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Von der Statistik vergiftet
Wir sind mittendrin in einer Grenzverwirrung. Von unserer Zeit könnte man sagen, daß die Naturwissenschaften keine Grenzen anerkennen, oder höchstens zeitweilige. Bestenfalls werden sie antworten: „Das können wir noch nicht machen“. Denn die Wörter „noch nicht“ sind in der Wissenschaft der Tribut, den die Ehrlichkeit dem Optimismus entrichtet.
Da die Naturwissenschaften zu dauernden Grenzüberschreitungen ermutigt werden, hat sich ihrer eine Art Freibeutergeist bemächtigt, und der Raubbau an den Naturgeheimnissen ist eine Großindustrie geworden.
Dies tritt vielleicht in gewissen Gebieten der Biologie und der Medizin am klarsten zutage. Die unglaubliche Brutalität, mit der z. B. Eingriffe in den Erbapparat oder das Seelenleben des Menschen erwogen werden, ist die direkte Konsequenz der „Statistifizie-, rung“ des wissenschaftlichen Denkens, die - von der Physik, Chemie und Bakteriologie ausgehend, wo sie durchaus notwendig ist - auch die Lehre vom Menschen ergriffen hat.
Anläßlich der Massenimpfung gegen Influenza, die vor Jahren, vielleicht als gescheiterter Wahltrick, in den Vereinigten Staaten vorgenommen wurde, sind am ersten Tag 36 ältere Leute gestorben, davon drei im selben Spital. Die Gesundheitsexperten versicherten darauf, daß angesichts der Zahl der Geimpften so viele Todesfälle statistisch durchaus zu erwarten waren.
Mag sein; ich kann es nicht überprüfen. Aber was ich mich frage, ist: „Wenn damals keine Massenimpfungen vor sich gegangen wären, wären es dieselben 36 gewesen, die an jenem Tage die Sonne nicht mehr untergehen sahen?“
Auch ich habe einmal Wahrscheinlichkeitsrechnung studiert, und ich weiß, daß man diese Frage nicht beantworten kann. Es ist ja Zufall.
Aber wenn die Wissenschaft den Zu
fall beim Arm packt und ihm sagt: „Stoß hier zu, und hier und hier!“, so hat sie eine fürchterliche Schuld auf sich genommen; denn gelenkter Zufall ist Mord. Wer umkommt, ist dem Aktuar gleichgültig, aber nicht dem Opfer.
Wir sind nämlich von der Statistik vergiftet worden, und nicht nur von den Schandtaten, zu deren Verschleierung sie sich hergibt. Wenn ich höre, daß die Erhöhung der Leukämiewahrscheinlichkeit durch ionisierende Strahlung - sei es von Kraftwerk oder Atommüll - statistisch nicht signifikant ist, so denke ich an den einen Menschen, der daran wird zugrunde gehen müssen.
Für mich hat er einen Namen und ein Gesicht, vielleicht eine Familie und Freunde; er hätte nicht so sterben sollen.
Dann kommen die schrecklichen Fachleute und sagen mir: „Ja, aber die kosmische Strahlung ist noch schädlicher.“ Nun gut; aber den Kosmos haben ja nicht wir gemacht, jedoch den Atomdreck, den haben wir erzeugt.
Alles, was ich von der Wissenschaft erwarte, ist, daß sie das Elend des Menschen nicht noch größer macht. Damit habe ich einen Rand der moralischen Grenze bereits erwähnt. Denn meine Mindestforderung lautet: Die Naturwissenschaften sollen die Natur nicht denaturieren; sie sollen den Menschen nicht entmenschen.
In der Art, wie wir die Naturwissenschaften heutzutage betreiben, sind sie, fürchte ich, im Begriff, beides zu erreichen.
Der Zweck heiligt nur heilige Mittel; das heißt, er heiligt gar keine. Von unserer Zeit könnte man jedoch sagen, daß die Naturwissenschaften keine Grenzen anerkennen.
Wer sollte auch diese Grenzen setzen? Sicherlich nicht die Forscher selbst, die, um ihr „Image“ in der Öffentlichkeit besorgt, viel eher den Spiegel als sich selbst korrigieren möchten. So bieten denn die verschiedenen Kon
ferenzen über die Ethik der Naturwissenschaften ein melancholisches Spektakel: Die Böcke beraten, wie sie weniger nach Bock riechen könnten und mehr nach Kohl.
Dies bringt mich zu einem letzten Beispiel, nämlich zu der jetzt lebhaft gewordenen Diskussion über die Zulässigkeit genetischer Manipulationen.
Die Zukunftsmusik, welche die Segnungen dieser Forschungsrichtung anpreist, ist ohrenbetäubend. Was wird nicht alles versprochen: Heilung des Krebses, Verdoppelung der Lebensspanne, stickstoff-assimilierendes Getreide ...
Aber vorläufig wissen wir fast noch nichts über den Erbapparat des Menschen, und wir sind noch sehr weit von der Isolierung eines bestimmten Gens entfernt. Was ein Gen alles benötigt, um sich „auszudrücken“, ist noch völlig im dunkeln ...
Der Nichteingeweihte wird es schwer haben, sich davon einen Begriff zu machen, was hier gespielt wird. Es handelt sich um nichts Geringeres als die Erzeugung neuer Lebensformen.
Erbbotschaften, welche die Natur seit Jahrmillionen voreinander bewahrt hat, sollen vermischt werden, und mißgeborene Chimären werden die Zukunft bevölkern. Denn eines ist sicher: Bei Bakterien, die sich normalerweise im menschlichen oder tierischen Organismus aufhalten (Escherichia coli), können auch die strengsten Vorsichtsmaßnahmen nicht ausreichen; irgendwie werden sie entweichen, sich vervielfältigen oder ihre Erbmasse an andere lebensfähige Zellen abgeben.
Aber das ist ja nur der Anfang: die molekularen Zauberlehrlinge stehen schon Schlange, um endlich mit der Verbesserung der genetischen Anordnungen des Menschen beginnen zu können.
Erwin Chargaff ist Direktor des Biochemischen Instituts der Columbia University in New York. Auszug aus: UNBEGREIFLICHES GEHEIMNIS. Von Erwin Chargaff. Klett-Cotta Verlag. Stuttgart 1980. 226 Seiten, öS 246,40.
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