Hoffnung wider alle Hoffnung

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In der Bibel begegnet man auf Schritt und Tritt der Erfahrung, dass Gott auch Leiden zufügt. Doch Gott leidet selbst: Nachfolge heißt für Christen, dass sie bei Gott in seinem Leiden stehen.

Weshalb lässt Gott leiden? Warum lässt er Erdbeben und Kriege zu, wenn doch angeblich Krieg nach Gottes Willen nicht sein soll? Sind ihm denn etwa die 200.000 Erdbebentoten auf Haiti, die verwaisten Kinder und die Überlebenden, die alles verloren haben, gleichgültig? Manche wenden ein, dass Gott das Leiden nicht will, sondern lediglich zulässt. Aber muss man nicht sagen, dass Gott auch Leiden zufügt?

In der Bibel begegnen wir dieser Überzeugung auf Schritt und Tritt, nicht nur im Buch Hiob. Die Psalmen sind voll von Klagen an die Adresse Gottes, der die Menschen heimsucht und prüft. Oft wird das Leid als Strafe Gottes gedeutet, der denen barmherzig ist, die ihre Sünde bekennen. Doch wir finden auch die Klage über das unverstandene Leid von Betern, die sich keiner Schuld bewusst sind. Psalmen schildern die Erfahrung, dass Gott regelrecht gegen einen Menschen wütet.

Psalmen: Gott wütet auch gegen Menschen

Beim Propheten Jesaja lesen wir, dass Jahwe, der eine und einzige Gott, Schöpfer und Erhalter der Welt, keineswegs nur das Licht erschaffen hat, sondern auch die Finsternis. Er gibt Frieden – und schafft Unheil (Jes 45,7). „Ist etwa ein Unglück in der Stadt, das der Herr nicht tut?“, fragt der Prophet Amos (3,6). Der biblische Gott schafft und schenkt nicht nur das Leben, sondern schickt auch Krankheit und Tod. Auch Behinderungen, z. B. Gehörlosigkeit oder Blindheit werden auf Gott zurückgeführt (2 Mose 4,11).

Es drängt sich die Frage auf, warum Gott überhaupt eine Welt erschaffen hat, zu der die Realität des Leidens gehört; eine Welt, in der es schöpfungsgemäß Krankheitserreger und zerstörerische Naturgewalten gibt, ferner das harte Gesetz der Natur, wonach Leben immer nur auf Kosten anderen Lebens entstehen und existieren kann, das Gesetz des Fressens und Gefressenwerdens.

Die Urform des Leidens ist letztlich das Gegebensein unseres Lebens an sich. Niemand kann sich das Leben selbst geben, wir können es nur empfangen. Im Empfang des eigenen Lebens sind wir radikal passiv. Auch wenn wir unser eigens Leben bejahen und lieben, ist der Empfang des Lebens doch kein eigenes Tun, sondern ein Erleiden. Passivität und Passion gehören wesensmäßig zur Endlichkeit unseres Daseins.

Nun ist es aber nicht Gott, sondern es sind die Menschen, die willentlich und aus Bosheit Leiden verursachen und einander zufügen. Die Frage, warum Gott leiden lässt, wendet sich letztlich gegen uns selbst: Weshalb lässt Gott die Menschen weiter existieren, obwohl ihr Trachten böse ist? Die radikalste Lösung, das Leid abzuschaffen, wäre, die Menschheit zu vernichten. Diesen Gedanken spielt die Sintfluterzählung durch. Doch fällt sich Gott selbst in den Arm, weil er nicht aufhört, die Menschen trotz ihrer Sündhaftigkeit zu lieben. Doch lässt er damit auch zu, dass weiter von Menschen Leid ausgeht.

Vier Antworten auf die Frage nach dem Leid

Auf die Frage, warum Gott leiden lässt, gibt es im Alten und Neuen Testament vier weitere Antworten. Erstens wird Leiden als Strafe gedeutet. Der Zorn Gottes und seine Rache, von denen in diesem Zusammenhang immer wieder gesprochen wird, sind jedoch nicht als Ausdruck von unberechenbarer Willkür, sondern als Metaphern für die Gerechtigkeit Gottes zu verstehen, die mit seiner Liebe zusammenzudenken ist. Gottes Liebe und Gerechtigkeit gelten den Schwachen und Unterdrückten, den Armen und Verlorenen.

Zweitens wird Leiden als Mittel der Läuterung, der Bewährung und der Reifung gedeutet. Leiden und Bedrängnis bringen, wie Paulus schreibt, Geduld, Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung, die ganz auf Gott vertraut und nicht zuschanden werden lässt (Römer 5,4–5).

