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Mibbrauch des Herzens

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Das Kennwort, in dem sich die mannigfache Gegensätzlichkeit des Heute sammelt, ist die Schwere der Zeit. Dasein unter Druck oder besser in der Bedrückung könnte man über jeden unserer Tage schreiben.

Niedergeschlagenheit scheint ein atmosphärisches Gift zu ein, das nahezu jeden Menschen berieselt. Es wird wohl kaum jemand geben, der dieser Intoxikation nicht irgendwann einmal in der gegenwärtigen Zeit verfallen gewesen wäre.

Die Psychiatrie beschreibt den Depressiven als einen Menschen mit ernstem, bekümmertem, versorgtem Gesichtsausdruck, der leise, eintönig spricht, leicht in Tränen ausbricht,' einen herabgekommenen Allgemeinzustand bietet. Dem traurigen Äußeren entspricht die Seelenlage. Die Stimmung ist niedergeschlagen, ernst, verzweifelt, mehr oder weniger ängstlich. Das Denken kreist unabhängig von der einmaligen Lage um bestimmte Inhalte, die sich um die Lebensund WirkunfKhigkeit des Betroffenen drehen. Bei alledem steht die eigene Person 'des Kranken stark im Mittelpunkt. Wenn wir die seelischen sowie körperlichen Symptome dieser Krankheit sammeln und auf einen gemeinsamen Nenner zurückführen wollen, kommen wir zu gewissen unteren Strukturgrundlagen und können erfahren, daß die jetzt noch einigermaßen unklare Deutung der Melancholie vielleicht einst nicht allein im Sprechzimmer des Arztes, sondern auch im chemischen Laboratorium gefunden werden dürfte. Wir haben es offenbar mit Krankheitsverlauf auf dem Grenzfelde zu tun, wo die verschiedenen Anteile des Menschlichen zur Einheit verschmelzen.

Doch wollen wir uns hier nidn mit,einem Krankheitsbild befassen, das in den Rahmen psychiatrischen oder nervenärztlichen Handelns gehört, sondern wir wollen uns fragen, warum wir beute mehr denn je unseren Stimmungen erliegen, warum das. was wir oben lehrbuchmäßig geschildert haben, doch beinahe jedem bekamt ist. der nichts; mit einer Erkrankung des Gemüts zu tun hat. Wir möchten zu erwägen versuchen, warum die Verzweiflung bis zum Lebensüberdruß der Kreis ist, in dem sich das Denken, Wollen und Fühlen so vieler Menschen verfängt. Es mag Verwunderung hervorrufen, daß diese Frage überhaupt gestellt wird. Sie beantwortet sich mit der Notlage, in der die Menschen augenblicklich zu leben gezwungen sind, meinen einige vielleicht. Darauf läßt sich erwidern, daß die Verhältnisse, die den Menschen umgeben, von ihm selbst gestaltet worden sind. Immer ist das Gesicht der Zeit der Spiegel des menschlichen Inneren, und wo wir heute noch Häuserruinen mit ausgebrannten Fensterhöhlen treffen, mögen sie uns Mahnmale dafür sein, daß sie nur infolge geistiger Leere und Herzcns.iusgehöhltheit einer vergangenen Epoche entstehen konnten.

Wenn uns heute nicht der rechte Lebensantrieb vorwärts- und emporträgt, wenn die Schaffenslust noch weitgehend darniederliegt, so wollen wir nach dem Sinn der Bedrücktheit fragen, der mit der körperlichen Unzulänglichkeit allein zu billig erklärt wird.

Die Sdiwermut war sonst nur die Grundhaltung einiger besonders veranlagter Menschen, heute scheint sie aber endemisch geworden zu sein, und wie der sinnerfüllte Name sagt, ist in diesem Zustand der Mut des Menschen besdiwert. Die tiefste Wurzel dieser Verstimmung ist eine geistige, und der Mensch wäre nicht vollseitig gesehen, wenn man die letzte Not der Seele nicht bis zu ihren geistigen Ursprüngen verfolgte. Im Tiefpunkt der Niedergeschlagenheit sitzt der Mensch im Grunde eines Schachtes von Traurigkeit, aus dem er nicht emporzuklimmen vermag, weil die Wände glatt sind. Er gleitet immer wieder auf den Grund zurück, wo kein Licht brennt, keine Hoffnung blüht. Der Mensch wird sich selbst zu nah. Seine eigenen Sprünge, seine Bruchlinien sieht er in der Schwermut vergrößert wie in einem Hohlspiegel. Sie ist im tiefsten das Leiden an der Grenze, an der Begrenzung des Menschlichen, des eigenen Selbst. Die sonst so dünn klingende Stimme des Gewissens wird vergröbert, wie durch einen Lautsprecher gehört, und daher legt sich um den Schwermütigen ein Netz der Unzulänglichkeitsempfindung, unter dem der Wagemut eingeengt ist. Der Mensch ertrinkt gewissermaßen in der Flut des eigenen Herzblutes, in dem mit seinem Leide das Leid der ganzen Welt angeschwemmt scheint. Denn in der Depression empfindet der Mensch eine vertiefte Verantwortlichkeit. Wie schon erwähnt, erlebt der Schwermütig^ die Forderung des Gewissens übersteigert und zieht in den Bereich seiner Zuständigkeit Abseitiges hinein, das ihn unablässig zu quälen imstande ist.

