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Die Medizin der alten Inder

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Der Versuch, einen Blick in die heilkundlichen Lehren und Methoden fremder, ferner Völker zu tun, verlohnt sich im Falle der indisch-tibetischen Medizin in besonderer Weise, da es sich hier um ein zwar von magischen Elementen nicht freies, aber doch sehr ausgebildetes Lehrsystem handelt. Von unseren Bemühungen kann ein Doppeltes erwartet werden: das Entdecken von Gemeinsamkeiten einer selbständig entwickelten materia medica mit den Ergebnissen abendländischer medizinischer Forschung einerseits und das Bekanntwerden mit Fremdartigem andererseits, das in seiner eigenen Bedingtheit verstanden werden will und unter Umständen, nach vorsichtiger Prüfung, sogar für die moderne Medizin ausgewertet werden kann.

Indien ist der große Lehrmeister des asiatischen Kontinents. Auch auf naturwissenschaftlich - medizinischem Gebiete sind erste und entscheidende Anregungen von Indien ausgegangen. Hier schrieben bedeutende Heilkünstler wie Caraka, Sushruta und Vägbhata ihre großangelegten ärztlichen Lehrbücher, deren Ruhm Indiens Grenzen weit überschritt.

Der Leitgedanke der indischen Medizin ist der folgende. Gesundheit und Krankheit des Organismus hängen von drei Potenzen ab, die als dosha's bezeichnet werden. Unter diesen drei dosha's sind Wind, Galle und Schleim zu verstehen. Sie stellen also ejhe Art von Humores dar, und die Lehre selbst entspricht der nach Virchow so genannten Cellular-pathologie, deren Anhänger sich bekanntlich, im Gegensatz zu den Solidarpathologen, zu der Meinung bekennen, daß die Säfte diejenigen Teile des Körpers sind, von welchen aus sich die Krankheiten über den Körper verbreiten. Sind nämlich die drei dosha's miteinander im Gleichgewicht, so ist der Mensch gesund, verschiebt sich ihr gegenseitiges Verhältnis aber, so erkrankt er. Der berühmte Arzt Vägbhata sagt daher in seinem viel-benützten medizinischen Kompendium Ashtängahrdayasamhitä: „Krankheit ist eine Störung im Gleichgewicht der dosha's, Gesundheit dagegen die Gleichgewichtslage derselben“. Dies? Anschauung läuft einer Vorstellung, wie sie die Sämkhya-Philosophie, eines der sechs großen indischen philosophischen Systeme, kennt, parallel. Nach der Auffassung der Säm-khya-Philosophen hängt nämlich auch die kosmische Evolution; das heißt das Einsetzen des Weltwerdeprozesses, von dem gestörten Gleichgewichte dreier Konstituenten der Urmaterie ab. In Bezug gebracht auf die medizinischen Lehren, wo ähnliches eben von den drei dosha's behauptet wird, heißt das, daß der menschliche Organismus ein kleines Abbild, eine Ausgabe im Kleinen, des großen Universums ist.

Diese Anschauung vom Säftegleichgewicht innerhalb des menschlichen Körpers, wie sie die Inder lehren, ist nun gar nicht so abwegig. Dr. med. et phil. Luise H i 1-g e n b e r g, die ihre Forschungsarbeit im Zusammenwirken mit Willibald K i r f e 1, ord. Prof. für Indologie an der Universität Bonn, eigens den Problemen der indischen Medizin gewidmet hat und unbestritten beste Kennerin dieses Gebietes ist, äußert sich dazu folgend:

„In der Hormonlehre oder Endokrinologie haben wir ganz ähnliche Vorstellungen. Hormone sind die ohemischen Produkte der Drüsen mit innerer Sekretion (endokrine Drüsen, die im Blute gelöst und in ihm zu den verschiedenen Körperstellen transportiert, regulierend in die Organfunktion eingreifen. Diese Drüsen haben entweder keinen Ausführungsgang, geben also ihr Sekret direkt an das Blut ab, wie die Schilddrüse (Thyreoidea), die Nebenschilddrüsen (Epithelkörper), der Hirnanhang (Glandula pitui-taria, Hypophyse, Vorder- und Hinterlappen), die Nebennieren und die Thymusdrüse, oder sie entleeren durch einen Ausführungsgang efn Sekret und führen noch ein zweites direkt in die Blutbahn ab, zum Beispiel die Bauchspeicheldrüse (Pankreas) und die Keimdrüsen (Hoden und Ovarien). Die Hormone beeinflussen sich wechselweise! durch Überoder Unterfunktion einer endokrinen Drüse

Die Anschauungen von den Konstitutionstypen in der Medizin Altindiens und unserer Zeit, Studien zur Geschichte und Kultur des Nahen und Fernen Ostens (Festschrift Paul Kahle), Leiden 1935. Vgl. auch Hilgenberg-Kirfel, Vagbhata's Ashtängahrdayasamhitä, Leiden 1941. wird auch die Tätigkeit “der anderen In Mitleidenschaft gezogen, und nur wenn sie In vollkommener Harmonie arbeiten — man vergleiche die oben angedeutete Vorstellung der indischen Medizin —, ist der Körper gesund.“

Infolge dieser auffallenden Ähnlichkeit der indischen mit den abendländischen Erkenntnissen sehen sich die heutigen Vertreter der orientalischen Heilkunde veranlaßt, die altindische Drei-dosha-Lehre mit der modernen Endokrinologie zu identifizieren oder sie wenigstens zu einer Vorstufe der europäischen Hormonlehre zu erklären.

