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Warum ich Amerika liebe und hasse

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Wenn ich im Flugzeug nach Ame­rika unterwegs bin, empfinde ich jedes­mal überraschende Ungeduld, endlich drüben anzukommen. Diese Unruhe bestürzt mich immer aufs Neue, denn inzwischen müßte ich wissen, was mich in Amerika erwartet. Ich schulde mei­ner Erfahrung mit dem Bestimmungs­land Amerika, während des Fluges ge­lassen zu sein. Ich bin jedoch unruhig, freudig erregt, und zu dieser Erregung stößt die Empfindung einer fast körper­lich fühlbaren Befreiung, als wäre ich durch das Besteigen des Flugzeuges et­was losgeworden, das mich lange bela­stet und gequält hat, obwohl es doch gar nicht so sein kann.

Weil meine Jahre in Europa aus­nahmslos glücklich waren, wenigstens äußerlich, verwirrt mich mein Zustand umso mehr. Ich klage mich der Ver­rücktheit an, sogar die schnellen Dü­senflugzeuge für ungeeignet zu halten, mich rasch genug von Europa fortzu­tragen. Einmal versuchte ich, vor lauter Ungeduld, das Überschallflugzeug „Concorde“: Wir verließen Paris um zwanzig Uhr und erreichten Washing­ton, D. C., kurz vor achtzehn Uhr. Die­ses Einholen der Sonne und damit ver­bundene Spielen mit der Zeit faszinier­ten mich; die Reise wurde mir weniger 'anstrengend. Aber letztlich könnte auch die „Concorde“ niemand zufrie­denstellen, wenn man sie erst einmal ge­wohnt ist. Die Zeit hat mit dieser Unge­duld, in Amerika anzukommen, gar nichts zu tun.

Später, wenn ich dann untertauche in diesem Kontinent, der weder Heimat noch Fremde ist, fehlt mir Europa nicht. Ich finde vielmehr einen gefährli­chen Stolz im Wissen, Europäer zu sein, aber nicht in Europa zu leben. Ge­fährlich nicht deshalb, weil dieser Stolz etwa auf eine gestörte Beziehung zur ei­genen Herkunft schließen ließe, son­dern weil in ihm das Geheimnis des Vergessens begründet ist, das Amerika zugleich groß und armselig macht.

Ak. merika ist erfüllt von Vergessen, die Armen wie die Reichen leben hier aus ihrer Vergessensfähigkeit. Sie ist es auch, die mir Europa gleichgültig wer­den läßt, wenn ich in Amerika bin. In Europa dagegen, wohin ich jährlich mehrmals zurückkehre, fehlt mir Ame­rika. Der zwergischen Vorfreude auf Europa, die sich immer erst Stunden vor dem Ostwärtsflug einstellt, und zu der ich mich eher berufen als geneigt fühle, folgt schon bei der Landung jedes Mal eine erste Ernüchterung. Ich fühle dann, daß ich wieder doppelt hilflos bin. Europa ist ja mein zweiter Körper. Mit dem eigentlichen Leib, den ich durch Essen und Trinken betäube, ver­mag ich den Kampf der Koexistenz ge­rade noch aufzunehmen; wie aber be­täube ich mein Europa in mir? So ver­lasse ich also die Flughäfen von Paris oder Amsterdam, Zürich oder Rom - lauter vertraute geliebte Städte - , und frage mich gleich, was ich am Ort verlo­ren habe, mit welchem Recht ich in Europa bin. Auf diese Frage keine Ant­wort zu wissen, tut freilich weh. In Amerika aber, wo ich der wirkliche Fremde bin, stellt sich diese Frage nie­mals.

Meine Freunde in Europa, an die ich derlei Schwierigkeiten in der Vergan­genheit gern herantrug, mißverstanden mich jedes Mal. Sie warfen mir Arro­ganz oder unehrliches Pathos vor; eini­ge zogen sich in der Folge von mir zu­rück. Umgekehrt konnte ich meine Freunde nicht verstehen: sie lebten so verflucht eingewurzelt in etwas, das doch nur scheinbare Heimat, schein­bare Sicherheit sein konnte. Fiel ihnen diese entscheidende Einschränkung ih­ rer gepriesenen Beständigkeit, daß sie scheinbar, daß sie unmöglich war in ei­ner Welt, die mit der Zeit und der Ver­gänglichkeit zu kämpfen hat, nicht auf?

