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Flucht und Bleibe

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Ich war ein Knabe, als ich zum ersten Male beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges den Strudel um mich herum kreisen sah, in den ich später im Leben selbst zweimal hineingerissen wurde: die Flucht. Und von damals an erscheinen mir der Mensch in der Gefangenschaft und Mensch auf der Flucht als die, in denen das Wesen unserer Zeit sinnenfällig Gestalt angenommen hat. Eine Flucht kann etwas von einem Schneckenhaft gewundenen Labyrinth an sich haben, durch das die Angst einen hindurchtreibt und in dem die schier unzähligen Windungen und Ausweichungen bestimmt sind vom Für und Wider der Auffassung, welcher Fluchtweg der richtige sei — bis man beinahe selbst nicht mehr weiß, wo man sich befindet, und bis man in Gefahr kommt, die Richtungen zu verwechseln und doch immerzu in Bewegung bleibt, bei aller Angst mit seinen Hoffnungen dem armseligen Leben, das unterzugehen droht, weit voraus... Wer einmal vor den unsichtbaren Fangarmen der geheimen Büros geflohen ist, kennt diesen filmartigen Zustand, der einen noch jahrelang in Träumen verfolgt.

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Ich war ein Knabe, als ich zum ersten Male beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges den Strudel um mich herum kreisen sah, in den ich später im Leben selbst zweimal hineingerissen wurde: die Flucht. Und von damals an erscheinen mir der Mensch in der Gefangenschaft und Mensch auf der Flucht als die, in denen das Wesen unserer Zeit sinnenfällig Gestalt angenommen hat. Eine Flucht kann etwas von einem Schneckenhaft gewundenen Labyrinth an sich haben, durch das die Angst einen hindurchtreibt und in dem die schier unzähligen Windungen und Ausweichungen bestimmt sind vom Für und Wider der Auffassung, welcher Fluchtweg der richtige sei — bis man beinahe selbst nicht mehr weiß, wo man sich befindet, und bis man in Gefahr kommt, die Richtungen zu verwechseln und doch immerzu in Bewegung bleibt, bei aller Angst mit seinen Hoffnungen dem armseligen Leben, das unterzugehen droht, weit voraus... Wer einmal vor den unsichtbaren Fangarmen der geheimen Büros geflohen ist, kennt diesen filmartigen Zustand, der einen noch jahrelang in Träumen verfolgt.

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Eine elementare Größe umwittert das Unglück des flüchtenden Bauern, den die Feuerwalze der Front von seinem Boden vertreibt und der mit den hinter einem Wagen voll rasch zusammengerafften Hausrats angebundenen Kühen der Vernichtung entrinnen will, die seinen Hof treffen wird. Die Tragik der umgestürzten gottgewollten Ordnung der Dinge umgibt sein Gefährt. Jener Flüchtling aber, der um seines geistigen So-Seins willen gejagt wird, ist heute allzuoft armseliger als die gejagte Maus. Den flüchtenden Arbeiter und Bauern bezeugt gewissermaßen der Stand; den fliehenden Intellektuellen aber macht sein Stand eher verdächtig. Den Geist kleidet kein Sinnbild, das alle anspräche; ihn trägt ein Gesetz und eine innere Ordnung. Doch gerade die Ordnung, die der Flüchtende vertritt, kann in Gunst oder Ungunst stehen, und das Unverständnis für sein Dasein und Denken kann' ihn später selbst in der rettenden Bleibe der Fremde wie auf felsigen Klippen aussetzen, auf denen er innerlich zugrunde gehen muß. Wie manches Flüchtlingsschicksal zeigt uns doch, daß so vieles von unserem Denken und Fühlen, ohne daß wir es gewußt hätten, nur auf dem Boden einer Heimat und bei einer inneren Beheimatung in Menschen, die unsere eigentliche und letzte Heimat auf Erden ausmachen, zu gedeihen vermag. Und umgekehrt: welche ungeheuren Kämpfe feiern ihren Sieg darin, wenn unverwechselbar geistig Eigenes bei Flüchtlingen auch auf dem kargen Boden der Fremde blüht und reift!

Fragte man mich, was das schwerste im Leben eines Flüchtlings sei, würde ich antworten: die Unwirklichkeit und die Angst.

