trägt, ist im Wesentlichen richtig, doch kommt es dabei sehr leicht zu recht seltsamen Vorstellungen. Leute, welche die gewaltige religiöse Kraft im Tanz empfunden haben, stellen die durchaus berechtigte Frage, ob der Tanz nicht einzig auf den Tempel beschränkt werden und von der profanen Bühne verschwinden soll, zumal die meisten Themen der Tanzdramen sowie die Einzeldarstellungen aus der Mythologie und der Götterwelt entnommen sind. — Nach Hinduauffassung hat der Tanz die Aufgabe, nicht etwas objektiv darzustellen, sondern eine Person oder eine Idee zu verwirklichen. Der Tänzer muß sich mit seiner Aufgabe identifizieren. Eine indische Tanzaufführung ist somit nicht bloßes Ergebnis eines langen Trainings, sondern setzt auch Stunden tiefer Betrachtung voraus.

In der Vergangenheit konnte sich die indische Musik viele Jahrhunderte hindurch ungestört entwickeln. Politische Invasionen brachten neue Anregungen und unter den Mogulenkaisern erlebte die indische Musik eine ausgesprochene Blütezeit. Doch blieb der mohammedanische Einfluß nicht ohne nachhaltige Wirkung. Er verursachte eine tiefe Spaltung in der musikalischen Tradition Indiens, die heute noch in den beiden Schulen von Nordindien und Südindien fortbesteht. Trotz der Spaltung bildete Musik aber auch eine Brücke, welche die Hindus und die mohammedanischen Landesherren zusammenführte und in dem großen Tan Sen, dem Hofmusikmeister des Kaisers Akbar, ihre deutlichste Ausprägung fand.

Ahnlich der Musik hat sich auch der indische Tanz entwickelt. Im Laufe seiner Geschichte formten sich vier verschiedene Stile aus: Der Bharata Natyam in ISüdindien (Tamilnad), der Kathakali-Stil in Kerala, Manipuri im Nordosten Indiens in Assam, und der Kathak in Nordindien. Durch den Einfluß der nichthinduistischen Landesherren verlor der indische Tanz mehr und mehr seinen religiösen Charakter. Er fand Eingang in die Paläste der Radschas und Könige und diente mehr der Unterhaltung als dem Zwecke der religiösen Unterweisung. Vor allem im 18. und 19. Jahrhundert machte der indische Tanz eine Abwärtsentwicklung durch, die wegen ihres stark erotischen Gehaltes moralische

Bedenken weckte. Nicht zuletzt wurde dieser Tiefstand durch die Tempeltänzerinnen, die sogenannten Devadasis, herbeigeführt, die von ihren Eltern an die Götter verheiratet wurden und auf Lebenszeit an einen Tempel gebunden blieben, um bei den kultischen Handlungen zu dienen.

Die Einrichtung der Devadasis veranlaßte Privatpersonen und auch Organisationen, die sogar den Gesetzesapparat der Regierung in Bewegung setzten, in Wort und Schrift gegen den klassischen indischen Tanz aufzutreten und ihn als unmoralisch zu verurteilen. Es gelang diesen Bemühungen, den klassischen Tanz fast völlig aus dem sozialen Leben Indiens zu verbannen und teilweise ganz in Vergessenheit geraten zu lassen. Diese Art von Propaganda hatte auch zur Folge, daß die indische Kunst als solche für lange Zeit von den Völkern des Westens abgelehnt wurde. Erst während der letzten Jahrzehnte trat ein merklicher Wandel ein. Nicht zuletzt durch die mühevolle Kleinarbeit von Fachindologen nahm das Verständnis des Westens für Indien in erheblichem Maße wieder zu. Auch der Tanz fing an, alten Boden wieder zurückzugewinnen. Aus den Miniaturmalereien Nordindiens, aus den Tempelskulpturen Südindiens und aus dem Traditionsgut, welches Gurus (Lehrmeister) über die Krisen-periode hinweg gerettet hatten, mußten die Hauptrichtungen des indischen Tanzes, teilweise unter großer Mühe, wieder rekonstruiert werden. Heute besteht die umgekehrte Gefahr einer zu großen Volkstümlichkeit, in welcher der echte Tanz ebenso untergehen kann wie in der Zeit, als die berühmte Ballettänzerin Anna Pawlowa nach der reinen Form des indischen Tanzes suchte. Dekadenz und soziale Voreingenommenheit hatten sie zu ihrer Zeit völlig verdeckt.

