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Ohne Gebet stirbt Gott

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Wer kann heute noch beten? Auf welche Weise artikuliert sich der gläubige Mensch heute in seiner Beziehung Gott gegenüber und welchen Stellenwert hat dies für sein Leben in der Welt?

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Wer kann heute noch beten? Auf welche Weise artikuliert sich der gläubige Mensch heute in seiner Beziehung Gott gegenüber und welchen Stellenwert hat dies für sein Leben in der Welt?

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Eigenartigerweise kommen die Menschen am wenigsten zum Beten, für die das Gebet am wichtigsten wäre — nämlich jene, die mitten im Leben stehen, die Einfluß haben, die das öffentliche Leben in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Massenmedien gestalten. Und gerade sie brauchten das Gebet — für sich selbst, aber auch, um ihrer vielfältigen Verantwortung besser gerecht zu werden. Wobei im folgenden alles das „Beten" genannt wird, was die Beziehung zwischen Gott'und Mensch zur Sprache bringt und lebendig werden läßt.

Durch das Gebet wird die Welt anders. Es verändern sich auch jene Dinge, die auf den ersten Blick mit Gott nichts zu tun haben. Der betende Mensch sieht die ganze Welt in ihrer Bezogenheit auf Gott. Gott ist ja nicht etwas, das zur greifbaren und sichtbaren Welt hinzukommt, und das man ohne weiteres auch weglassen kann. Alles steht in Beziehung zu ihm, er ist Ursprung und Ziel. „In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir" (Apg. 17,28).

Durch das Beten, das sowohl die rationalen wie auch emotionalen Kräfte erfaßt, wird diese Sicht der Dinge zu einer erfahrenen Lebenswirklichkeit. Der atheistische Techniker wird viele Entscheidungen in gleicher Weise treffen wie der betende. Und trotzdem steht für den betenden Techniker dieses Ereignis in einem anderen Kontext, was dann mitunter auch eine Entscheidung

verändern kann, weil sich dadurch auch die Werte verschieben.

Der Dichter Martin Walser sagte anläßlich der Verleihung des Georg Büchner-Preises 1981 in einem Interview im ORF-Mittagsjournal: „Ein Gott, der nicht rettet, stirbt." Ein Gott, den der Mensch in seinem Leben nicht als rettend erfahren kann, verliert jegliche Bedeutung und stirbt.

Beten ist eine der wirksamsten Hilfen, daß Gott nicht nur irgendwie im Bewußtsein, sondern auch existentiell am Leben bleibt, und als ein Gott, der rettet, erfahren wird. Wer nicht betet, der muß damit rechnen, daß Gott für ihn zu einem bloßen Wort wird, von dem keine lebensgestaltende Kraft mehr ausgeht. Ein Gott aber, der nicht als bedeutsam im konkreten Leben erfahren wird, stirbt, auch dann, wenn an einem äußeren Bekenntnis festgehalten wird.

Beten kann nicht alle Glaubensprobleme lösen, mitunter verschärft es sie sogar, aber es ist eine wirksame Hilfe, daß Gott lebendig bleibt.

In der Tradition wird Beten auch definiert als das Atmen der

Seele. Atmen ist lebenswichtig. Ein Mensch, der nicht atmet, stirbt. Das würde bedeuten: wenn der Mensch nicht betet, dann stirbt seine Seele. Er verliert nach und nach nicht nur jenes schwer zu beschreibende Organ, das ihn aufnahmefähig macht für Gott, sondern auch das übrige Leben und die menschlichen Beziehungen werden seelenlos. Eine Erfahrung, unter der heute nicht wenige leiden. Der Mensch soll beten, um seine Seele nicht verkümmern zu lassen.

Nach dem Zeugnis der Bibel und vieler glaubender Menschen gibt es in der Schöpfung, in der Geschichte der Menschheit und im Leben jedes einzelnen Spuren und Zeichen der Anwesenheit Gottes und seines Wirkens. Viele übersehen diese Spuren oder können diese Zeichen nicht deuten. Das Organ, diese Spuren und Zeichen wahrzunehmen, ist unentf al-tet oder wieder verkümmert. Er lebt oberflächlich und diesseitig. Wer betet, bekommt einen Blick für diese tieferen Dimensionen des Lebens. Er kann immer besser dife Spuren Gottes erkennen und lesen. Er kann leichter die Zeichen der Transzendenz sehen und deuten. Er kann zumindest im nachhinein erkennen, daß Gott auch in seinem Leben anwesend und wirksam ist.

Das Leben des heutigen Menschen ist voll von Ereignissen, Begegnungen und Eindrücken. Er wird von allen Seiten umworben. Viele wollen ihn für sich oder ihr Produkt gewinnen. Gerade in dieser Situation braucht der Mensch die Gabe der Unterscheidung: Was ist wichtig? Was ist unwichtig? Er braucht einen Maßstab, mit dem er alles messen kann. Dieser verborgene Maßstab ist Gott. Im Angesicht Gottes ist es leichter zu erkennen, was wesentlich, was vergänglich ist. Wer sich im Gebet diesen Fragen stellt, wird dies erfahren.

Der Mensch wird immer mehr— durch die Fortschritte von Wissenschaft und Technik - zum Gestalter seiner Zukunft. Je umfassender die Möglichkeiten des Menschen werden, umso mehr Bedeutung hat sein Verantwortungsbewußtsein. Tatsächlich wird aber das Leben vieler Menschen - dafür gibt es unzählige Beispiele vom reinen Nützlichkeitsdenken bestimmt. Der

Mensch sollte beten, um sich mehr seiner Verantwortung bewußt zu werden, und zwar nicht nur seiner Verantwortung vor sich selbst oder vor den Mitmenschen, sondern auch vor Gott. Ethik und Religion sind eng miteinander verbunden. Das Gebet verstärkt das Verantwortungsbewußtsein.

Unzählige Ereignisse können das Leben des Menschen belasten, in Frage stellen und ihn zu entwurzeln drohen. Um standhalten zu können, braucht er einen festen Halt. Viele Menschen fanden und finden diesen Halt im Gebet. Das Vertrauen auf Gott, auch wenn man seine Fügungen zeitweise nicht versteht, kann den Menschen vor der völligen Entwurzelung bewahren und wieder Mut und Kraft zum Leben geben. Die Gebete aller Religionen bezeugen dies.

Schließlich sollen wir beten, um Gott die Ehre zu geben. Das „Vater Unser" beginnt nicht mit der Bitte „Unser tägliches Brot gib uns heute". Es beginnt nicht einmal mit der Bitte „Dein Reich komme" sondern mit „Geheiligt werde dein Name".

Es ist sehr entscheidend für das Leben, wem der Mensch die Ehre gibt: dem Konsum, der Leistung, der Macht, sich selbst oder Gott. Wer Gott als Gott anerkennt, ihm die Ehre und Anbetung gibt, -die ihm gebührt, erkennt leichter seine eigene Bestimmung, und wird auch leichter sein Leben ordnen. Wir müssen also auch beten, damit Gott jenen Platz einnimmt in unserem Leben, der ihm gebührt, damit nichts—kein Götze—an seine Stelle tritt. Wer das tut, der wird sich auch an Gott freuen, ihn loben und preisen. Und wer Gott lobt, wird auch seine Schöpfung bejahen.

Der Autor ist Geistlicher Assistent der Katholischen Aktion Österreichs.

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