Jede Flucht bedeutet so etwas wie einen Identitätsverlust, eine Art Tod im allzu jähen Wechsel des Lebensbereichs, in dem man sich mit einemmal nicht mehr zu spiegeln und damit auch nicht mehr zu erkennen vermag. Man ist sich selber fremd in der Fremde, und es gibt zuweilen wirklich so etwas wie einen geheimen Groll der Seele gegen einen mächtigen Urtrieb, der einem einmal befahl, den Leib zu retten, ohne an die Seele zu denken. Für den Geflüchteten ist alles traumhaft, und glücklich zu nennen ist der, dem später der Traum sich wieder zu einem neuen, wirklichen Tag verfestigt! Er beginnt in Wirklichkeit als Flüchtling ein neues Leben nach dem Tode der Flucht.

Eine Schwester der Unwirklichkeit ist die Angst — eine Angst, die zur Schimäre werden kann, weil gerade die Unwirklichkeit sie so oft bei der Hand hält. Es ist auch nicht nur die Angst, die von den ungeleb-ten Möglichkeiten der Vergangenheit, die einem erspart geblieben sind, die aber mit der Einbildungskraft doch in das Leben einbezogen werden, ins Blut geflossen ist, nein — es ist auch die Angst vor dem Gegenwärtigen. Einmal als ein müdes Verzagen überhaupt, mehr aber noch als die Angst vor der anonymen Allmacht der Administration, der ein Flüchtling sein hilfloses Leben anheimstellen muß. Sein Schicksal hat sieh von seinem ureigenen Ich abgelöst und ist das Schicksal einer Gattung, ja nur einer Rubrik geworden, ohne daß dies seine Einfügung in die ihm gemäße Denk-, Lebens- und Glaubensgemeinschaft geworden wäre. So sehr er auch Gemeinschaft ersehnt, — in seinem Schioksal begegnet er nur der Masse, zu der man ihn zählt. Da erkennt er, daß auch eine wohlmeinende Humanität, wo sie sich der anonymen Maschinerie fremdenpolizeilicher Vollzugsorgane bedient, furchtbar ist und das gespaltene Leben nicht wieder zusammenzufügen vermag; daß bei aller Hilfe das Unglück des Geflüchteten immer noch tiefer ist, als die Anteilnahme der Verschonten auszuloten vermag; daß auch für ihn nur das Ubernatürliche die Kränkung der natürlichen Ordnung, aus der er vertrieben worden ist, in einen neuen Sinn und Zusammenhang zu bringen vermag.

Und hier begegnet die Existenz des Menschen auf der Flucht heute, wie in einem Blitzstrahl erhellt, dem Schicksal aller jener, die — ohne es zu wissen, büdlos werdend — auf der Flucht sind vor sich selber und vor dem, nach dessen Bilde sie geschaffen sind. Die Not jener in unserer Zeit, die auf der Flucht unverschuldet mit Angst und Unwirklichkeit ringen, beschämt sie tief — und noch tiefer jene Frevler, die den gesichtslosen, seines Ichs beraubten, von der Angst gefügig gemachten Menschen zum Werkzeug der Austreibung anderer Menschen gemacht haben.

Flucht — war das eine. Und Bleibe?

Was ist Bleibe? — Es ist nicht die „bleibende Statt“, welche das Evangelium meint, denn die liegt außerhalb des irdischen Bereichs. Bleibe ist, abgesehen davon, daß sie in der Gegenüberstellung zur Flucht Bestandteil des Titels einer Sammlung von Gedichten eines geflüchteten estnischen Dichters ist, Bleibe ist auch in der Interpretation der Wörterbücher nicht mehr als ein Synonym für „Unterkunft“. Sie ist nicht Heimat. Es ist ein Wort, das von Unsteten, Schweifenden, Wandernden, Flüchtenden oder von „fahrendem Volk“ erfunden worden ist für die Stätte unterwegs, an der man einmal innehält und Obdach findet.

Kann aber der Geflüchtete, dem die Flucht vor der vernichtenden Gewalt derer, die ihn zur Flucht gezwungen haben, gelungen ist, über die Bleibe: die Unterkunft, die Rast hinaus, nicht neue Heimat finden? Bleibt mit dem einen Augenblick des Aufbruchs in die Flucht wirklich alles für immer in die Notdürftigkeit der Bleibe, als einem Ort unter vielen, gekettet? Und sind es nur die Ketten eines Unentrinnbaren, die man — mit der Gewohnheit, sie tragen zu müssen, Immer leichter — von Ort zu Ort weiterschleppt, oder können nicht auch einmal die abgestreift oder von der großen Kraft eines einzigen Menschenherzens, das für uns schlägt, loegeschmiedet werden und neue, von Herzen echte Bande in neuer Beheimatung erwachsen? Beheimatung in jedem Sinne: menschlichem, sozialem, atmosphärischem, sächlichem — so daß die neue Welt des Flüchtlings einfach seine Welt und Heimat wird?