Die Parallelität der Gedankengänge geht aber noch weiter. Wie bekannt ist, hat E. Kretschmerin seinem epochemachenden Buche „Körperbau und Charakter“ drei große Konstitutionstypen postuliert, nämlich den asthenischen, den pyknischen und den athletischen Typ, für deren Verschiedenheit ebenso wie für jene der Temperamente vor allem die unterschiedlich sich vollziehenden Drüsenfunktionen (Schilddrüsen, Keimdrüse, Hirnanhang) namhaft zu machen sind. Es ist überaus interessant, ähnliche Feststellungen und Versuche zu einer Körperbau-und Temperamententypologie bereits bei den Indern vorzufinden. Vägbhata, der um 800 n. Chr. gelebt hat, unternahm es bereits, auf der Drei-dosha-Lehre eine Typenkunde, das heißt eben eine Lehre von den Verschiedenheiten des äußeren Habitus und des menschlichen Charakters aufzubauen. Freilich verfallen die Inder in ihren Darstellungen oft allzusehr der blinden Schematisierung und einer einseitig-scholastischen Umständlichkeit,

Aufgabe des Arztes ist es nun, die Veränderung der dosha's zu erkennen und das für die Heilung Notwendige zu veranlassen. Wenn wir Einblick in ein indisches oder tibetisches Lehrbuch der Ärztekunst nehmen, sehen wir, daß darin alle Krankheiten, angefangen vom Husten bis zur Lepra und Epilepsie, beschrieben und abgehandelt werden. Zur Heilmethode der verschiedenen Leiden werden eigene Anweisungen gegeben, so zum Beispiel zur Heilung der Ohren-, Nasen-, Mund- und Kopfkrankheiten, frischer Wunden und des Knochenbruches, des Abszesses, des Unterleibstumors und der Mastdarmfistel, der Kinderkrankheiten usw. Andere Kapitel befassen sich mit den Schwitz- und Brechmitteln, der Inhaliermethode, den Methoden des Ausbrennens und des Purgierens. Zu chirurgischen Eingriffen werden Instrumente verwendet, welche in ihrer Beschaffenheit genau vorgeschrieben sind. Man benützt eigene Messer zum Schneiden von Geschwüren, von Nasen-und Ohrenpolypen, eigene chirurgische Instrumente zum Aderlaß, zum Punktieren, zur Behandlung geschwollener Mandeln und verschiedene Größen und Formen von Nadeln zum Vernähen von Wunden. Bemerkenswert ist auch, daß man in Indien und Tibet sowohl das Pulsfühlen als auch das Führen von Krankengeschichten kennt. Da de Arzt im Orient zu gleicher Zeit auch Apotheker ist, ist ihm zur Ausübung seines Berufes noch eine Reihe von speziellen Arzneibüchern an die Hand gegeben, welche genaueste Beschreibungen des Aussehens und Angaben über die jeweiligen heilenden Wirkungen der Pflanzen enthalten.

Die medizinischen Lehren der Inder haben eine ungemein weite Verbreitung erfahren. Durch Vermittlung ihrer Nachbarvölker sind sie sogar bis an die Grenzen Europas gelangt. Zahlreiche in Sanskrit verfaßte heilkundliche Schriften waren schon vor dem 10. Jahrhundert ins Tibetische übersetzt worden und konnten so einen ausschlaggebenden Einfluß auf die lamaistischen Heilpraktiken nehmen. Der Inhalt dieser Texte galt so sehr als autoritativ, daß ein Teil davon in den buddhistischen Kanon der gelben Kirche Aufnahme fand, ein anderer Teil dem halbkanonischen Sammlungswerk des tibetischen „Tandschur“ einverleibt wurde. Durch das Bindeglied der buddhistischen Religion und das Faktum, daß es ausschließlich Lamas waren, welche eine ärztliche Praxis ausübten, fanden diese medizinischen Werke von hier aus noch weiteren Eingang bei den Mongolen, in deren Sprache sie aus dem Tibetischen übersetzt wurden. Auf diese Weise kamen sie zu den Kalmücken an der Wolga, so daß sich also Ausstrahlungen indisch-tibetischer Heilmethoden bis nach Rußland hinein ergeben. Kein Zweifel besteht schließlich darüber, daß auch die Araber gute Kenntnisse von der indischen Medizin hatten, da sich berühmte arabische Ärzte in ihren Schriften wiederholt auf indische Autoritäten berufen.

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