"Wir können nicht sagen, ob es Gott gibt"

19451960198020002020

Als einer von vier Nobelpreisträgern saß Manfred Eigen bei der 50-Jahresfeier der Österreichischen Physikalischen Gesellschaft in Graz am Podium. Sein Interesse gilt seit 30 Jahren dem Leben aus biologischer Sicht. Ein furche-Gespräch über die Perspektiven der biologischen Forschung und Technik.

19451960198020002020

Als einer von vier Nobelpreisträgern saß Manfred Eigen bei der 50-Jahresfeier der Österreichischen Physikalischen Gesellschaft in Graz am Podium. Sein Interesse gilt seit 30 Jahren dem Leben aus biologischer Sicht. Ein furche-Gespräch über die Perspektiven der biologischen Forschung und Technik.

Werbung
Werbung
Werbung

die furche: Ihr Vortrag trug den Titel "What is life?" Was macht nun tat-sächlich Leben aus?

Manfred Eigen: Das ist immer Definitionssache: Für den Biologen ist autonomes Leben immer an die Existenz von Zellen gebunden. Drei Eigenschaften sind es, die ein Lebewesen im Allgemeinen auszeichnen: Es benötigt einen Stoffwechsel, also einen ständigen Energiefluss, der das System daran hindert, in den Gleichgewichtszustand überzugehen. Gleichgewicht bedeutet Tod. Ein lebendes System muss immer fernab von Gleichgewicht sein und darum Nahrung zu sich nehmen. Weiters muss es sich reproduzieren können. Und drittens muss es die Eigenschaft der Mutation aufweisen, die meistens bei der Reproduktion automatisch geschieht. Sobald diese drei Eigenschaften vorhanden sind, ist das System in der Lage, sich selbst evolutiv an neue Umweltsituationen anzupassen. Unter den chemischen Substanzen sind das nach unserem Wissensstand nur die Nukleinsäuren.

die furche: Die Gentechnik-Debatte wird sehr kontroversiell geführt: Man denke nur an die Aufregung um das Klonschaf "Dolly" oder die Sorge über genmanipulierte Lebensmittel. Wo muss Ihrer Ansicht nach ein Wissenschafter nein sagen?

Eigen: Die Grenze hängt vom Wissensstand ab. Wenn wir negative Effekte im Voraus erkennen, müssen wir natürlich nein sagen. Eine schwierigere Situation liegt vor, wenn wir noch nicht genug wissen: Doch auch hier müssen wir gelegentlich nein sagen. Dies ist im Augenblick bei Eingriffen in die Keimbahn des Menschen der Fall. Was mich an den Philosophen stört, die über diese Thematik debattieren, ist ihre Annahme, dass sämtliche Eigenschaften des Menschen in den Genen gespeichert sind. Doch in Wirklichkeit handelt es sich um ein ungemein komplexes Zusammenspiel verschiedenster Gene. Natürlich müssen alle Eigenschaften des Menschen in seinen Genen angelegt sein, aber der Mensch speichert auch eine Menge Erfahrung. Wir sind nicht nur Ergebnis unserer Erbanlagen, sondern etwa auch das unserer Erziehung.

die furche: In der Medizin werden große Hoffnungen auf die Gentechnik gesetzt. Bahnen sich etwa bei Aids neue Heilungschancen an?

Eigen: Ich glaube nicht, dass man das Aids-Virus mit einem Impfstoff bekämpfen kann. Dieses Virus ist eines der variabelsten und kann sich an einen Impfstoff immer anpassen. Wir probieren daher eine andere Technik aus, mit der das Virus über eine so genannte Fehlerschwelle getrieben wird, sodass die gesamte darin gespeicherte Information "zerfließt". Man hat den Kampf gegen Aids auch mit Mehrfachimpfstoffen versucht, bei denen das Virus nicht in der Lage ist, gleichzeitig allen Faktoren auszuweichen.

die furche: Wie sehen Sie die zukünftigen Heilungschancen bei Krebs?

