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Der Arzt muß auch ethisch gebildet sein

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So schön und edel der Beruf des Arztes von der Zielsetzung her sicherlich ist, so schwer und heikel wird er vielfach durch die damit verbundene Verantwortung. Von allen bedeutenden Ärzten, angefangen von Hippokrates bis in die Gegenwart, sind uns Aussagen und Zeugnisse bekannt, aus denen der tiefe sittliche Ernst hervorgeht, der ihre Handlungen bestimmte.

Burghard Breitner sieht im Urphä-nomen des Mitleids den Anstoß, der schon in den ältesten Zeiten zuer Entwicklung der Heilkunde führte, und be reits ein halbes Jahrtausend vor Christus tauchte der Hippokratische Eid auf, jene erstaunlich klare Definierung ärztlicher Pflichten, welche als „das die Zeiten überdauernde Fundament aller natürlichen ärztlichen Ethik bezeichnet werden kann" (A. Niedermayer).

Erblickt man das ethische Grundan-'iegen der Medizin darin, „Gesundheit und Leben zu erhalten", wie dies im berühmten Gebet des Maimonides aus dem 12. Jahrhundert zum Ausdruck kommt, so hat sie in der Gegenwart in dieser Hinsicht wohl eine Rekordhöhe erreicht.

Die in den letzten Jahrzehnten erzielten Fortschritte haben alle Erwartungen übertroffen. In eklatantem Widerspruch zu den gigantischen Erfolgen steht aber ein weitverbreitetes Unbehagen, das sich in mannigfachen Klagen und Anklagen äußert, die sich teils gegen den Ärztestand oder einzelne seiner Vertreter, teils gegen die sogenannte Schulmedizin und das derzeitige System medizinischer Einrichtungen inklusive des gesundheitlichen Versicherungswesens richten.

Allgemein wird der Verlust des Hausarztes früherer Zeiten bedauert, der „seinen" Patienten Tag und Nacht zur Verfügung stand und darüber hinaus oft Berater bei verschiedenen familiären Nöten war.

Heute ist das System der medizinischen Betreuung für den Patienten unüberschaubar geworden. Mittels Zuweisung wird er von einer Untersuchungs-Beratungs- und Leistungsstelle zur anderen geschickt, bekommt keine oder einander widersprechende Auskünfte, um nicht selten am Ende mit seinen Zweifeln, Ängsten und Schmerzen allein dazustehen. Ähnlich kompliziert und enttäuschend gestaltet sich für viele Kranke der Aufenthalt im Krankenhaus.

Mißtrauen und Skepsis, die aus solchen Erfahrungen resultieren, haben in den letzten Jahren vielfach zur Bildung von Initiativgruppen von Laien mit bestimmten Reformzielen geführt, die teilweise den Charakter einer Auflehnung gegen die Schulmedizin angenommen haben und damit nicht selten auf eine nicht unbedenkliche Bahn gerieten.

Diese defätistische Stimmung mag zum Teil auch als Reaktion gegen den übertriebenen Optimismus aufzufassen sein, den der stürmische Fortschritt der Medizin hervorrief. So wurde schon die Lösung des Krebsproblemes und eine Lebenserwartung bis zu 120 und mehr Jahren für eine nahe Zukunft in Aussicht gestellt. Diese und manch andere Hoffnungen erwiesen sich als trügerisch.

Der massive Einsatz der Technik hat die Vielzahl und Vielfalt von Erkrankungen nicht wesentlich eingeschränkt, sondern nur geändert. Durch dieerfolgreiche Bekämpfung von Infektionskrankheiten sind wohl viele einst mit Recht gefürchtete akute Krankheitsbilder verschwunden. Dafür treten chronische Leiden vermehrt in Erscheinung.

Erkrankungen des Herzens und der Gefäße, des Stoffwechsels und der Gelenke lassen sich in der Mehrzahl der Fälle auch mit modernen Mitteln nicnt wegzaubern, sondern nur mildern und - durch Abwendung lebensbedrohli-cher Situationen - verlängern.

Durch diese Verschiebung des Krankengutes in Richtung auf Langzeitbehandlung tritt naturgemäß der kranke Mensch als Ganzheit mit seinen existentiellen, familiären, sozialen und beruflichen Problemen wieder in das Blickfeld der ärztlichen Betrachtung, und weniger ist das kranke Organ, die gestörte Funktion allein Gegenstand des medizinischen Interesses.

