… lebt nicht vom Stoffwechsel allein

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Spiritualität, Religion und Kultur am Krankenbett: Seelsorge geht heute über die individuelle Begleitung des einzelnen Kranken hinaus, und zwar als Begleitung des ganzen Systems Krankenhaus.

Die Kulturgeschichte von Krankheit und Gesundheit ist bis in die Moderne weitgehend auch Religionsgeschichte. Erst die naturwissenschaftlich begründete moderne Medizin führt zu einer Trennung von Medizin und Religion, damit aber auch von Heil und Heilung.

Gegen das vorherrschende biomedizinische Paradigma wenden sich unterschiedliche Modelle einer ganzheitlichen Medizin. Das Spektrum reicht von der Psychosomatik über Homöopathie und Komplementärmedizin bis hin zu den verschiedenen Spielarten einer Alternativmedizin, die sich in bewussten Gegensatz zur sogenannten "Schulmedizin" stellen.

Unverkennbar spielen auf diesem Feld religiöse Aspekte eine große Rolle, wobei der Begriff der Spiritualität bevorzugt wird. Individualität, Sinnsuche, Ganzheitlichkeit, Einheit von Körper und Seele, Einssein mit der Natur, Zusammengehörigkeit von Heilung und Heil - das sind einige der Stichworte, die sich mit dem Begriff der Spiritualität verbinden.

Inzwischen beginnt man sich aber auch in der medizinischen Wissenschaft wieder für die religiöse Dimension von Krankheit und Gesundheit zu interessieren. In den vergangenen Jahren ist eine Reihe von Untersuchungen in medizinischen Fachzeitschriften erschienen, die einen positiven Einfluss von Religion und Spiritualität auf den Heilungsverlauf und die individuelle Bewältigung von Krankheit, coping genannt, nahelegen.

Konzepte einer interkulturellen Medizin und Pflege schließen die Berücksichtigung der religiösen oder spirituellen Bedürfnisse und Überzeugungen der Patienten ein. 1995 nahm die Weltgesundheitsorganisation den Komplex spirituality / religion / personal beliefs als eigenen Bereich in ihren Fragebogen zur Erhebung von gesundheitsbezogener Lebensqualität auf, und 2007 wurde in Wien eine Interreligiöse Ärzteplattform gegründet.

Menschenbilder verschieden

Soziokulturell und religiös bestehen zum Teil sehr unterschiedliche Sichtweisen von Körper, Geist und Seele (etwa das westliche Personkonzept versus das Menschenbild in asiatischen Religionen), des Verhältnisses von Mensch und Natur (Mikrokosmos/Makrokosmos), von Krankheit, Gesundheit, Behinderung und ihren Ursachen.

Freilich gibt es "den" muslimischen Patienten ebenso wenig wie "den" christlichen oder buddhistischen Patienten. Schwierigkeiten, sich zum Beispiel den Gegebenheiten in österreichischen Krankenhäusern anzupassen, haben eher kulturelle als religiöse Ursachen. So sehr Religion auch ein Bestandteil der Kultur ist, muss doch zwischen Religion und Kultur unterschieden werden.

Das Thema "Spiritualität, Religion und Kultur am Krankenbett" betrifft nicht nur den persönlichen Kontakt zwischen Ärzten, Pflegenden, Patienten und Angehörigen.

Vielmehr müssen auch die konkreten Orte helfenden und heilenden Handelns, die institutionellen und organisatorischen Rahmenbedingungen mit berücksichtigt werden. Das gilt nicht nur für die Strukturen und Arbeitsbedingungen etwa in einem Krankenhauses oder Pflegeheim, sondern für das Gesundheitswesen insgesamt. Dem tragen die verschiedenen Konzepte von spiritual care Rechnung, die in den USA und in Großbritannien entwickelt worden sind. Inzwischen hat die Diskussion auch den deutschsprachigen Raum erreicht.

In ihr geht es auch darum, die Aufgabe und Rolle der Seelsorge im Krankenhaus neu zu bestimmen, nämlich nicht nur als individuelle Begleitung des einzelnen Patienten, sondern auch als Begleitung des Systems Krankenhaus.