Wenn jemand zum erstenmal eine Bharat-Natyam-Auf-führung erlebt, ist er über die Vielfalt feiner und ungewöhnlicher Bewegungen überrascht. Hals, Schultern, Arme, Füße, der ganze Körper sprechen eine Sprache, die dem westlichen Zuschauer nur schwer zugänglich ist, da es eine gigantische Leistung bedeutet, sich durch die mehr als 4000 möglichen Gesten hindurchzuarbeiten und ihre Bedeutung zu verstehen. — Obwohl diese Tanzform noch vor wenigen Jahren der öffentlichen Geringschätzung preisgegeben war, hat sie heute doch ihre alte Bedeutung zurückgewonnen. Nur auf Grund alter Tempelstatuen und den Natya Shastras (Wissenschaft des Tanzes) des Sehers Bharata war es möglich, die ursprüngliche Form wieder zu rekonstruieren.

Nach alter Überlieferung wurden die Shastras auf Bitten der Götter verfaßt. Als ihr Urheber gilt Brahma selber, der sie durch den Seher Bharata niederschreiben ließ. Der originale Sanskrittext findet sich noch heute in den großen Tempelbibliotheken von Tanjore und Malabar erhalten. — Es dürfte sehr schwer sein, das genaue Alter der Dokumente des Bharata Natyam, die auf Palmblättern niedergeschrieben wurden, auch nur annähernd anzugeben. Die Anfänge dieses Tanzes reichen in mythologische Zeiten zurück. Er entwickelte sich langsam aus primitiveren Formen seines Ursprungslandes Tamilnad im heutigen Staat Madras.

Von allen vier bedeutenderen Tanzformen Indiens ist Kathakali (wörtlich: Geschichten in Tanz) die dramatischste mit äußerst eindrucksvollen und männlichen Gesten. Da dieser Tanz meist in der Nacht beim Schein der Öllampen in den Tempeln zur Aufführung kommt, und sich nicht selten über mehr als 16 Stunden hinzieht, fühlt sich der Zusahauer durch die funkelnden Kronen, die farbenprächtigen Gewänder und die schimmernden Seidenvorhänge, die im Lichte der flackernden Lampen seltsam zu leuchten beginnen, in eine andere Welt versetzt. Heldenkämpfe, Dämonen, Könige und Seher aus dem unerschöpflichen Schatz der Hindumythologie finden tänzerische Darstellung.

Der Kathak-Tanz Nordindiens erlebte in der jüngeren Vergangenheit einen ähnlichen Niedergang wie der Bharatä-Natyam, der alte Tempeltanz Südindiens. Durch sein Ab-

sinken ins Erotische war-er in gleicher Weise Ziel der Moralreformer des vergangenen Jahrhunderts wie die übrigen Tanzformen Indiens. Einzig der Kunstliebe eines Radschas in Nordindien ist es zu verdanken, daß dieser Tanz nicht völlig ausstarb. — Für den Menschen von Manipur in Assam, der Heimat des Monipuri-Tonzes, ist das Leben ein einziger bezaubernder Gesang, und der Tod ist nicht Tod, sondern eine Weiterführung des Lebens, ein Weiterklingen des gleichen Gesanges in einem neuen Rhythmus. Sie glauben, daß jedes Fest und jedes Ereignis, welches den ebenmäßigen Rhythmus des Lebens inmitten der riesigen Weideflächen Assams unterbricht, mit Gesang und Tanz gefeiert werden muß. — Der Manipuri-Tanzstil hat mit dem Bharata-Natyam und dem Kathak viel gemeinsam. Anders als die männlichen Bewegungen des Kathakali und die feinen, aber doch sehr bestimmten und betonten Gesten des Bharata-Natyam besitzt der Manipuri-Tanz eine überaus weiche Ausdrucksform, die sich in vielen kreisenden und gleitenden Figuren kundtut. Im Gegensatz zu den anderen Tanzrichtungen verzichtet dieser Tanz auf jegliche Mimik. Die rhythmischen und lyrischen Bewegungen sollen hinreichen, den vorgesetzten Gedanken zum Ausdruck zu bringen... Obwohl diese Tanzform zum indischen Kulturgut gerechnet wird, weist sie doch stark fremdländischen Einfluß auf, wie das Volk selber, welches sie entfaltet hat und pflegt.