Das ärztliche Berufsethos erfährt dadurch notwendigerweise eine Erweiterung. Gerade darauf wurde in der technologischen Ära der Medizin zu wenig Rücksicht genommen. Daher das Gefühl, daß die Schulmedizin versage, und daher auch die Tendenz der Rückkehr zur Volksmedizin, also in eine Zeit, in der der Patient noch Mensch und nicht „Fall" war.

Eine weitere Quelle des Mißtrauens bildet die latente Angst, als medizinisches Forschungsobjekt, als „Versuchskaninchen", herangezogen zu werden. Wenngleich es sich größtenteils um skurrile, unrealistische Vorstellungen handelt, erhält dieses Vorurteil von Zeit zu Zeit neue Nahrung durch einschlägige Berichte über bestimmte Vorfälle in Krankenhäusern.

Ein solches Ereignis hat auch dazu-geführt, daß für den Bereich von Wien eine Ethik-Kommission, bestehend aus Ärzten, Vertretern der politischen Parteien und der Kirche, mit der Aufgabe gebildet wurde, wissenschaftliche Erprobungen und Versuche am Menschen hinsichtlich der Zulässigkeit vom ethischen Standpunkt aus zu überprüfen.

Die Bedeutung dieses Schrittes soll nicht verkannt werden. Die Ergänzung einer medizinisch-naturwissenschaftlichen Versuchsanordnungdurch ein ethisches Prüfungsverfahren ist keine bloße Geste, sondern eine effektive Barriere gegen die totale Versachlichung.

Auch in der medizinischen Forschung, ja gerade dort, darf der Satz, der Zweck heilige die Mittel, keine Geltung haben. Eine ethische Kontrolle bewahrt den Forscher vor den Folgen des Abgleitens in inhumane Praktiken und stärkt andererseits das Vertrauen der Kranken in die Medizin und zum Arzt.

Gleichwohl kann man sich der Tatsa-:he nicht verschließen, daß damit das eigentliche Problem, die Wahrung der Ethik in der Medizin von heute und morgen, nur am Rande berührt wird.

So ist es etwa fraglich, ob und wie weit experimentelle Eingriffe und Veränderungen an den Genen menschlicher Fortpflanzungszellen mit dem Geist der Medizin noch vereinbar sind, wenn sie den Zweck verfolgen, Menschentypen zu „züchten", Eigenschaften hervorzubringen, auszumerzen oder zu kombinieren. Darf der Mensch die Wurzeln seiner eigenen Existenz der Manipulation öffnen und damit den Weg zur Selbstzerstörung freimachen?

Abgesehen von diesen Zukunftsperspektiven hat der medizinische Fortschritt schon heute einen Stand erreicht, der keineswegs zur Gänze psychologisch bewältigt erscheint. Viele der daraus entstehenden Konflikte bleiben unbekannt, manche dringen in die Öffentlichkeit, insgesamt aber nähren sie das Unbehagen und Mißtrauen gegenüber der Medizin.

Die Diskussion über die Entnahme eines Knochenstückes aus dem Leichnam eines Spitalspatienten zu Transplantationszwecken ist ein Beispiel dafür, die Frage nach der Abschaltung Schwerstkranker von der Beatmungsmaschine ein anderes. Immer wieder auftauchende Fragen betreffen die Wahrheitspflicht gegenüber dem Kranken und seinen Angehörigen und neuerdings auch die sogenannte Sterbehilfe und die Euthanasie.

Die beiden letztgenannten Probleme lassen erkennen, wie leicht medizinische Ethik unter dem Druck der öffentlichen Meinung in den Sog des Zeitgeistes gerät. Damit ist noch gar nichts Negatives ausgesagt, denn zweifellos besteht eine Wechselbeziehung zwischen der Entwicklung allgemeiner Lebensformen und Lebensauffassungen einerseits und dem sittlichen Bewußtsein bzw. sittlichen Normen andererseits.

Es ist die besondere Aufgabe wissenschaftlicher Ethik, Forderungen, die sich aus dem gesellschaftlichen Wandel ergeben, auf ihre ethische Bedeutung zu prüfen und festzustellen, ob sie mit den grundlegenden Prinzipien menschlichen Verhaltens in Einklang stehen oder nicht.