Im Flugzeug sitzen, in Amerika sein, in Europa sein: drei Zustände, alle un­natürlich dem zerrissenen Menschen, der aus Europa kommt, jenem Erdteil, der sich selber nicht mag.

Ich liebe Amerika, weil ich von mei­nem Fenster aus in den Westen schauen kann. In Europa sind Himmelsrichtun­gen nichts Geheimnisvolles. In Europa sage ich Westen und weiß, was mich dort erwartet; ich sage Süden, und schon drängen sich süße Erinnerungen auf; ich sage Osten, und fühle wenig; ich sage Norden, und langweile mich. Hier dagegen gibt der Horizont die kühnsten Versprechen ab, die er freilich nicht ein­halten muß, weil er den Menschen nichts schuldet. Gleich bei meinem Haus führt eine Straße vorbei, die durch stille Landschaft nach Westen zieht. Wenn mir nach Schmerz zumute ist, dann befahre ich diese Straße, im­mer der sinkenden.Sonne nach, und ge­nieße einige Meilen lang das Wissen, daß diese Straße den Kontinent durch­quert. Wenn ich umkehre, bin ich rei­cher geworden an neuem Verzicht. Sehnsucht gibt es hier nur verwandelt, verwandelt in den weichen Trübsinn, wenn abends die Nacht ihren Sieg an­tritt.

Ich liebe Amerika, weil man uns ein­redet, daß wir Angst haben müssen um unser Leben. Der Gedanke, daß mich jemand ermorden / könnte, jagt mir Frost durch den Körper. Aber wer die lockeren großen Revolver der Polizi­sten sieht, der muß auch einsehen, daß Waffen hier Spielzeuge sind, und daß Töten ein Spiel bleibt. Das Leben gilt hier nicht viel, und gilt doch um vieles mehr als im blutdurchtränkten Europa. Wer sich über die Grausamkeit aufregt, wird beschwichtigt werden von den zärtlich-gekräuselten Wolken; zärtli­cher sind sie, als sie je in Europa sind. Oder die Klarheit der Welt im Herbst! Hier übertrumpft die Natur die menschliche Dummheit.

D ie Menschen sind überall die glei­chen: Verlierer hier und Verlierer in Europa, die sich danach drängen, ge­gängelt zu werden, versklavt und ge­schlachtet zu werden. Aber Europa ist lang schon ohne Natur. Es gibt nur noch Menschen, also nur noch Tod. Es scheint, als würden die Berge und Kü­sten und Wälder Europas sich nicht be­haupten können ohne den Applaus der Massen. Was wäre das Matterhorn ohne seine Bewunderer, was wäre das Mittelmeer ohne Strandhotels und ba­dende Menschen? Europa ist nichts als der Mensch darin, seine Länder und Landschaften sind das Parkett für diese Menschen. Ich liebe Amerika, weil es hier unmöglich ist, das Gras erfolgreich niederzutreten. Auch nach dem Tram­pelschritt schwerster Beleidigung steht das Gras wieder auf. Es gibt keine Men­schen in Amerika, weil die Natur sie nicht wahrnimmt. Gerade deshalb hat der Tod kein Gewicht in Amerika.

Dem gewichtlosen Tod folgt augen­blicklich die Bestimmung des Landes: das Vergessen. Ich hasse Amerika, weil es keine Allerseelentage gibt. Die Grä­ber sind Steintrümmer, oft nur Stein­chen, und wochenlang betritt kein Mensch die Friedhöfe. Keine Kerzen und keine Blumen: dieTheatralik Ame­rikas dauert nur ein paar Stunden, die Stunden der Aufbahrung; mehr darf niemand erwarten, mehr erwartet auch keiner.

