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The Children of Hari

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Wenn gegenwärtig mehr denn je in Ethnologie und Sprachwissenschaft der heftige Widerstreit der synchronischen und diachronischen Forschungsrichtungen nach einer frucht-brdngenden Synthese verlangt, kann nicht nachdrücklich genug hervorgehoben werden, daß der indische Großraum ein geradezu hervorragend geeignetes Versuchsfeld für die Klärung dieser methodologischen Gegensätze darstellt: liegt uns doch hier einerseits reichstes historisches Material an Literaturdenkmälern aller Art sowie eine zahlenmäßig immer mehr ansteigende Fülle von Bodenfunden vor, während andererseits viele noch existierende sogenannte Primitivstämme und wertvollste Reste von Primitivkulturen, denen wir immer wieder in der Struktur der heutigen indischen Hochkultur begegnen, uns die Möglichkeit bieten, die Lebensdynamik vergangener Epochen wieder vor unseren Augen erstehen zu lassen und sie mit den historischen Befunden zu vergleichen.

Jn diesem Sinne geht das Buch von Stephen Fuchs, der eine ausführliche Darstellung der Lebensverhältnisse einer niedrigen Kaste der indischen Zentralprovinzen unternimmt, weit über den Wert einer beliebigen anderen ethnologischen Darstellung hinaus: Die „Kinder Haris“ — eine poetische Übertragung des von Mahatma Gandhi geprägten Ehrentitels „Harijan“ für die Angehörigen der Kasten der .Untouehables“ — sind in unserem Fall die ursprüngliche Weberkaste der Balahis, deren Leben P. Fuchs aus langjähriger eigener Anschauung kennt. Schon die Zusammensetzung der Kaste aus einer Anzahl mehr oder minder selbständiger Clans ist von großem Interesse, da uns hier der Verfasser einen einmaligen Einblick in den komplizierten Aufbau des grundlegenden indischen Sozialsystems bietet und seine Forschungsergebnisse allen Theorien widerraten, die einer Entstehung der einzelnen indischen Kasten aus ursprünglichen Unter- und Oberschichten zur Zeit der arischen Eroberung das Wort reden. Wir gewinnen aber auch aus der eingehenden Darstellung des kastenmäßigen Verhaltens der Balahis ein Vorstellung von den Schwierigkeiten, die dem sozialen Umbau des heutigen Indiens hindernd im Wege stehen, wenn wir lesen, daß selbst diese niedrige Kaste noch an ihrem Kastenstolz festhält und unter keinen Umständen einer Verbindung mit den wenigen noch tiefer stehenden Gesellschaftsschichten zustimmen würde.

In glänzend gelungenen breiten Schilderungen verfolgen wir den Lebensweg der Balahis von ihrer Gebuit bis zur frühen Kinderehe, wir sind Zeugen einer feierlichen Hochzeit und lernen alJ Feste dieses frohen Völkchens kennen, das trotz vielfacher Anlehnung an die Sitten der umwohnenden höheren Kasten doch immer wieder Urtümliches bewahrt und dank ihrer Barden, die als lebende Chroniken der Kaste im Lande umherziehen und alle wichtigen Ereignisse innerhalb ihrer Clans festhalten, auch weiter tradieren. Wir erleben schließlich die eindrucksvollen Bestattungszeremonien und werden auch in umfassender Weise mit der materiellen Kultur der Balahis vertraut gemacht, die der Verfasser dank seiner großen Kenntnisse treffend in den Rahmen der gemeinindischen Dorfkultur zu stellen weiß.

Der kühlen Objektivität des Verfassers, der auch bei den Fehlern und Lastern der Kinder Haris nur selten ein Wort des Tadels findet, vertrauen wir uns auch gerne an, wenn er uns die geistigen Hintergründe dieser Kultur aufzeigt und uns vor allem die Religion dieser Kaste schildert. Wie bei den Primitivstämmen Indiens — man vergleiche hier etwa die Arbeiten Koppers' und v. Führer-Haimen-dorffs — findet sich auch hier der Glaube an ein höchstes Wesen, das mit Bhagwan, Ishwara oder ähnlichen aus der hinduistischen Götterwelt wohlbekannten Ausdrücken bezeichnet wird. Aber der Balahi weiß über diesen Gott nur wenig auszusagen, und es sind andere Götter, an die er sich in seinen Nöten wendet, Götter, die ebenfalls der hinduistischen Religion entstammen, wie Rama, Mahadeo, Dhaj Mala usw., die aber andererseits vielfach auf Clan-Götter zurückgehen und in echt indischer Weise mit bekannten Göttern identifiziert wurden, wodurch die wishnuiti-sche Avatar-Lehre den willkommenen Angelpunkt bietet. Solche ins einzelne gehende Darstellungen sind für die gesamte indische Religionsgeschichte ungeheuer wichtig, weil hier im Gegensatz zur verwirrenden Fülle von philosophischen Spekulationen, wie sie uns in allen religiösen Werken der Inder vorliegt, klar sehen, was der Inder wirklich glaubt, und weil andererseits dieser Mischungsprozeß ursprünglich verschiedener Vorstellungen uns den Schlüssel für die komplizierte religiöse Entwicklung Indiens in der Vergangenheit an die Hand gibt.

Wenn wir also dem Verfasser vollsten Dank wissen, soll doch auf einige Mängel des Buches hingewiesen werden, die sich zum Teil vielleicht einmal beheben lassen. Der Sprachwissenschaftler vermißt vor allem eine genauere Behandlung der sprachlichen Verhältnisse dieser über größere Gebiete verstreuten Kaste, und es erhebt sich die Frage, ob sich bei genauerem Studium dieses Problems nicht doch noch weitere wertvolle Schlüsse über die Entstehung der Kaste ziehen ließen, die heute ein durch starke Rajasthani- und Gujarati-Einflüsse gekennzeichnetes Hindi spricht. Ebenso könnte vielleicht bei der Darstellung der Religionsverhältnisse noch mehr Bedacht auf Unterschiede zwischen den einzelnen Clans genommen werden.

Rein äußerlich wären für den philologisch nicht geschulten Leser gelegentlich genauere Ubersetzungen eines indischen Wortes wünschenswert, da zum Beispiel auf einer Seite (266) hatyar einmal als „bloodsucker“, das andere Mal als „cow-killer“ wiedergegeben wird. Das Glossar gibt ja die richtige Bedeutung „murderer“, aber es sollte hier auch der Text korrekter gegeben werden. Eine Anzahl von Inkonsequenzen bei der Schreibung indischer Ausdrücke könnte wohl bei einer Neuauflage leicht behoben werden.

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