In bezug auf die Heilkunde heißt das, daß nicht nur der Fortschritt selbst sittlich einwandfrei zu sein hat. Die gleiche Qualifikation muß auch bei Maßnahmen gelten, deren Vollzug der Medizin von Staat und Gesellschaft übertragen werden. Nicht nur in den Diktaturen, sondern auch in demokratischen Staaten kann durch gelenkte Bewußtseinsveränderungen ein Klima geschaffen werden, in dem gewisse medizinische Maßnahmen als kultureller und humanitärer Fortschritt angesehen werden, die rein ideologischen Verir-rungen entspringen.

Mit Recht wird die seinerzeit vom nationalsozialistischen Reichsärzteführer inszenierte Vernichtung „lebensunwerten Lebens" angeprangert, und dennoch schielt man heute bereits wieder danach, diesmal unter dem Deckmantel des Mitleids, „sinnlos" gewordenes Leben auslöschen zu dürfen.

Sogar Ärzte befürworten, wie kürzlich wieder in England, die Tötung auf Verlangen oder aus Mitleid. Sinngemäß fällt auch die Tötung der Leibesfrucht in diese Problematik.

Prof. Berner hat kürzlich daraufhingewiesen, daß der Hippokratische Eid nicht als Normenkatalog für die Gegenwart gelten könne. Natürlich nicht. Die Welt der heutigen Medizin ist von der antiken so verschieden wie die Sternenkarte des Ptolemäus vom modernen Himmelsbild.

Darum ist es an der Zeit, die medizinische Ethik, die zwar aus Tradition stets Motiv ärztlichen Handelns geblieben ist, im übrigen aber als Fachgegenstand kaum mehr als ein Hobby für in den Ruhestand getretene Fachgelehrte bildet, aus ihrem Mauerblümchendasein zu holen und ihr die zentrale Rolle zuzuerkennen, die ihr als Schule und Schulung des ärztlichen Gewissens zukommt. Im Zeitalter der chemischtechnischen Revolutionierung, die auch die Medizin zur Gänze erfaßt hat, kann die Frage des Was und Wie in der Medizin nicht mehr einfach der Intuition des einzelnen überlassen bleiben.

Was not tut, ist, daß das ethische Ur-motiv in allen Formen, auf allen Ebenen und in allen Handlungen der Medizin erkennbar und spürbar bleibt. Allgemein herrscht heute das Gefühl eines „technischen" Katzenjammers, und jetzt erst wird man sich klar, daß technischer Fortschritt nur dann auch Fortschritt der Kultur bedeutet, wenn seine Nutzung von einer tieferen Einsicht in die existentiellen Bedürfnisse des Menschen und einem entsprechenden ethischen Verhalten bestimmt wird.

In der Medizin ist es nicht anders. Auch hier bleibt die geistige Bewältigung der großartigen fachlichen Leistungen im Rückstand. Unter den. zahlreichen jungen Fachdisziplinen, zu welchen ständig neue hinzukommen, gibt es keine, die dieser Problematik gewidmet ist. Eine Ethik-Kommission der oben beschriebenen Art füllt nur eine Lücke aus, die systematische Bearbeitung der Gesamtmaterie bleibt weiterhin offen. Auch die in den Fachvorlesungen eingestreuten Bemerkungen zur ärztlichen Ethik bilden keinen ausreichenden Ersatz.

Das Manko läßt sich nur wettmachen, wenn die ärztliche Ethik gleichrangig im Lehr- und Forschungsbetrieb der medizinischen Fakultäten durch eine Lehrkanzel vertreten ist. Der Bedarf ist groß, vor allem auch im Hinblick auf die Heranbildung von Ärzten, worauf Prof. Fellinger vor einiger Zeit hingewisen hat.

Aber auch das Interesse ist bedeutend, wie zahlreiche einschlägige Publikationen in der Gegenwart bezeugen. Auch die Medizin lebt und wirkt nicht allein aus der Technik. Die Verlebendigung der ethischen Dimension ist eine wesentliche Voraussetzung für die Humanisierung der Medizin und damit für die Auflösung jener Schatten, die heute trotz aller Erfolge auf ihr liegen.

Hol'rat Dr. Franz Ritsehl ist ärztlicher Direktor i. R. des Allgemeinen Krankenhauses der Stadl Wien und Autor mehrerer sozialmedizinischet Schriften.

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