Aus der Nichtbewältigung gestellter oder vermeintlich gestellter Aufgaben wachsen Verzweiflung, Lebensüberdruß, Zusammenbruch. Die Verfangenheit in das, orgen-ümbrandete Ich reißt die Verbindung mit der Außenwelt ab. Die helfende Hand kann nicht ergriffen werden, weil sie unter dem dichten Gestrüpp der Lebensängste nicht gesehen wird. Über dem Moor dunkler Bedrängnisse der so stark empfundenen Unzulänglichkeit, der Ohnmacht dem robusten Leben gegenüber, tanzt das Irrlicht der Katastrophenlösung. Erst selten, dann immer öfter drängt sich als Kehrreim zur Unlustmelodie der Gedanke auf, es gäbe nur einen Ausweg und das ist der Tod. Auch wenn der Selbstmord nicht unmittelbar gesucht, sondern nur als letzte Lösung theoretisch in Betracht gezogen wird, so erzeugt doch eine solche Denk- und Gemütsverfassung eine bedrohliche Untergangstimmung, die allmählich den Lebenskern Versetzt, die Kraft aushöhlt und aufbauende Leistung unmöglich macht.

Fetzen dieser Schwermut wirbeln heute in der Luft. Sie fliegen den Menschen an, hemmen seinen Aufschwung, unterbinden die .Planung für die Zukunft. Das Herz wird versiegelt mit der . Hoffnungslosigkeit, gestanzt mit, dem Zeichen einer Ergebung, die nicht aus der Demut des Geprüften, sondern aus dem Hochmut des Erniedrigten gebildet ist. So gerichtet, bedeutet Schwermut ewas Lebensfeindliches und wird eine Krankheit zum Tode.

Dennoch ist der Ausgangspunkt der Schwermut etwas zutiefst Menschenwürdiges. Das Leiden an der Grenze und Begrenzung des Menschlichen liegt in der Mitte der menschlichen Existenz. Das Ungenügen an sich selbst ritzte die Schöpferhand in die menschliche Seele. Welchen Impfstoff diese kleine Wunde tragen soll, bleibt der Freiheit des Menschen überlassen. Aus der Impfung kann Bedrohung oder Beseligung hervorgehen. Das hängt davon ab, ob der Mensch diese Wunde wiederum mit sich selbst oder mit etwas Außermenschlichem, mit „dem ganz anderen“ impft.

Gerade am . Wertschaffen des Menschen wird das niemals ganz Vollendete menschlicher Leistung besonders deutlich. Denn die Unausschöpfbarkeit eines Kunstwerkes oder einer wissenschaftlichen Arbeit, das Nichtnachvollziehbare des jeweiligen schöpferischen Aktes, die Unerklärbarkeit der geistigen Eingebung tun kund, daß im wahrsten Sinne des Wortes für den Menschen Gegebenheiten vorhanden sind.

Das Gewahr werden der Grenze in der dunklen Beunruhigung der Schwermut beweist, daß es etwas jenseits der Grenze gibt, das hinüberruft in die Zone des Menschen. Auf dem Grunde der Niedergeschlagenheit, in der Leere des Ohnmachtsgefühles, in der Verkrampfung des Verscjalossenseins birgt sich ein Lebeaskeim. Das ist Sehnsucht, und zwar die echte, dem Menschen von Anbeginn geschenkte Sehnsucht, die die Nachbarschaft des Ewigen entzündet.