Das ist eine Frage im „weiten Feld“ menschlichen Schicksals, deren Beantwortung schon von dem Lebensalter abhängt, in dem ein Mensch einmal zum Flüchtling wurde; denn es ist klar, daß sich erst öffnende geistige Augen viel leichter eine unvermerkt eingetretene Fremde als Heimat sehen lernen werden. Es ist eine Frage nicht nur über Länder und deren Regierungsformen und soziale Struktur, sondern eine Frage über Kontinente hinweg, über Rasse, Farbe und Konfessionen. Es ist eine Kardinalfrage.

Jahrhunderte haben diskriminierte Volks- und Glaubensgemeinschaften nicht nur von einem Land ins andere, sondern rund um den Erdball flüchten müssen. Und wie düstere Mahnmale, daß jeder von uns „unstet und flüchtig“ wie Kain werden kann — ohne dabei Kain zu sein, sondern an Sanftmut eher gleich dessen erschlagenem Bruder Abel — hasten durch die Nächte der Jahrhunderte verstohlen jene einzelnen Verfemten, deren. „Schuld“ es vielleicht nur gewesen ist, daß sie den irdischen Gewalthabern einmal „ins Angesicht widerstanden“ haben; denken wir nur an den ersten, den hinreißenden, edlen Bußprediger Arnold von Brescia, Augustinerchorherr, Schüler Abälards, der um 1150 gegen die Verweltlichung der Papstkirche auftrat, den evangelischen Weg der Nachfolge Christi forderte — und von seinem „Schutzherrn“ Kaiser Friedrich Barbarossa schnöde den Henkern des Papstes ausgeliefert wurde, damit ein kleiner politischer Handel zwischen Kaiser und Papst nicht für den Kaiser verlorengehe ... Und wieviel solchen politischen Handels um Flüchtlinge und mit Flüchtlingen hat es seitdem nicht gegeben! Ist unser Eingeborensein in diese Welt, an einem Ort, in einem Land, je zu vertauschen oder gar vom Innersten her zu ersetzen?

Die Beispiele, die man gegen den „Kleinmut“, Heimat sei — einmal verloren — nie zu ersetzen, anführen mag, weisen alle in die Vergangenheit zurück, wo sie ganze Volksoder Glaubensgemeinschaften betreffen, die zu Flüchtlingen gemacht worden waren, oder in jenes Zeitalter, da das höfische Europa jedem einzelnen Heimat in seinem verbrieften Stand bot. Und wenn es um den einzelnen geht, sind heute das Lebensalter des Ausgewurzelten und neu Verpflanzten, die Verschiedenheit der geographischen, klimatischen und geistigen Zonen und die Anpassungs- und Kommunikationsfähigkeit des jeweiligen Menschen entscheidend — oder beinahe entscheidend, richtiger gesagt. Denn jeder von uns Flüchtlingen trägt von Land zu Land und von einem Erdteil zum anderen auch noch etwas unbewußt Immanentes, das von einem Augenblick zum anderen bewußt und manifest werden kann: das Geheimnis seines Herkommens und seiner alten Heimat in jedweder Gestalt: über einen Appell an seine Sinne, mag er ein ähnelndes Bild, einen Klang oder einen unbegreiflichen Geruch oder Geschmack betreffen, bis in eine unerklärliche und unaussprechliche Ahnung des Herzens. Und es gibt im Zeitalter der Moderne keine neue Welt, die sich — wie zu Zeiten der Albigenser, der Täufer, der Mährischen Brüder, der mennonitischen Flüchtlinge rund um den Erdball, der Hugenotten oder der Auswanderer aus der Alten Welt in die jungfräuliche Wildnis Amerikas — so unformalistisch und bereitwillig für den Flüchtling öffnete und sich von ihm zu seiner Welt, seiner neuen Heimat gestalten ließe wie einst. Überall findet der geflüchtete Mensch schon eine fertige Welt vor, in die er sich unter Preisgabe des Eigenen einfügen soll und muß.

So erscheint die Heimat am Ende des Lebens unwiederholbar, unteilbar, und — wo sie verlassen wurde, weil sie hat verlassen werden müssen — unwiederbringlich. Wir können dankbar Bleibe haben; der letzte Raum in der Fremde ist ein liebendes Herz.

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