Ich hasse Amerika, weil diese schön­sten Sonnenuntergänge der Welt keiner sieht. Weil es alte Männer gibt, -denen jeder Abend unsagbar kostbar werden sollte -, die ihrer Gesundheit zuliebe der Sonne den Rücken kehren und ent­lang der Straßen ins Nachtgrau joggen. Wozu die blinde Verlängerung des Le­bens? Aber nur Europäer stellen derlei Fragen, in Amerika blüht der Kult der Kinderfreiheit: die kleinen Wesen dür­fen überall ihre Meinung leben, obwohl sie keiner Meinung lehrt. Sie stürzen die Kinder in den Schmutz des Erwach­senseins, wo es keine Werte mehr gibt. Ich liebe und hasse Amerika, weil es den gewaltigsten Widerspruch zwi­

schen Freiheit und Unfreiheit vorführt. Die prüde Gesellschaft, die sich fürch­tet vor Intelligenz und Sexualität, die somit das Geistige wie auch das Tieri­sche ablehnt, ist dennoch auf reinen Ge­nuß gegründet. Den welchen anderen Zweck hätte alles: Wirtschaft und Technologie, Demokratiegeplapper und Freiheitsreden, wenn nicht den des unkomplizierten Lebens, also der Lust? Ich liebe Amerika für die Lust, für die ungezählten Genüsse, die es mir täglich vor die Füße wirft. O die Seifenblasen­geschenke Amerikas!

Es gibt eine Armut in Amerika, von der Europa nichts weiß. Aber der Mensch im größten Elend, dessen euro­päischer Bruder sein Land und Gott verfluchen würde, brüllend verfluchen, bleibt in Amerika gesittet ruhig. Ich habe Hütten gesehen, deren geographi­sche Lage allein eine Strafe für die Be­wohner sein muß, eine Armut des Le­bens, die dem, der bloß im Wagen vor­überfährt, Brechreiz verursacht. Aber vor diesen Wänden des Jammers hängt, zerrissen und peinlich stolz, die ameri­kanische Fahne. Der Versager beschul­digt nie die Gesellschaft, er klagt sich hier wortlos selber aq: es ist meine Schuld, daß ich ohne Hoffnung lebe. Aber ein Recht auf die Fahne bleibt übrig. Ich hasse Amerika-wegen seiner millionenfachen Fahne.

Im Gegensatz zum wirklichen Elend das verschleierte Elend der Urteilslo­sigkeit. Fast keiner, der in Amerika ge­boren wurde, darf sich sicher fühlen im Sattel seines Geschmackes, seines Wis­sens, seines Stils. Also wurde die Abwe­senheit dieser Werte zur nationalen Tu­gend erklärt, der Bankier legt die Füsse auf den Tisch. Dennoch steht die ge­priesene Etikettelosigkeit auf schwan­kenden Beinen: warum lebt die Wer­bung in der Mode, in der Gastronomie, in der Kunst, sogar im Fahrzeugbau, vom vagen Begriff „europäisch“? Wer seiner Sache so sicher ist, muß doch nicht „wie“ sein wollen: wie in Europa. Ich liebe die Anspruchslosigkeit Ame­rikas. Es ist so einfach, die Menschen hierzu befriedigen. Esistumsoeinfacher, weil sie nicht wissen, daß es über er­füllte Bedürfnisse und Wünsche hinaus etwas Höheres gibt: das sogenannte Glück. Sie verlangen nicht nach dem Glück, wenn sie auch gern das Wort verwenden; sie sind somit pragmati­scher als wir Europäer: sie fordern das Erreichbare nur.

In Amerika war ich nie Literat, son­dern ein übler Versager oder ein Dich­ter. Ich bin meinen Menschen nicht im­mer treu gewesen, aber ich wurde nicht verstanden: das fordert zur Untreue heraus. Nach Europa auf Dauer zu­rückgehen .. . wer weiß? Europa quält mich sogar in den Briefen, die es mir nachschickt: „ ... wenn ich deinen Schmerz lindern kann, will ich gern zu dir kommen ..." Nein danke, solcher Trost schmeckt nach Nekrophilie.

Ich bin ein anderer geworden. Was ich früher entscheidend abgelehnt, ja bekämpft hätte, vermag ich jetzt zu er­tragen, sogar vergnüglich zu finden. Eine Party beim farblosen Nachbarn, ein Fernsehabend, ein Hamburger- Lunch. Bin ich so sehr im Niveau ge­sunken, oder hat sich bloß mein Hori­zont erweitert? Bin ich noch Mensch, oder bin ich nur Konsument? Soll ich in Amerika bleiben, oder augenblicklich abreisen? Doch sehe ich in Europa, von den schönen Bauwerken abgesehen, keinen Vorteil gegenüber Amerika. Hinter den Kulissen werden wir alle zu Sklaven der Begierde, unterschiedslos. Amerika mit seinen gläsernen Herbst­tagen hat meiner grellen Fantasie die herrlichsten Paläste aus Tollheit ge­schaffen.

Und immer mehr beschäftigt mich die eklatante Gutmütigkeit aller Men­schen. Ich verstehe das nicht. Sie lassen sich ausnützen, oft sind sie kostbar schön und jung, und geben trotzdem das Kostbarste weg: ihre Zeit, nur um bescheiden und kleinlich „leben“ zu können. Ich hasse Amerika, weil es die Menschen so maßlos ausnützt. Warum revoltieren die Massen nicht gegen diese gemeine Ausbeuterei? Diese Nar­ren halten ihr Sklaventum für ihre Pflicht und ihre Chance zugleich. Aber das Klügerwerden, und damit der Auf­stand muß und wird kommen. Die Klei­nen werden ihre Sonne fordern, und sich nicht länger mit Neonröhrenlicht zufriedengeben. Nirgendwo sonst in der Welt scheint mir eine Revolution unausbleiblicher als in Amerika, wenn mich auch jeder wegen dieser Einsicht verlacht. Ich liebe und hasse Amerika wegen seiner Gewitterstimmung, die je­der für blauen Himmel hält.

Zurück zum Haß und zur Liebe, den Antipoden, den rhetorischen Säulen, von denen man leichthin sagt, daß sie zusammengehören. Zurück zu den Rätseln der Abendröte, meiner Über­zeugung, daß es sich in Amerika leich­ter stirbt als in Europa, zurück zur tröstlichen Wärme der bitteren Ein­sichten. Ich liebe Amerika, weil es ei­nem die Sinne verwirrt. Ich war in New York, um Freunden aus Frankreich die Stadt zu zeigen. Natürlich bestanden sie darauf, das Empire State Building zu besteigen. Wir gingen um die vergit­terte Plattform herum, und ich streckt die Arme aus und sagte: „Hier ist dies.... hier ist das ..." Zugleich aber fühlte ich ein'mystisches Gebor­gensein auf diesem hundertsten Stock­werk. Ich zeigte den alten Freunden meine Stadt. Es wäre sinnlos gewesen, über diese Empfindung zu sprechen. Aber ebenso unmöglich wäre es, dieses Gefühl als lächerlich abtun zu wollen. Ich bin unter einer tausendjährigen Festung geboren worden, in einem sechs Jahrhunderte alten Patrizierhaus. Ich liebe den Kult der Allerseelentage, ich leide unter seichter neuer Musik. Aber ich fühle mich daheim auf der A ussichtsterrassedesEmpireStateBuil- ding: es war ein langer und doch kür­zester Weg. Die Ebenen New Jerseys zur einen, die Beengtheit des East River und Queens’ auf der anderen Seite, um­schließen eine gewaltige Stadt, die als Tänzerin den schweren Vogel Amerika mimt. Die Schwingen tragen das Ge­wicht, es sind nicht die Stürme, die mit Widerständen spielen, sondern die Wi­derstände, die mit den Stürmen und Vögeln scherzen.

„Ich liebe Amerika, wo meine Toch­ter geboren wurde“, sagte ich zu den Franzosen, „meine Tochter darf sagen: Dieses Land gehört mir. Meine Tochter wird später einmal nach Europa reisen und lächerlich ernsthaft überall stau­nen: how small, how cute! Ich aber habe es nicht so leicht. Ich muß mein Janusgesicht durch die verschlafenen Tage und die hellwachen Nächte tra­gen.

enn ich am Strand zum Atlantik stehe, sehe ich im Dunst mein Europa, und wenn ich im alten Europa bin, weiß ich: drüben atmet man besser. So werde ich wohl noch tausendmal über den breiten Atlantik fliegen, -der von Reise zu Reise breiter wird -, und das Fliegen wird täglich gefahrloser. Also werde ich hier oder drüben sterben: keine Lösung ist ideal. Warum sich das Thema Ame­rika meinem Leben aufdrängt, das weiß ich nicht. Es hat jedoch nichts mit Wahl zu tun, sondern gewiß mit derselben Kraft, die den Kompaßnadeln und den wandernden Vögeln ihre unstete Treue verleiht.

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