Checklist am Krankenbett

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Entscheidungen am Operationstisch erfolgen unter Zeitdruck, sind riskant - und Fehler können passieren. Gerd Gigerenzer, Bildungsforscher, drängt darauf, Checklisten - wie sie Österreich bereits hat - einzuhalten.

Seine Analysen und seine Schlussfolgerungen sind stets anschaulich: Gerd Gigerenzer, Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin, empfiehlt Spitälern eine Checklist, um Kunstfehler einzudämmen.

DIE FURCHE: Sie beschäftigen sich unter anderem mit Entscheidungsfindung. Im Klinikum Klagenfurt wurde kürzlich einem Patienten anstatt der kranken die gesunde Niere entnommen. Der Abteilungsleiter sprach von einer "unerklärlichen Situation, der Operateur ist ein erfahrener Chirurg und die Abteilung war normal bis gut besetzt". Auch wenn Sie die konkrete Situation nicht kennen, wie kommt es zu solchen falschen Entscheidungen?

Gerd Gigerenzer: Diese Entscheidungen passieren nicht nur in Klagenfurt, sondern weltweit. Laut einer Schätzung des Institute of Medicine in den USA sterben jährlich an amerikanischen Kliniken zwischen 50.000 und 100.000 Menschen an dokumentierten und vermeidbaren Behandlungsfehlern. Das sind massive Zahlen. In anderen Ländern ist das weniger gut dokumentiert. Nun fragen sie, wie passiert so etwas? Das hat verschiedenste Gründe. Wenn sie die Hetze in manchen Kliniken kennen, das Hin und Her, dann hat man eine mögliche Erklärung. In manchen Bereichen der Medizin bräuchte man Checklists, wie in der kommerziellen Luftfahrt: Der Pilot und der Kopilot gehen gemeinsam eine Liste durch, die einzelnen Punkte müssen vom jeweils anderen bestätigt werden.

DIE FURCHE: In manchen Krankenhäusern gibt es das bereits.

Gigerenzer: Ja, in manchen, aber noch in zu wenigen. Es gibt eine Studie in den USA mit etwa 100 Kliniken, die zeigt, wie durch Checklists Menschenleben gerettet werden können: Jährlich sterben in den USA etwa 28.000 Menschen an den Folgen von Infektionen, die beim Anlegen von Kanülen in der Intensivstation passieren. Durch die Einführung von Checklists könnte die Anzahl von Toten gegen Null reduziert werden.

Die Standard-Checklist hat fünf Punkte. Der erste davon: Arzt, wasche dir bitte die Hände. Ein anderer besagt, dass ein bestimmtes Desinfektionsmittel aufzutragen ist, usw. Das sind ganz einfache Dinge, die gemäß der Liste befolgt werden sollen.

Wenn wir in unserem Medizinbetrieb wirklich in erster Linie Patientensicherheit im Auge hätten, dann würde jede Klinik diese Checklist einführen. Dadurch könnte das Leiden von Patienten und in manchen Fällen auch deren Tod in einem Maße reduziert werden, wie man es kaum mit einem Medikament kann. Gäbe es ein Medikament, das diesen Effekt hätte, würde es in die ganze Welt posaunt werden.

DIE FURCHE: Woran liegt es denn, dass diese Checklisten nur mäßig populär sind?

Gigerenzer: Sie können sie nicht patentieren und verkaufen, das ist einer der Gründe, warum Checklists weniger Aufmerksamkeit haben. Ein weiterer Grund ist, dass es in vielen medizinischen Bereichen ein sehr hierarchisches Verhältnis gibt. Die Checklist würde ja nicht ein Arzt halten, sondern wahrscheinlich eine Krankenschwester, die dann dem Arzt sagen müsste: "Moment, jetzt waschen Sie sich erstmal die Hände." Das ist mit dem Autoritätsbefinden von manchen klinischen Systemen nicht ganz vereinbar. Das sind einige der Gründe dafür, warum die Patientensicherheit nicht dort ist, wo sie sein könnte.

DIE FURCHE: Zu Patienten und Patientinnen: Auch sie müssen Entscheidungen treffen. Mit dem Internet stehen ihnen vielfältige Möglichkeiten zur Verfügung, die eigene Krankheit zu googeln. Welche Gefahren sind damit verbunden?

