Als Kind wurde mir das rituelle Gebet so beigebracht, dass es an erster Stelle um die richtigen Bewegungen geht und um das, was man bei jeder Bewegung sagt: Beim Stehen muss zuerst diese und danach jene Sure rezitiert werden, dann folgen beim Verbeugen drei Mal Gotteslobpreisungen usw. Wenn mich damals jemand gefragt hätte: „Warum betet ein Muslim fünf Mal am Tag?“, wäre meine Antwort gewesen: „Weil das Gebet eine religiöse Pflicht ist. Gott hat uns befohlen, fünf Mal zu ihm zu beten.“
Es ging also um die Erfüllung einer Pflicht und um die richtigen Bewegungen, damit Gott das Gebet annimmt. Wenn man damals als Kind bzw. junger Mensch nicht gebetet hat, hatte man einerseits ein schlechtes Gewissen gegenüber Gott, andererseits hat einen die Angst vor dem Zorn Gottes begleitet. Daher hat man sich vertröstet: „Später, wenn ich alt werde, werde ich regelmäßig beten, dann wird mir Gott meine heutigen Versäumnisse vergeben.“ Nur der Tod hätte einem einen Strich durch die Rechnung machen können, daher auch die panische Angst vor dem Tod und somit der Begegnung mit einem zornigen Gott.
Heute weiß ich, dass weder Gott noch der Mensch irgendetwas von so einem falsch verstandenen Gebet hat. Dennoch kann das Gebet zu einer besonderen Begegnung mit sich selbst, aber auch mit Gott führen. Allerdings nur dann, wenn das Gebet mit einer Haltung des in sich ruhenden Betenden verrichtet wird. Das Gebet bleibt aber mehr als eine Meditationsübung, denn diese Erfahrung der Suche nach der inneren Ruhe im Gebet findet im Zwiegespräch mit einem Gott statt, der seine hütende geistige Hand dem Betenden ausgestreckt entgegenhält und ihn zum vertrauensvollen Fallenlassen in seine Hände der Liebe einlädt. In diesem Moment des Betens bleibt die Welt für einen Augenblick stehen, denn es geht jetzt nicht um den Alltagsstress, sondern um die innere Ruhe als Erfahrung der Selbstwertschätzung.
Der Autor leitet das Zentrum für Islamische Theologie an der Uni Münster.
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