Die alte Spruchweisheit Goethes: „Wer den Dichter will verstehen, muß in Dichters Lande gehen“, nimmt einem heute niemand mehr als gültige Rezeptur in der ästhetisch-kritischen Apotheke ab; sie ist nicht einmal mehr ein vom Rezepturzwang befreiter Drogistenartikel, und in den Selbstbedienungsläden der literarischen Meinungsbildung wird sie kaum zur Kasse getragen. Sie ist so vergessen und selten wie die Hauspostillen unserer Vorfahren, deren Lettern die Jugend nicht zu lesen versteht und die allenfalls noch um ihres Biedermeier-Einban-des willen gefragt sind. Ein Hauch
Ich war ein Knabe, als ich zum ersten Male beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges den Strudel um mich herum kreisen sah, in den ich später im Leben selbst zweimal hineingerissen wurde: die Flucht. Und von damals an erscheinen mir der Mensch in der Gefangenschaft und Mensch auf der Flucht als die, in denen das Wesen unserer Zeit sinnenfällig Gestalt angenommen hat.
Eine Flucht kann etwas von einem Schneckenhaft gewundenen Labyrinth an sich haben, durch das die Angst einen hindurchtreibt und in dem die schier unzähligen Windungen und Ausweichungen bestimmt sind vom Für und Wider der Auffassung, welcher Fluchtweg der richtige sei — bis man beinahe selbst nicht mehr weiß, wo man sich befindet, und bis man in Gefahr kommt, die Richtungen zu verwechseln und doch immerzu in Bewegung bleibt, bei aller Angst mit seinen Hoffnungen dem armseligen Leben, das unterzugehen droht, weit voraus... Wer einmal vor den unsichtbaren Fangarmen der geheimen Büros geflohen ist, kennt diesen filmartigen Zustand, der einen noch jahrelang in Träumen verfolgt.
Ich kann den Augenblick, da mein Lebensbewußtsein erwachte, und den Ort, da mein Erinnerungsvermögen gleichsam die Lider zum ersten Male hob, auf Tag und Stunde und auf den Quadratmeter genau bestimmen. Es geschah beim Umzug meiner Eltern in Ostrowo, einer kleinen Garnisonsstadt an der deutschrussischen Grenze, von der Alt-Kalischerstraße ans entgegengesetzte Ende der Stadt in die Zdunyerstraße 37, wo die dort schon mindestens zweihundert Meter breite Eisenbahneinfahrt in den Bahnhof Ostrowo die alte Landstraße zerschnitten und zu einem Umweg über eine hohe, lange Uberführung genötigt hatte.
Der große Möbelwagen, der sehr langsam fahren mußte, weil das Kopfsteinpflaster der alten Kalischer Landstraße es so befahl, blieb bald hinter uns zurück. Die Mutter und ich gingen quer durch die Stadt, über den Ring, dem allmählich sich wieder lichtenden Ausgang zu, und hinter einem Kornfeld von mindestens zwei Morgen Größe stand unser neues Zuhaus.
Man hat das Hochtal des Wallis im Herzen der Alpen einmal einem steinernen Sarg verglichen, aber keiner von den bedeutenden oder weltkundig namhaften Toten, die dieser „steinerne Sarg“ birgt, ist ein Walliser. Keiner — jedenfalls in neuerer Zeit — stammte aus dem alemannischen Walliser Volkstum, das seit den Kelten von altersher hier siedelt. Alle sind sie Fremde — gewesen, darf man sagen, und sind ihm eigen geworden. Denn alle Töten leben ja mit den Lebendigen mit. Und die beiden Grabhügel in meiner Walliser, Nachbarschaft, auf die ich an diesem Tage einen Blick werfen will, bezeichnen,-wie es landläufig heißt, nur die Stätte, an der das ruht, was unter ihnen sterblich an den Toten war, während ihr geistiges Leben sich weltweit ausgebreitet hat und in seinen Wirkungen weder die Wasserscheide der Pässe noch die Grenzen der politischen Geographie kennt.
Diese Worte richtete der bekannte Dichter Edzard Schaper, der selbst seine Heimat verloren hat, in der Stadthalle Stuttgart-Sindelfingen an die geflüchteten und vertriebenen Deutschen. Der vollständige Text ist bei Jakob Hegner erschienen.Über die Vertreibung des Menschen schwebt am Anfang der Menschheit in der Heiligen Schrift das Schwert des Engels, der Schuld wider Gott mit Austreibung straft, nach Gottes Willen. Stehen Peitsche, Kolben und Pistolen in unserem Zeitalter der Ideologien und der Austreibungen nach den widergöttlichen Doktrinen der Ideologien in einem auch nur irgendwie
Es ging gegen Mittag, und die Altweibersommersonne brach eben mit goldener Wärme durch den silbrigen Dunst, zu dem sich der in der Morgenfrühe noch schwere zinngraue Nebel schon gelichtet hatte, da langten wir auf dem Schlachtfeld von Taipale an. In diesem Krieg war es nicht noch einmal zum Kampfplatz geworden wie einst während des Winterkrieges. Das Bild war unvergeßlich: der bis in Mannshöhe und darüber hinaus auf die nackten Stämme zerfetzte, gelichtete Wald, eine unabsehbare Versammlung von toten Pfählen ohne grünendes Leben; zu seinen Füßen das vom Granatfeuer um- und
„Unsere Kirche war eine der ältesten im ganzen Bistum, sie wurde von frommen Vätern des Klosters Olonez erbaut, denen das Klosterleben zu laut geworden war und die sich tiefer in die Einöde zurückzogen, das mögen wohl vier-oder fünfhundert Jahre her sein“, begann der ostkarelische Priester seinen Bericht. „Und damals floß der Fluß noch nicht so dicht neben dem Heiligtum. Er muß, nach allem, was uns die Ältesten und deren Väter und Vorväter erzählt haben, eine gute Strecke entfernt geflossen sein. Nur der gewaltsame Eisgang während der Frühlingsschmelze hat sein Bett