Gigerenzer: Das Internet ist ein Rieseninformationsspeicher. Wer nicht weiß, wo zu suchen ist, ist verloren. Sie bekommen im Internet exzellente medizinische Informationen, aber auch viel Schrott. Wir haben eine europaweite Studie gemacht in neun europäischen Ländern, einschließlich Österreich, ob Bürger die mehr im Internet nach Informationen suchen, auch tatsächlich besser Bescheid wissen. Die Studie bezog sich auf das Wissen über den Nutzen von Krebsfrüherkennung. Die Antwort: Nein, nicht in Österreich und in keinem anderen Land. Das heißt, von den Personen, die sich häufig im Internet Informationen suchen, mögen manche zwar etwas finden, andere dafür offensichtlich Missinformation. Aber auch in den meisten Medien findet man Falschinformationen - damit wird richtige Information gewissermaßen getötet.

Eine gute medizinische Information im Internet bekommen sie bei der Cochrane Library. Das ist eine internationale Vereinigung von Medizinern und Wissenschaftlern, die für evidenzbasierte Medizin kämpft, eine Non-Profit-Organisation. Die hochrespektierte Vereinigung ist leider bei der Bevölkerung immer noch nicht bekannt, vor allem auch weil Geld für Reklame fehlt. Auf der Cochrane-Library-Homepage finden sie zum Beispiel etwas über die Evidenz zu Operationen im Hüftgelenk: Nutzt diese Operation? Was schadet sie? - und Ähnliches.

Manche Länder haben dazu Zugang, in Dänemark etwa jeder Bürger. In Deutschland hat die Bevölkerung keinen Zugang und kann sich nur die Abstracts ansehen, aber nicht mehr. Die deutsche Regierung ist nicht bereit, dafür etwa eine Million Euro pro Jahr zu bezahlen, was ein Klacks ist. Ich weiß nicht, wie es in Österreich ist. (Anm.: kein allg. Zugang, denn Cochrane ist für Experten). Wenn sie keinen Zugang haben, dann sollten sie das mal einfordern.

DIE FURCHE: Wie nutzerfreundlich ist diese Online-Bibliothek?

Gigerenzer: Es ist nicht ganz einfach zu lesen, leider in Englisch geschrieben, aber sie haben da die beste Quelle. Das deutsche Cochrane Center hat kein Geld, um die Informationen übersetzen zu lassen. Aber wenn sie wirklich eine ernsthafte Krankheit haben und vor einer Operation stehen, dann finden sie in ihrer Bekanntschaft sicherlich jemanden, der diese Informationen lesen kann.

DIE FURCHE: Sie beschäftigen sich bei Prozessen der Entscheidungsfindung mit einfachen Heuristiken und haben festgestellt, dass diese manchmal komplexe Entscheidungen übertreffen. Sich nur auf einen Aspekt zu beziehen bei der Entscheidung, so die Heuristik, kann das nicht irreführend sein?

Gigerenzer: Wir untersuchen am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, wie Menschen Entscheidungen machen und wie man auch gute Entscheidungen treffen kann. Und hier gilt nicht immer, dass mehr Information besser ist. Wir untersuchen, in welchen Situationen man zum Beispiel mit nur einem guten Grund - das muss wirklich ein guter sein - bessere Vorhersagen machen kann, als mit rationalen komplizierten rechnerischen Verfahren. Ein Grund wird miteinbezogen für die Vorhersagen, alle anderen werden vergessen. In vielen Fällen funktioniert das sehr gut, aber nicht immer. Wichtig ist zu fragen: Wann lohnt es sich, komplizierte Berechnungen zu machen?

DIE FURCHE: Lässt sich das Konzept der einfachen Heuristik auf den medizinischen Bereich umlegen?

Gigerenzer: Ja. Es gibt bereits Ansätze in Krankenhäusern und bei Ärzten. Ich habe ein populäres Buch geschrieben mit dem Titel "Bauchentscheidungen", in dem sie ein Kapitel finden zum Thema "Mehr ist weniger in der Medizin". Hier zeige ich, wie man zum Beispiel Vorhersagen machen kann über Herzinfarkt. In der Notaufnahme muss, wenn ein Patient mit schweren Herz-Brust-Beschwerden hereinkommt, der Arzt so rasch als möglich entscheiden, ob das ein Herzinfarktfall ist oder nicht. Das ist eine Entscheidung auf Leben und Tod. In solchen Situationen helfen wir den Ärzten, einfache verständliche Entscheidungsbäume zu machen, die nicht vollständig sind, sondern die Information bewusst ignorieren. Aber die robust sind, wo man eine gute Chance hat, dass das in einem medizinischen Bereich, in einem Hospital, funktioniert. Eines dieser Systeme wird in einem Krankenhaus in Michigan schon seit Jahren praktiziert - bis heute erfolgreich.

* Das Gespräch führte Gerlinde Wallner

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