Der Mensch als Werkstück

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Wir sind gerade Zeugen eines wohl irreversiblen Umbruchs in der Medizin: weg von der Zuwendung zum Einzelnen, hin zu einer nivellierten Massenmedizin.

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Wir sind gerade Zeugen eines wohl irreversiblen Umbruchs in der Medizin: weg von der Zuwendung zum Einzelnen, hin zu einer nivellierten Massenmedizin.

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Die Checkliste hat Einzug in die Medizin gehalten und wird dort langsam aber sicher zu einem bestimmenden Instrument. Das standardisierte Erfassen von Sachverhalten mit einem verbindlichen "Kreuzerl-Test" macht in einzelnen Bereichen durchaus Sinn, doch wenn man die gesamte Medizin in feste Schemata pressen will, bleibt der Mensch am Ende auf der Strecke. Standardisierte und automatisierte Frage-Listen haben immer die Eigenschaft, dem Umgang mit den Kranken jede persönliche Note zu nehmen. Indem man ständig mehr Objektivität in den Spitalsabläufen erreichen will, degradiert man in gleichem Maße den Patienten zum seelenlosen und fremdbestimmten Objekt. Ein Mehr an Sicherheitsmaßnahmen bedeutet immer auch den Verlust von individueller Autonomie.

Checklisten statt Hausverstand

Sinn und Unsinn von Checklisten liegen knapp beieinander: Während es im OP durchaus vorteilhaft sein kann, wenn z. B. die zu operierende Seite routinemäßig nochmals überprüft wird, können anderswo im Krankenhaus die Checklisten zum Beweis einer sinnlosen und letztlich sogar menschenfeindlichen Bürokratie werden. Besonders in der konservativen Medizin sollte man es mit den Checklisten nicht übertreiben, denn ein empathisches Gespräch mit dem Kranken bringt dort mehr als hundert korrekt applizierte Kreuzerln auf seitenlangen Listen. Generell muss gelten: In allen Bereichen, wo der Patient mitreden kann, sollte er dies auch tun dürfen. Und kein Gespräch sollte auf simple Ja/Nein-Fragen reduziert werden. Überdies sind Checklisten nicht nur im zwischenmenschlichen Umgang fragwürdig, sondern sie sind auch Verdummungsinstrumente für das Personal, denn der Hausverstand und die persönliche berufliche Kompetenz werden durch sie alles andere als gefördert.

Generell beobachten wir in der Medizin heute einen stärker werdenden Trend zur Automatisierung der Prozesse. Checklisten und deren pseudorationale Anwendungen sind nur die Epiphanie dieses besorgniserregenden Paradigmenwechsels. Die Grundtendenz der Gesundheitssysteme geht nämlich in eine explizit technokratische und damit inhumane Richtung. Daran ändert alle Schönrederei von Politikern nichts, denn mit dem Pathos ihrer Ansprachen versuchen sie nur, die neuen Wahrheiten zu verschleiern.

Gesundheitspolitiker fantasieren gerne davon, dass der Patient im Mittelpunkt aller Bemühungen stehen soll. Das ironische und entlarvende Bonmot dazu lautet, dass ebendieser Patient dort aber allen im Weg steht. Technokratie und Menschen gehen eben nicht gut zusammen. Realiter orientieren sich die Systeme heute nicht mehr an den individuellen Bedürfnissen des Patienten, sondern nur noch an der Effizienz, am Outcome, an der Prozessoptimierung, an der Standardisierung und an der Ökonomisierung.

Wir erleben gerade einen vermutlich irreversiblen Umbruch in der Medizin: Alles führt weg von der so gerne propagierten und absolut notwendigen Zuwendung zum Einzelnen und alles führt hin zu einer automatisierten, wirtschaftlich und politisch möglichst leicht steuerbaren und vor allem kostengünstigen einheitlichen Massenmedizin, die am besten zentralistisch dirigiert wird. Das Individuum verliert so seine persönlichen Eigenschaften und wird letztlich zum Werkstück einer technokratisch ausgeformten Medizinindustrie.

Fixe Standards sollen die ärztlichen Handlungen kontrollierbar machen und verordnete Richtlinien, am besten im Rang von Gesetzen, sollen Patienten und Ärzten in ganz engen Diagnose- und Behandlungskorridoren möglichst wenige Alternativen offenlassen. Die therapeutische Freiheit, die früher einmal das höchste Gut des Arztes war und die am Ende ausschließlich dem Patienten zugute kam, wird heute sukzessive abgebaut und schrittweise den anonym agierenden Apparaten übertragen. Immer unterlegt mit dem Argument der Patientensicherheit, dem Hinweis auf die Kosten und der Forderung nach Wissenschaftlichkeit wird die hippokratische Heilkunst, die nichts anderes will als die Heilung des kranken Individuums, in ein schiefes Licht gerückt und für obsolet erklärt.

