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Heilt die Medizin?

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Die Medizin gerät immer stärker ins Spannungsfeld von Natur- und Humanwissenschaft. Wird sie einen Ausgleich finden können?

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Die Medizin gerät immer stärker ins Spannungsfeld von Natur- und Humanwissenschaft. Wird sie einen Ausgleich finden können?

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Das Selbstverständnis der Heilkunde und damit des Arztes gerät immer mehr in das Spannungsfeld zwischen zunehmendem medizintechnischem Fortschritt und abnehmender, vertrauensvoller Beziehung von Arzt und Patient. Der Arzt sieht sich verpflichtet, die Errungenschaften der Forschung jedem Patienten voll zukommen zu lassen. Der solcherart „verkabelte“ Patient fühlt sich menschlich vernachlässigt und flüchtet zur sogenannten Alternativmedizin. Angesichts dieser Konfliktsituation wird der Ruf nach einer richtungweisenden ärztlichen Ethik immer dringlicher.

„Die Naturwissenschaft hat die Medizin in ungeahnter Weise weitergebracht. Die Geisteswissenschaft hat sie schmählich im Stich gelassen“, schreibt Karl Hermann Spitzy, Begründer der Universitätsklinik für Chemotherapie in Wien, in seinem jüngst erschienenen Buch „Dämon und Hoffnung“ über die Beziehung zwischen Arzt und Patient und die daraus folgende Verantwortung. „Bei der Entscheidung, ob man etwas tun darf, was man kann, ist der Arzt komplett auf sich allein gestellt, und es wird ihm kaum geholfen, Unterschiede zwischen Ethik, Moral und Recht in seine Praxis umzusetzen. Seine rechtliche Sonderstellung, auf Geburt, Leben und Tod eines Mitmenschen Einfluß nehmen zu können, ihn verletzen, bewußtlos

machen zu dürfen, verleiht ihm Macht, die Angst erzeugt - Angst bei ihm selbst und bei seinem Gegenüber. Keine Institution, keine Kommission, kein Staatsanwalt kann ihm dabei die persönliche Verantwortung abnehmen.“

Das griechisch-lateinische Wort Ethik bedeutet Sittenlehre, die das sittliche Wollen und Handeln des Menschen hinsichtlich der jeweiligen Situation untersuchende praktische Philosophie. In der Anwendung dieser Lehre liegen eine Reihe von Imponderabilien. Doch gibt es seit Hippokrates, dem Begründer der wissenschaftlichen .Heilkunde Leitgedanken, die auch heute noch Gültigkeit haben. Der Eid, den er seinen Schülern abverlangte, gebietet, niemals zu schaden, stets zu helfen, die Schwangerschaft nicht zu unterbrechen, nicht bei Selbstmord oder Tötung eines Patienten mitzuhelfen, und über die Krankheit zu schweigen.

Dieses antike Gedankengut wurde vom Christentum übernommen und ist bis in die Gegenwart, etwa in der Deklaration von Genf 1948 und in

den Promotionsgelöbnissen der Universitäten erhalten. In Österreich ist die ärztliche Tätigkeit darüber hinaus durch das Arztegesetz und das Strafgesetz geregelt.

Doch damit sind nur grobe Richtlinien, Ansätze für Entscheidungsbildungen gegeben. In jüngster Zeit beobachtet der Wiener Pastoralmedizi- ner und Psychiater, Gottfried Roth, Entwicklungstendenzen, die gegen die hippokratische Orientierung der Medizin verstoßen; die Anonymisierung des Patienten, die Verrechtlichung ärztlicher Maßnahmen (siehe Seite 10), die zu einer risikoscheuen Defensivmedizin führen, und die Probalisierung arztethischer Überlegungen auf Kosten von Patienteninteressen. Roth fordert (nach Manfred Balkenohl, Ethische Aspekte der Gen-Technologie und der Fortpflanzungsmedizin) eine Ethik, die als „Verantwortungs- und Beziehungsethik bezeichnet werden darf, und die Würde und den Schutz des menschlichen Lebens umgreifen muß.“

IM MITTELPUNKT DER MENSCH

Eine weitere Gefahr sieht Tier mit der Betreuung von Patienten erfahrene Pastoralmediziner in dem „drohenden und vielfach schon eingetretenen Verlust ärztlicher Erfahrung als Basis ethischer Überlegungen und Erörterungen in der Medizin. In einer notwendigerweise arbeitsteilig strukturierten Humanwissenschaft wie der Medizin, die ja unbestreitbar Natur- und Geistes Wissenschaft ist,

kann letztlich die Unmittelbarkeit ärztlicher Erfahrung nicht zurückgedrängt oder vernachlässigt werden. Diese ärztliche Erfahrung beginnt damit, daß der Arzt die Lebens- und Krankengeschichte des Patienten aufnimmt, in der ärztlichen Betreuung erlebt der Arzt diesen Lebensablauf des Patienten mit und verbindet die Objektivität der medizinischen Wissenschaft mit der Subjektivität mitmenschlichen „Mitleidens“. All diese ärztliche Erfahrung ist notgedrungen für Nicht-Ärzte nicht so unmittelbar, weil dem Arzt die direkte Verantwortung zukommt, ėr muß diagnostische und therapeutische Entscheidungen treffen und persönlich verantworten. Fehlt diese ärztliche Erfahrung, dann kann es tatsächlich zu einer Gefährdung des Menschen kommen“, warnt Gottfried Roth.

Ärztliche Erfahrung ist auch notwendig, wenn mit dem Kranken über seine Krankheit gesprochen wird. „Die Wahrheit am Krankenbett hat wesentlichen Anteil an der heilsamen Situation, die sich aus der

umfassenden Sorge ergibt. Eine allgemein gültige Formel gibt es nicht, von der Krankheit und dem Patienten her ergeben sich Unterschiede, die im ärztlichen Gespräch und auf der Vertrauensbasis zwischen den Gesprächspartnern berücksichtigt werden müssen. Der Patient hat ein Recht auf Redlichkeit und Wahrhaftigkeit, er hat aber auch ein Recht, nicht überfordert zu werden und auf Trost“, sieht die arztethische Aufgabe der Pastoralmedizin eine Verant- wortungs- und Beziehungsethik!

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