Eigen: Heutzutage kann man schon sehr viel mehr Krebskranke heilen als noch vor zehn Jahren. Aber wir wissen genauso gut, dass das Krebsproblem noch lange nicht gelöst ist. Es gibt verschiedene Ansätze: Besonders erfolgreich scheint jener über das Immunsystem zu sein. In Göttingen ist es gelungen, bei Nierenkrebs mit Metastasen einen körpereigenen Abwehrstoff zu entwickeln. Auch in der Chemotherapie gibt es immer wirksamere Mittel. Es geht ja vor allem darum, nur die Krebszellen zu schädigen, und hier ist der Zugang über das Immunsystem äußerst günstig, weil es sehr spezifisch reagiert. Wir versuchen also auch auf diesem Gebiet neue Substanzen zu finden. Ich bin überzeugt: Der Kampf gegen Krebs wird irgendwann einmal mit Sicherheit gewonnen werden.

die furche: Sie nannten Alzheimer die neue Geißel des Alters ...

Eigen: Die über 80-Jährigen sind zu einem großen Prozentsatz davon bedroht: Die Rate liegt bei über zehn Prozent, manche sprechen sogar von bis zu 30 Prozent. Doch wir haben eine neue Methode entwickelt, die es uns gestattet, einzelne Moleküle zu bestimmen. Bisher hat man das Stadium von Morbus Alzheimer nicht diagnostizieren können, erst nach dem Tod war dies möglich. Mit unserer Fluoreszenz-Diagnostikmethode sind wir bei der quantitativen Diagnose 25 Mal empfindlicher geworden als alle anderen Verfahren. Zuerst haben wir diese Molekulardiagnostik bei den Prionenkrankheiten praktiziert, also dem so genannten Rinderwahn, der beim Menschen als Creutzfeldt-Jakob-Krankheit auftritt. Doch diese Krankheit ist natürlich viel seltener als Alzheimer.

die furche: Mit Aids hat man nicht gerechnet. Welche neuen Krankheiten könnten noch auf uns zukommen?

Eigen: Aids ist keine neue Krankheit. Das Aids-Virus gehört zur großen Klasse der Retroviren. Die beiden menschlichen Typen HIV 1 und HIV 2 haben sich bereits vor nahezu 1.000 Jahren voneinander getrennt: Die eine ist in Westafrika heimisch, die andere in Zentralafrika. Aids ist also eine sehr alte Krankheit, die aber früher wahrscheinlich nur bei Primaten auftrat und unter Umständen dort auch gar keine tödlichen Folgen hatte. Durch einen noch ungeklärten Prozess wurde sie auf den Menschen übertragen und hat sich auf die ganze Welt ausgebreitet. Die ersten Fälle in Amerika sind erst nach den fünfziger Jahren aufgetreten, während wir in Afrika schon Spuren gefunden haben, die älter sind als 100 Jahre.

die furche: Sie haben Leben im biologischen Sinn definiert. Wann begann Leben zeitlich betrachtet? Und vor allem: Warum?

Eigen: Das Warum können wir in der Naturwissenschaft nicht beurteilen. Wir können in Experimenten die wesentlichen Stufen nachvollziehen und damit arbeiten, aber wir können im Laboratorium keine Lebewesen schaffen. Über die Zeitskala der Evolution ist aber schon viel bekannt: Die Erde selbst ist nicht älter als 4,7 Milliarden Jahre, und Leben ist etwa vier Milliarden Jahre alt. Der Prozess ist sehr lange auf der Stufe der Einzeller stehen geblieben. Mehrzeller, also das, was wir meist unter Lebewesen verstehen, Tiere, Pflanzen, alles was da kreucht und fleucht, ist nicht älter als 500 Millionen Jahre. Der Mensch selbst ist sicherlich nicht älter als eine Million Jahre, seine Kultur nur einige tausend und seine Technologie erst 100 Jahre alt. Wenn es so lange gedauert hat, bis der Mensch kam, dann könnte es unter den gleichen Bedingungen auf einem anderen Planten auch länger oder weniger lang gedauert haben. So ist auch völlig offen, ob es intelligentes Leben im All gibt. Doch die Wahrscheinlichkeit, in erreichbarer Nähe ein Planetensystem zu finden, auf dem Wesen in der Lage und daran interessiert sind zu kommunizieren, ist gering.

die furche: Welche Fragen über die Entstehung des Lebens sind heute wissenschaftlich gelöst?