Medizin ist keine Wissenschaft

Tunlichst vermieden wird dabei das Eingeständnis, dass die Medizin keine echte Wissenschaft ist, sondern sich nur ganz allgemein an wissenschaftlichen Ergebnissen orientieren kann: Jede Studie ist das Ergebnis von Datenanalysen aus Pools von hunderten oder tausenden anonymisierten Probanden. Für den jeweiligen individuellen Patienten kann der Behandler zwar Trends und Wahrscheinlichkeiten aus Studien ableiten, aber im Einzelfall kann ein Studienergebnis oder eine daraus abgeleitete Empfehlung auch kontraindiziert sein und sogar schwerste Schäden beim Individuum verursachen.

Aus diesem Grunde ist es leider auch unvermeidlich, dass einzelne, nach Absolvierung der vorgeschriebenen Studien bereits offiziell zugelassene Medikamente plötzlich wieder vom Markt genommen werden müssen. Schwere Nebenwirkungen können nämlich auch erst nach der Zulassung auftreten und fatale Folgen nach sich ziehen. Wenn die medizinische Wissenschaft eine echte und exakte Naturwissenschaft wäre, dürfte das eigentlich gar nicht passieren, denn verifizierte wissenschaftliche Ergebnisse sollten ja konsistent und nicht mehr fallibel sein.

Aber der menschliche Faktor und die individuellen Eigenschaften der Patienten machen eine im klassischen Sinne valide Wissenschaftlichkeit unmöglich. Die Fallibilität und die Falsifizierbarkeit von klinischen Studien bleiben demnach immer aufrecht. Die Ergebnisse können immer nur wahrscheinlich richtig sein, aber niemals absolut. Eine sachkundige Person aus Fleisch und Blut, welche den menschlichen Faktor berücksichtigen kann und welche um die nur relative Wahrheit von Studien weiß, ist daher neben dem und für den Patienten essenziell notwendig.

Und diese Person ist eben der Arzt. Computer oder Diagnosestraßen, standardisierte Medizinverfahren oder OP-Roboter können daher niemals dieselbe Behandlungsqualität erreichen wie ein Arzt, der seinen Beruf ernst nimmt und sich um den Patienten kümmert. Deswegen ist im Ärztegesetz das ärztliche Handeln klugerweise als eine direkte und unmittelbar am Patienten auszuübende Tätigkeit festgeschrieben.

Freilich wünschen wir uns immer neue Technologien und Forschungsergebnisse, und wir hoffen ständig auf Fortschritte in der Medizin. Seit es Ärzte gibt, sind diese auf der Suche nach neuen Heilmitteln und besseren Methoden, denn diese Suche gehört zum Berufsbild des Arztes und ist letztlich seine Pflicht. Wenn aber die Technokratie und die Anonymität in der Forschung die Oberhand gewinnen, dann geht der humane Kern der Medizin konsekutiv zugrunde und der Arzt wird zum Maschinisten in einer neuen und kalten Medizintechnikwelt.

Klassischer Arzt - rare Spezies

Es macht also wenig Sinn, wenn man die Ärzteschaft kontinuierlich aus ihrer angestammten Rolle drängt und politische sowie ökonomische Kontrollorgane das Sagen haben wollen. Der aktuelle Trend, der dezidiert zu einer Stärkung der paramedizinischen Berufe bei gleichzeitiger Entmachtung und Abwertung der Ärzte führen soll, belässt zwar die juristische Verantwortung für Leib und Leben beim Arzt, entzieht ihm aber gleichzeitig die Kompetenz des Handelns.

Dass diese Entwicklung letzten Endes dem Patienten schaden wird, ist nicht schwer zu erraten. Die Checklisten werden womöglich korrekt ausgefüllt sein, aber der Patient, der in der Endausbaustufe der sich gerade herausbildenden neuen Medizin-Systeme zum Werkstück degradiert sein wird, muss dann alleine seinen Weg auf den Förderbändern des zukünftigen vollautomatisierten Medizinbetriebs nehmen. Zum Reden wird keiner mehr da sein - außer vielleicht ein sprechender Touchscreen, bei dem man die aktuellen Studienergebnisse für sein persönliches medizinisches Problem abfragen kann.

Diese bereits stattfindenden Veränderungen in den Gesundheitssystemen sind auch der Grund, warum die Patienten in hellen Scharen zu Alternativmedizinern und Esoterikern abwandern. Was den Leuten definitiv hilft, ist die Zuwendung und die Zeit, die sie bei den alternativen Anbietern bekommen. Die Schulmedizin hat sich durch technokratische Tendenzen, oktroyierte politische Maßnahmen und nicht zuletzt auch durch die Geldnöte der öffentlichen Systeme sukzessive ins Abseits drängen lassen. Im selben Maße ist der klassische Arzt, der den Patienten gründlich untersucht, ihn behandelt und ihm vor allem einmal zuhört, zu einer gefährdeten und raren Spezies geworden. Und die Entwicklung eines entsprechenden Artenschutzprogramms ist nicht in Sicht - vielmehr scheint die Zukunft eher das Gegenteil zu bringen.

Der Autor ist Internist und ärztlicher Direktor des Wiener Hartmannspitals

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