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„Dear God, I love...

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Es ist Eigenart eines großen Werkes, bei den Menschen so zahlreichen und verschiedenartigen Widerhall zu wecken, als es Geister und Herzen auf der Suche nach der Wahrheit gibt. Sie alle entdecken in ihm irgendeine Idee oder ein Gefühl, wie sie es selbst nicht mit solcher Klarheit, Kraft oder Kunst auszudrücken vermocht hätten. Dieses Entdecken ist es, was nach Charles Morgan in uns einen inneren Strom zum Fließen bringt, der dem hohen Meer zueilt, dem Symbol der Wahrheit und des Lichtes.

Graham Greenes Roman „Das Herz aller Dinge“, 1948 in England erschienen, hat alsogleich unendliche Diskussionen über die möglichen Interpretationen ausgelöst. Begeisterung und Entrüstung haben in den englischen Zeitungen und Zeitschriften miteinander rivalisiert, was dem Buch eine große Bekanntheit verschaffte. Irland hielt es anfangs sogar für gut, den Roman zu verbieten, doch später wurde die' Zensur aufgehoben. Warum diese Aufregung? „Brighton Rock“ und „Die Kraft und die Herrlichkeit“ hatten uns doch bereits in die Welt von Graham Greenes Werk eingeführt. Der Bandenführer Pinkie und der als Märtyrer sterbende Schnapspriester kündeten Scobie an und bereiteten auf ihn vor. Soll es sich hier wieder um ein zwielichtiges Werk handeln, das aus dem Helden, ganz nach Belieben des Lesers, einen Verdammten oder einen Heiligen macht? Das glauben wir nicht.

Ohne Zweifel führt uns das „Herz aller Dinge“ in den Bereich des Geheimnisses, in das Mysterium. In das Geheimnis eines unglücklichen und stets nach Glück dürstenden, eines geistigreligiösen und doch vom Bösen fortgerissenen Menschen; und auch in das Geheimnis eines Gottes, der den Namen der Liebe trägt und doch seine Geschöpfe vom Übel und Bösen quälen und entstellen läßt, bis dorthin, wo Er es sogar zugibt, daß sie seiner Liebe verlorengehen. Das düstere Bild, das hier der Autor zeichnet, seine tiefgründige Analyse des menschlichen Gewissens, die auf die Person des Scobie eine eigenartige Klarheit wirft, lassen uns den inneren Weg eines Gewissens in die Krise folgen und die Endentscheidung, soweit das möglich ist, interpretieren versuchen.

Henry Scobie ist während des Krieges Polizeikommissär in einem westafrikanischen Hafen. Sein Sinn für Gerechtigkeit trägt ihm den Beinamen „Scobie der Gerechte“ ein. Zwei Gefühle herrschen in diesem Manne vor: sein ausgeprägtes Bewußtsein der Verantwortung für den Nächsten und ein unsägliches Mitleid für die Unglücklichen. So genießt er der inneren Harmonie und des Friedens, was er für das höchste Gut hält. Seine Frau Louise, eine junge, unangenehme Kokette, verreist, um im Süden ihre Gesundheit wiederherzustellen und um zu vergessen, daß ihr Gemahl aus der Beförderungsliste gestrichen sein soll, was ihr eine schmerzliche Demütigung bedeutet. Scobie verliebt sich, allein geblieben, in eine junge neunzehnjährige Witwe Helene Rolt, die eine eben erfolgte Torpedierung ihres Schiffes in Einsamkeit und Leid gebracht hat. Sein Mitleid geht in Leidenschaft über und er begeht Ehebruch. Die Monate vergehen — Louise kündet ihre Rückkehr an. Scobie glaubt nun beide Frauen zu lieben und hält sich für ihr Glück verantwortlich. Von dieser doppelten Verantwortung und dem doppelten Mitleid zerrissen, entscheidet er sich in einem tragischen inneren Kampf — er ist ja Katholik — Gift zu nehmen und so, gegen sich selbst und gegen Gott, das Glück beider Frauen zu sichern.

Eine wesentlich religiöse Tragödie! In einer geraden, lebendigen, aller Kunstgriffe baren Sprache baut Greene fortschreitend die dunkle Szenerie einer Welt des Elends, der Sinnlichkeit, der Begierde und der Verzweiflung auf. Es gibt niemanden, der nicht mit irgendeinem Makel behaftet wäre. Jedoch die Figur des Scobie beherrscht die Szene. In und durch ihn verspüren wir Mitleid für die heruntergekommenen und leidenden Geschöpfe, das Problem des Bösen stellt sich uns wie ihm und unser christliches Gewissen wagt es kaum zuzugeben, daß Gott solche „fatale Situationen“ zulassen könnte, die aus Scobie bis zu einem gewissen Grad einen wissenden und willentlichen Kandidaten für die Verdammung machen.