In den USA wird zwischen konservativen und liberalen Theologen über das Für und Wider von spiritual care im Unterschied zur pastoral care, das heißt einer konfessionell geprägten Seelsorge diskutiert. Dabei spielt die Palliativmedizin bzw. palliative care eine Vorreiterrolle. Auch im deutschsprachigen Raum deutet sich in der Hospizbewegung eine Lösung der konfessionellen Bindung der Seelsorge zugunsten einer spiritual care an, die an keine feste religiöse Tradition gebunden ist. Welche strukturellen Konsequenzen dies für die Krankenhausseelsorge auf Dauer nach sich zieht, bleibt abzuwarten.

Der Begriff der Spiritualität ist freilich vieldeutig und unscharf, auch im Bereich von Medizin und spiritual care. Die vielgestaltige spirituelle Szene, die von christlicher Frömmigkeitspraxis über fernöstliche Religiosität und Schamanismus bis zu den unterschiedlichsten Formen von Esoterik, New Age und Psychotherapien, von ignatianischen Exerzitien bis zur transpersonalen Psychologie reicht und alle möglichen Formen von kleinen und großen Transzendenzerfahrungen umfasst, lässt sich wohl kaum auf einen einheitlichen Nenner bringen.

Bei allem Verständnis für pluralistische Lebenswelten und Diskurse halte ich doch das Bemühen um begriffliche Unterscheidungen sowohl aus wissenschaftlichen als auch aus praktischen Gründen für notwendig.

Reduktionistische Esoterik

Wer zum Beispiel wie der evangelische Theologe Manfred Josuttis im Anschluss an Rupert Sheldrakes Theorie der morphogenetischen Felder und die fernöstliche Chakrenlehre den Geist Gottes als kosmisches Kraftfeld auffasst und den Seelsorger für einen Führer ins Heilige hält, setzt sich in der Attitüde des scheinbar allmächtigen spirituellen Heilers über die Heilungsbemühungen von Ärzten und Therapeuten hinweg. Solche Formen von Spiritualität sind nicht weniger reduktionistisch als der von ihnen kritisierte naturwissenschaftliche Materialismus.

Fragwürdig ist auch die These, wonach Spiritualität in jedem Fall positive Auswirkungen auf die seelische oder körperliche Gesundheit hat. Abgesehen von der Frage nach der Aussagekraft empirischer Studien zur Wirkung von Gebet und Meditation könnte man genausogut die angsterzeugende oder -verstärkende Wirkung bestimmter religiöser Vorstellungen und ihre negativen Auswirkungen auf Krankheitsverläufe untersuchen. Man denke an religiöse Schuld- und Sündenvorstellungen, an Vorstellungen von göttlichen Strafen, Hölle und Fegefeuer.

Gefährliche Alternativen

Auch bestimmte Formen von Esoterik und Alternativmedizin können gesundheitsschädliche Folgen haben. So gibt es etwa auf dem Gebiet der Psychoonkologie fragwürdige, teilweise geradezu kriminelle Beispiele wie die Germanische Neue Medizin des ehemaligen Arztes Ryke Geerd Hamer. Die zeitgenössische Esoterik-Szene ist teilweise von rechtsradikalen, sozialdarwinistischen und rassistischen Ideen durchsetzt. Sofern die Quelle zu den kosmischen Kräften der Natur im Individuum liegen soll, wird wohl an die Eigenverantwortung des Einzelnen für sein individuelles Geschick appelliert, zum Beispiel indem Krankheit als Selbstheilung gedeutet wird, doch die sozialethische und politische Dimension der Weltverantwortung tritt ganz in den Hintergrund.

Die berechtigte Kritik an negativen Erscheinungen und Folgen von Religion oder Spiritualität kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt und sich nicht auf Stoffwechselvorgänge und die Befriedigung materieller Bedürfnisse reduzieren lässt.

Erkenntnistheoretisch wie praktisch muss um des Lebens willen die Eindimensionalität zugunsten der Mehrdimensionalität überwunden werden. Anstelle einer fragwürdigen Ganzheitsmedizin ist aber nach meinem Dafürhalten ein Konzept von integrativer Medizin zu stellen, das auf Mehrdimensionalität zielt. An die Stelle hochgradiger Arbeitsteilung muss das Teamwork von Gesundheitsberufen und religiöser Seelsorge treten, wenn der Mensch als Person nicht aus dem Blickfeld geraten soll. Sein und Sinn betreffen den in sich unteilbaren Menschen, der mehr ist als die Summe seiner anatomischen, psychischen und mentalen Teile.

Der Autor, evang.Theologe, leitet das Institut für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien.

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