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Die Wischiwaschi- Kultur

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Was beunruhigt Sie? Was bedrängt Sie? Die FURCHE bat einige namhafte Autoren um eine Stellungnahme.

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Was beunruhigt Sie? Was bedrängt Sie? Die FURCHE bat einige namhafte Autoren um eine Stellungnahme.

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Also, wenn man mich fragt, was mich irritiert in dieser unserer feinen Gesellschaft, dann denke ich eine halbe Sekunde lang nach, und dann werden Sie mich sagen hören: Alles! Oder überhaupt nichts mehr, es ist mir alles schon zu blöd und ich lese den 90. Psalm, mehr braucht man ja wirklich nicht zu wissen, denn eben da lautet ein Vers: „Wir bringen uns-re Jahre zu wie ein Geschwätz.”

Ich will das umgekehrt ausdrücken: Hinter allem, was jeweils in Rede steht, ist keine Philosophie mehr, das heißt, man denkt nicht auf eine Vision hin. Die Kirche verheißt ihren Gläubigen bloß einen guten Tag, aber nicht mehr ein ewiges Leben. Die Politik verheißt ihren Wählern nur Reformen, nicht irdische Gerechtigkeit. Die Kunst verheißt ihren Konsumenten Ablenkung von sich selber, nicht Selbsterkenntnis. Es wimmelt von Worten, aber es fehlt der Begriff.

Wie viel Schindluder treibt man, zum Beispiel, mit dem Begriff des Friedens! Da dürfen die Russen vorrüsten und die Amerikaner nicht nachrüsten, da dürfen die PLO-Terroristen morden und die Israelis sich nicht wehren, da dürfen kubanische Söldner in Afrika wüten und die Österreicher keine Panzer nach Chile liefern - der Friede hat offenbar aufgehört, ein Singularetantum zu sein.

Und richtig blasphemisch wird es, wenn man den Frieden zwischen den Völkern identifiziert mit dem Frieden des Menschen in

Gott, mit dem von Christus gestifteten Frieden des Menschen mit Gott. Aber bibelfest sind die Friedenskämpfer ja überhaupt nicht; sonst würden sie wissen, daß Bergpredigt und Feldrede nicht die Liebe zum Feind gebieten, sondern die Liebe zum Nicht-Freund (inimicus), in heutiger Ausdrucksweise: zum Gegner; oder mit Dostojewski zu reden: „Brüder, liebt die Menschen auch in ihrer Sünde, denn das ist der göttlichen Liebe ähnlich und die höchste Liebe auf Erden.”

Was zweifellos heißt, auch Gewalttäter als Geschöpfe Gottes zu achten, und zweifellos nicht heißt, Gewalttätern notfalls nicht mit Gewalt zu begegnen -nach der Logik unserer Pazifisten hätte man Hitler gewähren lassen und ihn auch in Stalingrad, selbst in Auschwitz noch lieben müssen. Also, ich weiß nicht. Aber selbst manche Theologen lesen, anstatt der Bibel, doch lieber Marx, allwo geschrieben steht: „Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt”; was für jeden, der den Begriff des Gleichen durchgedacht hat, nichts andres bedeutet als: Macht geht vor Recht.

Doch um auf ein an sich liebliches Thema zu kommen: die Frauen. Aber was ist denn herausgekommen aus zwanzig Jahren libertinistischen Emanzipationsgeplauders? Sie dürfen abtreiben lassen, ohne daß der Mann, der sie in die fatalen Umstände gebracht hat, dafür der Prügelstrafe anheimfällt. Aus diesem einen Punkte sei ihr ewig Weh und Ach so tausendfach zu kurieren, das kolportiert man selbst hier, wo vor rund achtzig Jahren ein Otto Weininger sein Leben daran gewagt hat, der Geschlechtlichkeit auf die metaphysische Spur zu kommen. Ich, jedenfalls, wünschte den Frauen Besseres, als zerredet zu werden wie der Friede, zerredet zu werden wie die Umwelt — und jetzt muß ich tief Atem holen, ganz tief, wie verpestet die Luft auch immer sei.

Um jedwedem Mißverständnis vorzubeugen: ich halte das ganze Umweltgerede für den Versuch, ein Alibi sich zu konstruieren für die Vernachlässigung der menschlichen Innenwelt mitsamt der davon abhängigen sozialen Welt. Denn es ist bequemer, Resolutionen zu unterschreiben für exotische Tiere (denen man auf freier Wildbahn eh nicht begegnen möchte), als dem alten Nachbarn, den der Schlag gestreift hat, den Hintern auszuwischen. Es ist bequemer, dafür zu plädieren, daß die sogenannte Natur in ein Freilichtmuseum verwandelt werde, als für die gesamte Natur, also auch für sich selber, das „Stirb und werde” als Grundgesetz anzuerkennen, die „Dauer im Wechsel”, also mit Heraklit zu wissen, daß wir nicht zweimal in denselben Fluß steigen können. Lebensfragen sind Machtfragen, und deshalb ist jede Verwandlung auch eine Zerstörung. Die Selbstregulierung der Natur ist ein grauenerregend brutaler Prozeß; und ein ökologisches Gleichgewicht hat es selbstverständlich nie gegeben, sonst hätte es ja auch keine Evolution gegeben. Wo bleibt denn, übrigens, dieses Gleichgewicht, da in Wien mehr Ratten als Menschen hausen? Und möchte nicht auch der leibhaftige Wurzelsepp sein Geselchtes und seinen Tabak, seine Zeitung und seine Antibiotika, seinen Traktor und seine Schneuztü-cheln: lauter Dinge, die nur auf Kosten der Umwelt erzeugt und transportiert werden können?

Kurzum, wo ein metaphysisches Durchdenken unserer Stellung im All vonnöten wäre, ästhe-tisiert man einzelne Phänomene der Umwelt, zum Beispiel die Reiher — warum dann aber nicht auch die Wanzen, von Erdbeben oder Vulkanausbrüchen zu schweigen? Man flucht auf die Technik, und sinnt bloß auf technische Abhilfen statt auf die Heilung unsrer ab ovo hybriden Natur.

Da könnte ich auch der papierenen Tränen gedenken, die zur Stillung des Hungers in Afrika hierzulande zum Backhendel fließen; allein, wenn man konstatiert, daß der Hunger dort nicht eine Folge von Dürre in Feld und Wald, sondern in manchen Ländern Folge von sozialistischen Wirtschaftssystemen ist, dann wird man sofort als das verketzert, was man im freien Westen partout nicht sein darf: als Anti-kommunist. Aber das, was anderen Menschen heilig ist, öff entlich höhnen, das darf man schon, denn „die Kunst ist frei”. So, und nun werden all jene, die nicht lesen, zum Ausgleich dafür aber auch nicht denken können, den Mund aufreißen: Pfui, der ist für den Krieg, der ist für die Unterdrük-kung der Frauen, der ist für Gift in Erde und Wasser und Luft, der ist für millionenfachen Hungertod, der ist für Zensur!

Ihnen allen im vorhinein schon meinen herzlichen Dank für die Illustration meiner eingangs gebrachten These vom allgemeinen Geschwätz.

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