Eigen: Wissenschaftlich gelöst ist im wesentlichen die ganze Informatik des Lebens, also das, was in den Genen als Information gespeichert ist: Wir kennen alle Mechanismen in dem Maße, dass wir nach diesen Methoden neue Substanzen, wie eben Medikamente, gewinnen können. Wir wissen jedoch noch nicht, wie sich die molekulare Entwicklung des Lebens historisch zugetragen hat: Dazu bräuchte man Zeugnisse, und die sind auf dieser unteren Stufe sehr rar. Wir wissen sehr viel Prinzipielles über die zelluläre Evolution: Jedes Lebewesen geht aus einer einzelnen Zelle hervor, der befruchteten Eizelle, die sich dann ausdifferenziert. Momentan dreht sich ja die Diskussion häufig um die Stammzellen, die noch die Potenz haben, sich in alle möglichen Körperzellen zu entwickeln. Solche Erkenntnisse sind auch besonders wichtig für die Behandlung von Krebs. Wir wissen jedoch noch kaum, wie unser Gehirn funktioniert. Jedes Kind weiß, ob es versteht oder nicht. Aber wir wissen nicht, was verstehen eigentlich bedeutet. Was sind die Informationseinheiten im Gehirn? Wie dieses Informationssystem im einzelnen funktioniert, ist gegenwärtig ein Hauptuntersuchungsgebiet der Biologie - auf allen Ebenen, von der Molekularbiologie bis hin zur Psychologie.

die furche: Wagen wir nochmals den Rekurs zum zeitlichen Anfang des Lebens: Glauben Sie, ist hier Platz für einen Schöpfergott?

Eigen: Was die Naturwissenschaften betreiben, hat nichts mit dieser Fragestellung zu tun. Wir können nicht sagen, ob es Gott gibt oder nicht. Wir können beobachten, wie die Welt strukturiert ist, aber wir stellen keine Behauptungen auf. Nun gibt es Leute, die glauben, es sei in diesem Zusammenhang alles wörtlich zu nehmen, was in der Bibel steht: Ich halte das für eine Anmaßung, denn in der Bibel steht auch, dass wir uns Gott nicht vorstellen sollen.

Das Gespräch führte Doris Helmberger.

Zur Person: Evolutionsforscher und Unternehmer "Das ist eine schöne Sache, aber sie hindert einen am Arbeiten," meinte Manfred Eigen über das Schicksal eines Nobelpreisträgers. 1927 in Göttingen geboren, interessierte er sich anfangs weniger für Physik und Chemie als für Musik. Der Krieg kam jedoch einer Pianisten- oder Cembalistenkarriere dazwischen. So studierte Eigen ab 1945 in Göttingen Physik. 1951 begann der Heisenberg-Schüler seine Arbeit am Institut für physikalische Chemie der Universität Göttingen. Später wechselte er an das dortige Max-Planck-Institut für physikalische Chemie. Seit 1964 ist er Direktor des Instituts, nunmehr Institut für biophysikalische Chemie.

1967 erhielt Eigen den Chemie-Nobelpreis für seine "Untersuchung schnell verlaufender chemischer Reaktionen". Schon damals hatte er sich Evolutionsfragen zugewandt. Nach dem Erhalt des Paul-Ehrlich-Preises für seine Arbeit über die "Selbstorganisation der Materie" initiierte Eigen 1993 die Gründung der Firma "Evotec Biosystems". Ihre Schwerpunkte: die molekulare Diagnostik und das "Pharma-screening": Täglich werden eine Million Kombinationen von Wirkstoffen für neue Medikamente geprüft.

Manfred Eigen - seit 1995 emeritiert - ist verheiratet und Vater zweier erwachsener Kinder.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung