Gotteskrise oder: Wo bleibt Gott?

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Joseph Kardinal Ratzinger: Lieber Herr Metz, Sie haben ein großes Stichwort ausgegeben mit dem Wort "Gotteskrise" - ob es besonders glücklich formuliert war oder nicht, darüber hat gar keinen Sinn zu streiten, wir wissen alle, was Sie meinen.

Johann Baptist Metz: Nein, nein. Sie vielleicht, verehrter Herr Kardinal.

Ratzinger: Sie werden es noch erläutern, ich glaube jedenfalls zu verstehen, was Sie meinen: daß das Gottes-Thema in seiner ganzen Größe, in seinem Anspruch, in seiner Herausforderung, in seiner Not die Mitte ist; und daß alle anderen Krisen sich letztlich nur von daher erklären, und auch - wenn überhaupt - nur Antwort finden können, indem wir an diesem Punkt neu ansetzen, wobei ich auch als besonders wichtig empfinde, daß Sie da die eigene Sprache des Vatikanum I wieder herausstellen, das sozusagen aus dem inneren Zirkel des Christentums auszubrechen versucht und unser gemeinsames Gott-Ausgesetzt-Sein wahrnehmen möchte.

Aber meine Frage ist die: Sie haben uns dieses Stichwort gegeben, das ich für unerhört wichtig halte. Nun kam mir aber vor, daß eigentlich im praktischen Durchführen Ihrer Thematik das Gottes-Thema nicht so anwesend war, wie ich es erwartet hätte.

Metz: Vielleicht steht die Theologie selber im Schematismus, in den Zwängen dieser Gotteskrise drinnen, in ihren Aporien, die schon sehr ernst gemeint sind. Ich habe das Wort benutzt, nicht um von der Kirchenkrise abzulenken, sondern um aufmerksam zu machen, das hinter ihr eine Krise steht, die wahrscheinlich als tiefer und radikaler zu bezeichnen ist. Nun hat man mir gesagt, Kirchenkrise wäre eine Glaubenskrise - da wollte ich gegensteuern: Wenn es um Gott geht, geht es nie bloß um die Glaubenden. Da geht es um die Welt im Ganzen. Das Krisensymptom in unserer Weltwahrnehmung ist meiner Ansicht nach: Wir wandern immer mehr hinein in ein Weltbild ohne Finale, und in der kritischen Kraft, sich dem zu widersetzen, ist immer von Gott die Rede. Ich meine, daß wir heute mitten in einer Umbruchsituation stehen, ich nehme die Metapher "Postmoderne" sehr ernst. Mir geht es letztlich darum, den Menschen sichtbar zu machen, daß man heute klar von einem Weltbild mit Finale sprechen kann, ja muß, und daß man das nur aus den Gottes-Traditionen vermag, wenn ich recht sehe.

Wichtig scheint mir für eine gewisse Zurückhaltung in der Gottes-Rede selber - und das liegt mir besonders am Herzen - die Theodizee-Frage (Wie kann ein gerechter Gott Leid zulassen? Anm.): Herr Kardinal, Sie haben für mich sehr verständnisvoll Zusammenhänge zum Zeitthema erläutert und haben dabei gegen den Autonomie-Begriff polemisiert. Ich auch übrigens, deswegen sind wir in gewissen Gegenden der deutschen Theologie nicht sehr angesehen. Autonomie ist ja heute ein Kultwort. Ich frage mich, ob wir hinreichend bedacht haben, daß wir da auch mit dran schuld sind: daß sich die moderne Freiheit als Autonomie ausgelegt hat. Ich sehe das so, daß das am nichtzureichenden Umgang mit der Theodizee-Frage lieg und daß das vom - Ihnen weit mehr als mir vertrauten - Augustinus herkommt. Die augustinische Lösung mit all ihren Aporien wurde ja in unsere Zeit hineingeschleppt; sie aber meint im Grund genommen, das Leid der Welt sei durch die Schuld der Menschen, inklusive Erbsünde und Prädestination, hervorgerufen. Augustinus sagt das, gegen Marcion und die Gnosis, weil er jeden Dualismus in Gott vermeiden will. Aber was bei der augustinischen Lösung der Frage "Gott und Leid" meines Erachtens falsch akzentuiert wurde, ist, daß wegen des Unmaßes an Leid in der Welt die Schuld der Menschen so riesig sein muß. So ist im Verlaufe der Theologie-Geschichte eine Überforderung des Menschen, ein Sünden-Absolutismus entstanden. Und wenn jetzt in der Moderne sich Freiheit artikulieren wollte und artikuliert hat, dann hat sie sich gegen diesen Sünden-Absolutismus artikuliert, autonom gemacht. Und deswegen läßt sich die Moderne - Postmoderne von der Heils- und Gottesgeschichte nicht mehr berühren. Wir sind erneut als Theologen aufgefordert, die Zusammenhänge, die Relationen zwischen Leiden und Schuld akribisch theologisch zu untersuchen; alles was ich von Jesus gelernt habe - nicht als Exeget, als Systematiker -, ist: Jesu Blick auf einen Menschen galt in erster Linie nicht seiner Sünde, sondern dem Leid des anderen.

Im Christentum gibt es eine Über-Moralisiertheit des Menschen, auf die wir genau zu achten hätten. Die Theodizee-Frage ist im Christentum stark zu machen, selbst wenn sie ihren aporetischen Charakter beibehielte und letztlich in den stummen ergebenen Schrei des Hiob erstarrte. Es gibt in unserer Zeit ungeheuer viel Schreie in der und aus der Menschheit. Auch außerhalb der Kirchen, genauso, wie es viele Gebete aus der Menschheit gibt, auch außerhalb der Glaubensgemeinschaften. Die Glaubenssprache und die Gebetssprache sind ja oft nicht identisch. Die übliche Vorstellung ist, daß nur der Glaubende bete, und daß das Gebet die intensivere Form von Glauben sei; was ist, wenn man diese Vorstellung preisgibt und sich fragt, ob nicht Beten weiter verbreitet sein könne als der Glaube? Stellen Sie sich vor, Beten würde heißen: Gott um Gott bitten! Dann würde ich fragen, wer von uns, sehr verehrter Herr Kardinal, Sie eingeschlossen, kann sich da bei aller Kompetenz zutrauen, zu sagen, wo eine Sprache der Menschenkinder anfängt und wo eine Sprache der Menschen aufhört, in der sie Gott um Gott bitten. Und diese Spurensuche in Richtung der Sprache der Theodizee ist mir ein ganz wichtiges Anliegen, weil ich glaube, daß wir da eine Bringschuld für die Menschen haben, so wie wir selbst mit der Leidensfrage umgegangen sind. Daher meine ich, daß man dieses Insistieren auf Autonomie historisch und im Blick auf das Christentum sehen müßte.

Ratzinger: Ja, Sie haben einen großen Bogen gespannt, und mehr als Theoretisches, unser Herz Bewegendes gesagt. Jesus sagt uns, im Gebet nicht zu bescheiden zu sein, Gott ist die eigentliche Gabe, um die wir im Gebet bitten sollen, womit wir wieder bei der Zentralität des Gottesthemas sind.

Ich möchte zweierlei tun: eine Andeutung zu den großen Fragen, die Sie gestellt haben, geben und zweitens meine vorige Frage noch etwas konkretisieren.

Was die moralische Überanstrengung der christlichen Botschaft angeht, glaube ich in der Tat, daß es eine moralische Überanstrengung des Christentums gibt, eben weil es die Botschaft von Gott ist, die Bezeugung, daß er selbst ein Handelnder ist. Im Grunde steckt etwas vom Deismus in uns allen: daß wir uns Gott nicht mehr als ein wirkliches, handelndes Subjekt in der Geschichte - vielleicht noch eher im Subjektiven, aber dann eben nur im Subjektiven - vorstellen. Wenn das geschieht, wenn wir letzten Endes nicht mehr annehmen, daß Gott wirklich in die Geschichte hereintritt und auch mit allen Naturgesetzen und allem was wir wissen und können dennoch das Subjekt der Geschichte bleibt, handelnd in der Geschichte bleibt, wenn wir ihn zu einem unbestimmten Horizont umwandeln, der irgendwie das ganze feierlich abschließt, dann handeln eben nur wir. Dann liegt die ganze Last des Guten und des Bösen ausschließlich auf uns. Dann nimmt der Moralismus, die moralische Anforderung an den Menschen eine Form an, die erdrücken muß, die wir dann letztlich auf Gott zurückführen und gegen die wir revoltieren. Diese Scheu davor, Gott selber als Handelnden zu erkennen, hat zu dieser Überlastung des Menschen geführt, deren Konsequenzen wir sehen und auch täglich in unseren Mühen, Christen zu sein, wahrnehmen.

Deswegen scheint es mir so wichtig zu sein, wieder zu hören, daß Gott selber uns anredet und sagt: Deine Sünden sind Dir vergeben. Daß Gott in der Tat etwas vergeben machen kann, als ob es nicht gewesen wäre, daß es seine Gegenwartsmacht verliert und ich neu vor ihm stehe - daß es wirklich das gibt, was Gnade heißt; und in dem Punkt, glaube ich, haben wir auch Grund, auf Luther zu hören, der gerade das stark erfahren hat, daß nicht nur der Anspruch an mich und mein Handeln da ist, und auch nicht nur der an die Menschheit oder an welches Subjekt auch immer, sondern daß vor allen Dingen eine Tat Gottes da ist und immer bereit steht und auch ruft und verwandeln kann. So würde ich sagen, daß die Überlastung nur dann so dramatisch wird, wenn das Wahrnehmen der Gnade Gottes, des hereingetretenen und mir gegenüberstehenden Gottes, sich verflüchtigt.

Ich denke schon, es muß dabei bleiben, daß Schuld aus Freiheit kommt; ob es andere Freiheiten als die des Menschen gibt, die da hereinwirken, brauchen wir hier nicht zu diskutieren. Aber das scheint mir doch wichtig, daß die Schöpfung vom Risiko der Freiheit geprägt ist, daß wir die Gottes-Logik nicht verstehen können, weil uns manchmal scheint, der Preis sei wirklich zu hoch gewesen, aber daß es eben den Grund des Bösen in der Tat im Menschen gibt. Leid wird dadurch unerträglich, daß es mit Unrecht und Macht des Unrechts zusammenhängt. Und so meine ich, daß bei Augustinus, obwohl ich ja nicht unbedingt ein Apologet des Augustinus sein muß, doch irgendwie die Dinge im Gleichgewicht sind, daß er die Macht der Schuld sehr stark herausgestellt hat, aber ihr nicht das letzte Wort läßt. Die ganzen "Confessiones" gehen eben darum, daß er eigentlich sich selbst nur ertragen kann und die unerträgliche Situation der Zerbrechung des römischen Reiches nur ertragen kann, weil er den Blick auf Christus hat und weil er weiß, daß unser Leid von ihm nicht nur angeschaut, sondern geteilt ist, und daß es eine für uns nicht nachrechenbare, aber doch wirkliche Macht Gottes, eine Macht des Erbarmens gibt, die uns dennoch leben läßt.

Meine Frage an Sie war: Ich wollte nicht irgendwelche Spekulationen über Gott provozieren. Sie haben zu Recht von der Wahrnehmung fremden Leidens gesprochen, die Christus uns vorlebt, indem seine Wahrnehmungsfähigkeit zum Mit-Erleiden wird, nicht zu einem leeren psychologischen attraktiven Mitleiden. Und da bewegt mich immer das Wort von Origenes: Gott kann nicht leiden, er kann aber mitleiden. Meine Frage war die: Sie haben von der Leidenswahrnehmung gesprochen. Zu Recht! Aber gehört zu diesem Gedächtnis nicht doch auch, daß wir den mitleidenden Gott - und insofern logisch nicht systematisierbar, aber uns doch im innersten treibend - wahrnehmen. Wenn wir nur das ungelöste Leiden wahrnehmen, kann nur der Schrei des Zornes übrig bleiben und die Verzweiflung an der Existenz. Wir können uns der Leidenswahrnehmung überhaupt nur aussetzen, weil in allen Leiden ein Mitleidender gegenwärtig ist. Wenn es das nicht gibt, dann muß man die Augen zumachen. Dann bleibt eigentlich nur der Weg des Buddha, der soviel Leid wahrgenommen hat, daß er die Augen schließen mußte und das auch allen anderen empfiehlt, um herauszusinken aus dieser unermeßlichen Kette des Leidens. Die Augen offenhalten können wir nur, weil in den Leiden Gott wahrnehmbar ist.

Metz: In meinen Überlegungen spielt ein Umgang mit Gott eine ganz große Rolle. Ich weigere mich, in Gott hinein das Leidensthema zu tragen. Aus meinen Erfahrungen heraus plädiere ich dafür, das Mysterium des Leidens dem Menschen zu lassen und es Gott erst gar nicht zu gönnen, und mit ihm im betenden Streit zu bleiben, der eigentlich nicht aufgehoben werden kann, auch wissend um den vergebenden Gott, natürlich. Ich halte mit Unerbittlichkeit an der Allmacht Gottes fest, die in unseren theologischen Diskursen allenthalben in Frage gestellt wird. Allmacht, dieses Prädikat muß weg, es stammt noch aus der stoischen Philosophie, wo Gott apathisch ist angesichts der von den Menschen tagtäglich empfundenen Leidensgeschichte. Die Macht Gottes, wie ich sie aus den biblischen Traditionen kenne, ist die, daß vor ihm auch die vergangenen Leiden nicht sicher sind. Es ist die Verquickung mit der Auferstehungsfrage und mit der Gerichtsfrage, die ich nur sehr vorsichtig angesprochen habe; die aber, so glaube ich, um das Pathos der Gottesgerechtigkeit im Spiele zu halten und um weder dem von ihnen angesprochenen Konzept des Marxismus noch dem Liberalismus nachzugeben, gegenüber dem reinen Freiheitsgedanken eine ganz große Rolle spielt.

Ich möchte nur noch sagen, daß das die kostbarste Bestimmung für die Gottesfrage ist, und daß die Theodizeefrage den Kummer darüber zum Ausdruck bringt, wie wenig Warten und Erwartung, wie wenig Neugier auf noch Unereignetes und Ungesagtes im Christentum da ist. Neugierde auf Gott, die wir brauchen würden, wenn wir davon ausgehen, daß es in jedem Falle ein Attentat auf Gott selbst wäre, wenn die Theologie versuchen würde, eine Rechtfertigungsformel für Gott angesichts der Leiden der Menschen zu finden und womöglich die auch noch doktrinell vorzutragen. Wenn es denn eine Rechtfertigung Gottes gibt, so lehrt uns doch alle biblische Tradition, daß Gott sich an seinem Tag selber rechtfertigt. Es geht angesichts der Situation, in der wir leben, bei der Gottesfrage nie bloß darum: Wer ist Gott? Wo ist Gott?, sondern vor allem auch darum: Wo bleibt Gott? Auch für das Christentum.

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