Drittens gibt es das Leiden der Gerechten, die wegen ihres Glaubens und ihrer Treue zu Gott und seinen Geboten Verfolgung und Anfeindungen zu erleiden haben. Davon handeln viele Psalmen. Die Glaubenden leiden in diesem Fall nicht an den Leiden, die Gott Menschen zufügt, sondern an den Leiden, die von Menschen verursacht werden und gerade aus der Abkehr von Gott und Feindschaft gegen ihn resultiert.

Das Neue Testament formuliert nun aber den Gedanken, dass Gott nicht etwas nur leiden lässt, sondern dass er selbst leidet und am Kreuz Christi die Leiden der Welt auf sich genommen hat. Die vierte Antwort der Bibel auf die Frage auf, warum Gott leiden lässt, lautet nun: Das Leiden gehört zur Christusnachfolge. Der Glaube führt zur Teilhabe an den Leiden Christi.

Die Passion Jesu ist erst dann verstanden, wenn sie als Passion Gottes begriffen wird. Es verhält sich also nicht so, dass Gott einen anderen an seiner Stelle leiden lässt, sondern sich selbst in das Leiden begibt, um gerade so die Welt von allem Leiden und aller Schuld zu erlösen, die nicht von Gott, sondern vom Menschen verschuldet werden.

Gottes eigene Leidensfähigkeit resultiert aus seiner Leidenschaft für seine Schöpfung und den Menschen. Sie ist Passion im doppelten Wortsinn. Leidenschaft gehört zum Wesen der Liebe, die nicht ohne den Anderen sein kann und will. Liebe ist darum auch stets eine mögliche Quelle von Leiden und nur dann tief und echt, wenn sie sich auch im Leiden und Mitleiden mit dem Anderen bewährt.

Von der Liebe sagt das Hohelied, sie sei stark wie der Tod. Die Weltliteratur ist voll von Geschichten über Liebende, die einander treu bis in den Tod sind oder dem Geliebten in den Tod folgen. In diesem Sinne ist auch die Passionsgeschichte in den Evangelien eine Liebesgeschichte. Sie erzählt von dem menschgewordenen Gott, dessen Liebe zu den Menschen nicht nur stark wie der Tod, sondern letztlich stärker als dieser ist.

Die Passion Jesu: eine Liebesgeschichte

Wer an diesen menschgewordenen, gekreuzigten und auferstandenen Gott glaubt, dem bleiben weder Leiden noch der Tod erspart. Aber er findet nun Gott selbst noch im tiefsten Leiden und lebt aus der Gewissheit, dass uns weder Tod noch Leben von der Liebe Gottes scheiden können (Röm 8).

Von der Betrachtung des Gekreuzigten gehen gleichermaßen Erschrecken und Trost aus: Erschrecken über das Ausmaß an Gewalt und Leiden, die nicht selten im Verborgenen geschehen und auf Golgatha ans Licht gebracht werden. Trost darum, weil Christus unsere Leiden teilt und uns in dem beisteht, was er selbst an Leiden und Versuchungen durchgemacht hat.

Nachfolge bedeutet, wie Dietrich Bonhoeffer geschrieben hat, dass Christen bei Gott in seinem Leiden stehen. Und das heißt eben auch: denen beistehen, die leiden müssen. Mitleid und Solidarität mit den Schwachen, den Entrechteten und Verzweifelten kennzeichnen das Ethos des christlichen Glaubens. Dazu gehört aber auch die Entschlossenheit, gegen die Ursachen von Leiden zu kämpfen. Leidenssucht und Verklärung von Leiden sind eine Perversion des Glaubens.

Mitleiden heißt außerdem, der Versuchung zu widerstehen, alles Leiden erklären zu wollen und ihm eine positive Bedeutung zu unterlegen. Konkretes Leiden lässt sich auch nicht immer dadurch bewältigen, dass der Leidende seine subjektive Einstellung zum konkreten Leiden verändert, sodass er es vielleicht nicht mehr so stark empfindet. Auf die existenzielle Frage: „Warum gerade ich? Warum nicht ein anderer?“ oder auch: „Warum ausgerechnet Du? Warum nicht z. B. ich?“ bekommen wir nicht immer eine Antwort. Zum echten Mitleiden gehört auch, die Ratlosigkeit zu ertragen und in der Klage vor Gott zu tragen. Dass Gott am Ende der Zeiten alle Tränen abwischen wird, und dass kein Leid, kein Geschrei und kein Schmerz mehr sein wird (Offenbarung 21,4), bleibt eine Hoffnung wider alle Hoffnung.

* Der Autor leitet das Inst. f. System. Theologie an der Evang.-Theol. Fakultät Wien

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