Eine Analyse der Gefühle des Mitleids und der Verantwortung bei Scobie kann uns zu einer klaren Sicht in diesem letzten Roman Greenes verhelfen. Um diese Gefühle ging es dem Romancier, scheint uns, als er sein Werk entwarf und ausführte. Die Beziehung Scobies zum Nächsten ist vor allem die des Mitleids. In der Tat, er hat Mitleid mit seiner Frau, die er nicht gerade liebt. Er hat Mitleid mit dem Syrer Yusef, dessen völlige Korruption er kennengelernt hatte. Er hat Mitleid mit dem portugiesischen Kapitän, durch dessen Tränen gerührt, und verletzt seine Pflicht. Und er hat schließlich Mitleid mit Helene Rolt, und dieses Verhältnis führt die Endkatastrophe herbei. Woraus besteht nun dieses Mitleid? Er anerkennt selbst, daß es „die Intensität einer Leidenschaft“ erreicht hat. Er ist bis zum letzten Augenblick vom Mitleid beherrscht. Die französische Kritikerin Claude-Edmonde Magny glaubt hier einen allen Romanhelden Greenes' gemeinsamen Determinismus feststellen zu können. Was uns im Gegenteil auffällt, ist, daß sich Scobie dieser Leidenschaft und der Schuld, in die sie ihn verstrickt, immer klarer bewußt wird. Mitten im heftigsten inneren Kampf stellt er Überlegungen und verschiedene Wahlen an und legt den endlichen Entscheid fest.

Zwischen seiner Leidenschaft des Mitleids und seinem Pflichtbewußtsein entsteht der familiäre (Louise), der soziale (Helene) und der berufliche (Yusef und der Kapitän) Konflikt. Weil er Mitleid mit seiner Frau und mit seiner Mätresse hat, tritt er schließlich und endlich ab. Ja noch mehr, er hat sogar Mitleid mit Gott, weil er ihn nicht länger beleidigen will. So hat er Mitleid mit allen außer sich selbst und nimmt es auf sich, verdammt zu sein.

Sollte Scobie also das Opfer seiner heroischen Liebe sein? Das läßt sich wohl schwerlich behaupten. Er wird uns von Anfang an als ein ziemlich lauer Katholik geschildert. Wenn er sich auch im Augenblick der Krise der Forderungen seines Glaubens bewußt wird (wir erinnern an seine sakrilegischen Kommunionen), wie Pinkie in „Brighton Rock“ und der Priester in „Die Kraft und die Herrlichkeit“, so geschieht das nur, um darüber hinauszugehen. Noch mehr, er erkennt sich in seinem Mitleid mehr oder weniger schuldig, wie es ständig fortschreitend seine Integrität zerstört. Er gesteht sogar, daß er „seiner Religion müde“ ist und daß er sich darüber gar nicht sicher ist, ob er Glauben habe. Jene bekannte Beichtszene wirft ein schreckliches Licht auf sein Gewissen. Das Gewicht des Unglücks der andern wie das der eigenen Sünden hat sich Scobie entschieden allein zu ertragen. „Warum meine Last auf einen andern abschieben“, fragt er sich in Gegenwart des Priesters. Dann kommt ihm, auf das Kruzifix blickend, die Idee, daß Christus, der doch Gott ist, von Menschen gar nicht umgebracht werden konnte: Gott kann man nicht töten! So hat also Gott in seinem großen Mitleid mit den Menschen sich selbst getötet. Warum könnte also auch nicht er, Scobie der Verantwortungsbewußte, auf gleiche Weise das Heil jener wirken, die er liebt und die allein sein Tod, wie er meint, retten kann. Sein christliches Gewissen kämpft lange Zeit gegen diese Suggestion. In klaren Augenblicken gibt er sich trotz allem Rechenschaft, daß Selbstmord die Kapitalssünde ist, die die endgültige Trennung von Gott bedeutet. Indessen, seine Leidenschaft des Mitleidens für die Unglücklichen bestärkt ihn in seinem dunklen Entschluß: „Ich will nicht, daß sie unglücklich sind“, denkt er, „ich will nicht fortfahren, ihnen übel zu tun.“ Er rechtfertigt sich mit einem Blick auf Gott selbst: „Ich kann weder Helene noch Louise verlassen. Du hast meiner nicht so nötig wie sie ... Du kannst mich entbehren. Mein Gott, töte mich, bevor ich Dich wieder beleidigen muß!“ Der Kampf geht weiter: „Mein Gott, laß mich verstehen, daß ich wichtiger bin als dieses Kind (Helene), mach, daß ich meinem Seelenheil den Vorzug gebe.“ Dann, während ihm der Priester im Beichtstuhl die friedenbringende Lösung eingibt und hinzufügt: „Sie können nicht das Ziel wünschen, ohne die Mittel zu wollen“, denkt Scobie: „Man kann doch auch den

