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Dichters Lande

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Die alte Spruchweisheit Goethes: „Wer den Dichter will verstehen, muß in Dichters Lande gehen“, nimmt einem heute niemand mehr als gültige Rezeptur in der ästhetisch-kritischen Apotheke ab; sie ist nicht einmal mehr ein vom Rezepturzwang befreiter Drogistenartikel, und in den Selbstbedienungsläden der literarischen Meinungsbildung wird sie kaum zur Kasse getragen. Sie ist so vergessen und selten wie die Hauspostillen unserer Vorfahren, deren Lettern die Jugend nicht zu lesen versteht und die allenfalls noch um ihres Biedermeier-Einban-des willen gefragt sind. Ein Hauch deutschtümelnden, verfemten Biedersinns umgibt sie. Warum eigenly lieh? Sie kommt einem ja doch in den Sinn, wenn man sich nach den Dichtern und Romanschriftstellern unserer Gegenwart fragt und sich bemüht, herauszufinden, wo ihre „Lande“ wohl liegen. Besitzen sie überhaupt welche? Und wären sie aus denen heraus in Goethes Sinne

Ja, wo liegen die „Lande;- vornehmlich der Romanautoren unserer Gegenwart? Welche Art „Lande“ aber meint das Sprüchlein? Innere des Weltgefühls, die immer groß genug waren und sind, eine ganze Schöpfung und Welt zum Inhalt au haben, oder äußere, in ihren tausendfältigen Bedingtheiten und Zuordnungen aufeinander zwischen einzelnen, Gesellschaftsgruppen, Ständen, Nationalitäten, Konfessionen, Geschichte und Gegenwart, Natur und Kultur, bezogen, welche noch Elemente der Darstellung zu bilden vermögen?

Jeder Roman folgt dem Gesetz seines Dichters, und jeder Roman hat sein eigenes Gesetz und Gesicht, da er eben ein unverwechselbares eigenes Land seines Dichters veranschaulicht — oder veranschaulichen sollte. Eben nicht der Dichter allein, sondern auch die „Lande“: die verschiedenen Welten; der Stoff formt sein Gesicht mit. Darum bleibt der strengste Maßstab, der an das Roman-Kunstwerk anzulegen ist, einmal: ob es eine geistige Wahrheit oder Wahrhaftigkeit im gestalteten Geschehen vermittelt, und zum anderen: ob das im Gleichnis Erscheinende, nicht Kolportierte, montiert Photographische in sich selbst Zeugnis für eine Wirklichkeit ablegt. Höchste geistige Wirklichkeit bezeugen alle großen Romane der Weltliteratur, und die Kargheit eines Handlungsgerüstes täuscht selten darüber hinweg, daß ein weniges des Zwischen Menschen sich exemplarisch, ereignenden Handlungsverlaufs — das sich auf den ersten flüchtigen Blick in einer Novelle hätte ansiedeln lassen —, eben doch die große Form des Romans verlangte, weil das Individuelle erst in einer ganzen Weltsicht auf Natur und Kultur und mit einem voll ausgemalten Reichtum von allen Hintergründen dargestellt zur vollen Wahrheit und Wirklichkeit wird.

Der Weltverlust im deutschsprachigen Roman der Gegenwart, nicht zu verwechseln mit der freiwillig geübten Aszese in einzelnen wenigen Werken, ist zu offenkundig, als daß man nicht die Vorherrschaft des Englischsprachigen aus der Alten und der Neuen Welt und des Russischen bei der Leserschaft begreifen müßte. Selbst das Romanschaffen der osteuropäischen Dichter in der Emigration, naturnotwendig immer retrospektiv, wenn sie nicht billige Kompromisse eingehen wollen, umfaßt ein Bedeutendes, ja ein Entscheidendes mehr als das Schaffen erfolgreicher Romanautoren deutscher Zunge, deren Darstellung nicht mehr von der Faktizität des Vorhandenen und Darzustellenden ausgeht, sondern allzuoft in paradoxem Selbsthaß und Selbstmitleid zugleich den Weltverlust in polemischen Ressentiments gegen ihre Welt und ihre Gesellschaft und die Suche nach der eigenen, verlorenen Identität miteinander verbindet.

Soll es einen da wunder nehmen, daß die Leserschaft sich auch mehr denn je dem „Sachbuch“ zuwendet, welches die erstaunlichsten Sachverhalte auf so gut wie allen Gebieten ohne die innere Widersprüch-lichkeit des Personalen darlegt und mm Wett“ unireißt, in WelöHeSAiZu leben dieser Menschheit nun einmal auferlegt ist? Daß Gesellschaftskritik dem Roman noch keine Welt schafft und ihm nicht unbedingt Dauer verheißt, haben die großen Franzosen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, von denen man nicht weiß, ob man sie mehr unter die Pamphletisten oder unter die Romanciers reihen soll, beweislich gemacht, und ebenso gut könnte es manchem heute erfolgreichen, sehr ich-bezogenen Romanschreiber gegen das „Establishment“ unserer Tage ergehen.

Die törichte Frage, ob er sich als „engagiert“ betrachte oder nicht, wird heute jedem Autor bis zum Überdruß schon von Maturanten in Fragestunden und Briefen vorgelegt. Es scheint, als hinge von der Antwort ab, ob man vor dieser Jugend bestehen könne oder nicht. Als ob sich — verdienten solche Fragen überhaupt eine Antwort — nicht von selber verstände, daß jeder Dichter verpflichtet ist, in seinen „Landen“, die Innerstes und Äußerliches gleichermaßen widerspiegeln! Verpflichtet zu sein ist etwas anderes und mehr, als engagiert zu sein!

Goethe hat 1806 in seinen „Bemerkungen zum Vorschlag eines deutschen Nationalbuches“ die Formel geprägt: „Was ist zu bilden? Der Charakter, nicht der Geschmack. Der Geschmack muß sich aus dem Charakter entwickeln.“

Die reinste Befolgung dieser Maxime — vor und nach Goethe — hat die großen Romane der Weltliteratur entstehen lassen, während sich die geschmäcklerischen Bemühungen in unserer Zeit zur „Montage“ und der viel besehrienen „Manipulation“ hin verlieren. Und dabei gilt immer noch die erschütternde Verszeile in Hölderlins dem weltentrückenden Wahnsinn abgerungenen Gedicht, daß „uns gebührt es, unter Gottes Gewittern, ihr Dichter, mit entblößtem Haupte zu stehen... eines Gottes Leiden mitleidend, bleibt das ewige Herz doch fest.“

Läßt nicht das Herz die „Lande“ eines Dichters sehen — und seine „Lande“ in sein Herz?

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