In der jüngst vergangenen Epoche waMiun zwischen das Ewige und den Menschen die Betonwand eines titanischen Selbstvertrauens nur sich selbst sehender Iche gewachsen. Allel Menschenmögliche war so überzeugend auf den Generalnenner faszinierender Technik gebracht, daß die Einheit der technischen Venmauerung für das Absolute gehalten wurde. Der Mensch dieser Welt kannte weder Sehnsucht noch Schwermut. Hingegen kannte er den Rausch über Zahl, Maß und Gewicht mit Hebel und Ventil zu herrschen und der mikroskopisch faßbaren Materie Orgien der Massen Verschiebung zu entlocken. Waa sich da auftürmte an gräßlichen Verhöhnungen gegenüber dem fünften und sechsten Gebot war der nach außen projizierte Blutrausch von Menschen, die in der Ver-mauerung des Verbindungsganges zum Ewigen das Menschlichste im Menschen, die geistige Sehnsucht, gemordet hatten.

Nun aber ist die Betonwand des Wahnes, zusammengesunken. Der Mensch spürt wieder die Sehnsucht, die Schwermut. Er sieht seine Begrenzung, seine Unzulänglichkeit und braucht sich ihrer nicht xu schämen. Vom Herzen fällt die Panzerung. In dieser neuen Freiheit wird et aber widitig, ob sich der Mensch als ein Verlorener, Standortloser erlebt oder ob er sich der Nachbarschaft mit dem Ewigen bewußt wird. Vielleicht wird ihm diese Nähe erst als Beunruhigung erfahrbar, Dann kommt es aber darauf an, daß er sich ihrer nicht entziehe, sondern im Gegenteil noch tiefer in sie einzugehen versuche.

Der sich als Verlorenen, Standortlosen erlebt, wird die Trümmer der Nachkriegsexistenz in ein Wort zusammenlesen: verspielt. Es lohnt nicht mehr. Mag das Leben Tropfen um Tropfen versickern wie schales Wasser aus der Ablaufrinne.

Und immer wird es den Unbelehr- und — Unbekehrbaren geben, der aufs neue den Mißbrauch des Herzens begeht, der wiederum sich selbst zum Maß der Dinge erhebt und aus dem Drängen seiner Selbstsucht eine neue Ordnung aufbauen will, und wiederum wird Macht das Recht verbiegen. So scheitert der Verzweifelnde an dem Anruf seines Herzens, weil er in seinem Schlagen nur das dumpfe Trommeln eines Gefangenen der Sehnsucht hört. Hingegen wird der seiner Selbst allzu Gewisse den scharfen Takt de* eigenen 'Heraens in den Herzschlag der ganzen Welt hämmern wollen.

Der aber das sehnsuchtsvolle suchende Herz der Nachbarschaft des Ewigen darbietet, des Ewigen, das der Ewige, der Vatergott ist, wird dieses leidvolte beladene Herz offnen und entlasten können. Er wird entdecken, daß es vor Gott kein endgültige* Verspieltiiaben gibt, daß sich aber auch die Eigengerechtigkeit nicht bis zur titanenhaften Eigenmächtigkeit versteigen kann. Wo Gott Einsicht gewährt wird, erwächst Einsicht. Diese erhellt, daß der Mensch vor Gott schuldig geworden ist. Aus der Schuld führt die Bekehrung. Diese verankert den Menschen in der Heilsordnung Gottes. Nur von hier wird die neu* Ordnung de* Menschen zu bauen sein, nur von hier wird er sein Her bezähmen lernen, daß es nicht versinke in Verzweiflung, daß es sich nicht erhebe in Anmaßung. Denn von hier erfährt der rechte Gebrauch des Herzens unbedingte Gültigkeit: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!

Was auch den Menschen bewegt, nach der Unsterblichkeit seines Wesens zu verlangen, ob ihn grübelnder Sinn lüstern macht, den letzten Grund der Dinge zu schauen — ob das Rätsel des Daseins so schwer aui ihm lastet, daß Ihn vor dem Zusammenbrechen nur der Gedanke schützt: er werde wissen warum, wofür er litt und stritt — ob er, von der Unzulänglichkeit des irdischen Rechtes bedrückt, nach dem göttlichen aufschreit und ihm Lohn und Strafe anheimstellt —, ob es die Liebe Ist, die ihn nach seinen Helmgegangenen sehnen macht — oder ob es auch nur der Kampf ist gegen den Gedanken der Vernichtung, die ihn in einsamen Nächten durchfröstelt — all dies Bangen, Sehnen, Heischen, Hoffen und Ahnen, es ruht zutiefst in der Brust des Menschen eingeschlossen, unaussprechbar.

Ludwig Anzengruber: „Großstädtisches und Gefabeltes“

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