Frieden nach dem Sieg wünschen, ohne die Zerstörung der Städte zu wollen.“

Als er schließlich keinen andern Ausweg als den Selbstmord sieht, seufzt er: „Mein Gott, ich opfere Dir meine Verdammnis auf; gebrauche sie nach Deinem Belieben.“ Und der Unglückliche, von seinem Leid benommen, mimt in einer wahnwitzigen Vermessenheit die Erlöserhaltung Christi, um die Menschen von ihrem Leid, das sie bedrückt, zu erlösen. Doch- diese lächerliche Geste ist die der Verzweiflung und des Hochmuts. Sie bedeutet Verletzung der Rechte Gottes und Blasphemie. Sie ist an sich die ewige Trennung von denen, die er retten will. Diese Geste drückt Zumindestens auf eine sehr tragische Art das Leid einer vor sich selbst sündigen Seele aus, im Angesicht des Elends der Welt und voller Mitleid mit ihr, aber einer Seele, die für dieses Geheimnis des Leidens eine zu schwache Gottesliebe hat, eines allzu menschlichen Herzens und trotz allem einer eigenartigen Berufung für das Heil der andern; so ist sie das Spiegelbild der heutigen Seele.

Graham Greene nimmt sich nicht heraus, das Werk eines Theologen noch eines Moralisten zu schreiben. Er überläßt jeden von uns die Sorge, nach Lesen des Romans, das Gewissen Scobies mit unserm zu vergleichen und das eine durch das andere zu erhellen. Denn, wie uns der große englische katholische Romancier im Lauf einer Besprechung persönlich gestanden hat, war es Absicht, im Fall Scobie keine Lösung zu geben. Manche Kritiker Deutschlands wie Englands glaubten, in diesem Werk eine protestantische Haltung zu erkennen.

Zu Unrecht, wie uns scheint. Ohne Zweifel gibt es im Katholizismus weniger tragische und nur scheinbar überspanntere Aspekte. Claudel hat lie nach Franz von Assisi am wunderbarsten besungen. Doch ist diese Tragik der menschlichen Situation, wie bei Mauriac und Bernanos, das Zeichen einer Gegenwart, die uns um Grund unseres Elends einen Verzweiflungsschrei auspreßt. übrigens scheint uns Greene in der Art und Weise selbst wie er seine Personen analysiert, eminent katholisch zu sein. Das Geheimnis der Erlösung steht im Herzen des Werkes und gibt ihm den Titel. Greene leugnet nicht, daß der Mensch mithelfen kann an der Erlösung seiner Brüder. Die Sünde Scobies besteht nicht darin, daß er für sie ein großes Mitleid empfindet, sondern daß er es nicht mit dem göttlichen Quellgrund verbunden hat. Denn der Mensch vermag nur In dem Maß Miterlöser zu sein, als er sich selbst dem Geheimnis des Kreuzes Christi einverleibt, das allein die Quelle einer wahren Liebe ist. Scobie hätte zunächst die Souveränität Gottes über alle seine Geschöpfe anerkennen müssen. Denn Er, Gott selbst, ist es allein, der wahrhaft Mitleid mit den Menschen haben kann und sie ihrem Leid und Unglück zu entreißen vermag. Er allein kann sich voll und wirklich verantwortlich für die Menschen halten. Nur aus Mangel an Glauben an das Geheimnis der Liebe Gottes, die das Böse und das Leid in ihrer unergründbaren Vorsehung zuläßt, ist Scobie nichts weiter als eine nutzlos gequälte Seele, eine nur allzu menschliche Liebe bringt ihn nach und nach herunter und stürzt ihn schließlich in die Verzweiflung. Das Herz aller Dinge befindet sich weder im Geist noch im Herzen eines Menschen, sondern in der unendlichen, den menschlichen Geist übersteigenden Weisheit Gottes: es ist letztlich ein Geheimnis. Das bildet für Scobie den Stein des Anstoßes. Außerhalb Gottes kann der Mensch nicht lieben, ohne sich und die andern zugründe zu richten, weit entfernt davon, sie zu retten. Die „freie Liebe“ ist illusorisch und tödlich) allein die Liebe als Hl. Geist fließt in die Herzen und führt den Menschen zum Leben und verleiht Ewigkeit.

Was das Endurteil angeht, so steht uns das ebensowenig zu wie Graham Greene. Gott allein weiß, was sich im Gewissen eines Menschen begibt. Was geschah mit Scobie an der Schwelle der Ewigkeit? „Dear God, I love...“, seufzt er in seiner Agonie. Wollte er sagen: „Ich liebe... die unglücklichen Geschöpfe, die beiden Frauen, für die ich mein Leben hingebe, ohne jedoch auf Deinen Besitz verzichten zu können“, oder eher: „Guter Gott, ich liebe... alles, was verdient geliebt zu werden, Dich über alles, trotz meiner Torheit, und, durch Dich hindurch, das Elend und Leid der Menschen, das für mich das Geheimnis Deiner Gerechtigkeit und Deiner Liebe bleibt...?“

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