Die indischen Volkstänze offenbaren nicht nur die Besonderheiten der vielen Völker und Stämme Indiens, sondern zeigen auch die gemeinsamen Überlieferungen der einzelnen Gegenden auf, die Wesenszüge einer Volksgruppe und eine unbezwingbare Vorliebe für Rhythmus. — Verschiedenheiten in der Landschaft und in der Umgebung: Die Berge des Himalaja, von Palmen gesäumte Küsten und von der Sonne durchglühte Ebenen haben eine Vielzahl von Rhythmen, von musikalischen Schöpfungen, von bunten Gewändern und Tanzstilen geschaffen, die zusammen mit dem tief verwurzelten Gefühl für Religion Erbe einer Nation wurden und so die Vielfalt zur Einheit führten und damit das uralte Problem der indischen Philosophie von der Vielfalt und der Einheit zu einer Lösung brachten.

Die Anfänge des Tanzes dienten kaum einem anderen Zwecke als dem Ausdruck der Freude über Erfolge auf der Jagd, über den Segen der Felder und über frohe Ereignisse in der Familie. Doch bald nahm er in Indien einen neuen Charakter an, der ihn stark mit dem Religiösen verband. In diesem Lande, in welchem zahllose Völker Zuflucht gefunden haben, mußte ein Weg entdeckt werden, um über das Sprachenbabel hinweg einen Zugang zu den Herzen der Menschen zu finden. Der Tanz mit seiner anschaulichen Weise eignet sich am trefflichsten, Gegensätze zu überwinden und fremde Menschen zusammenzuführen. Über Jahrhunderte hinweg diente er darum als Mittel religiöser Unterweisung, regte er die Massen zu religiöser Begeisterung an und hielt den Glauben an die Götter und Helden im Volke wach.

„Warum sollte diese universale Sprache des Tanzes nicht auch auf eine andere Religion anwendbar sein? Die religiöse Tradition des indischen Tanzes würde dadurch ohne Bruch weitergeführt.“ Dieser Gedanke veranlaßte den Steyrer Pater Georg Proksch, den indischen Tanz in den Dienst des Christentums zu stellen. Anläßlich der Hundertjahrfeier der Erscheinung der Mutter Gottes in Lourdes trat er zum erstenmal mit einem größeren Tanzdrama biblischen Inhaltes an die Öffentlichkeit. Die Reaktion des Publikums war sehr verschieden. Die Mehrzahl der Zuschauer, die sich aus Hindus zusammensetzte, zeigte sich begeistert, während sich die Christen merklich zurückhaltend verhielten. Doch gab es auch unter ihnen welche, die den Wert und die Bedeutung dieser Arbeit erkannten. Ein protestantischer Schuldirektor brachte in seinem Glückwunsch P. Proksch gegenüber zum Ausdruck, daß er in dieser Arbeit einen neuen Missionsweg sehe. — Hierüber sowie von weiteren Anerkennungen, die das Wirken von P. Proksch gefunden hat, bis zur Beglückwünschung durch den Heiligen Vater auf dem Eucharistischen Kongreß in Bombay, haben wir bereits in der Osternummer der „Furche“ von 1966 unter dem Titel „Ein heiliges Experiment“ ausführlich berichtet.

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