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MEDIZIN -MEHR ALS CHEMIE UND PHYSIK

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„Das Wichtigste ist die Gesundheit": So lautet wohl ein Selbstverständnis unserer Zeit. Denn wer vom modernen Fortschritt spricht, denkt nicht nur an Wirtschaftswachstum, sondern auch an die enormen Verbesserungen im Bereich der Gesundheit. Besonders eindrucksvoll äußern sich diese im Anstieg der Lebenserwartung: Die Westeuropäer leben heute um etwa 25-30 Jahre länger als ihre Vorfahren vor 120 Jahren!

Die Kindersterblichkeit wurde dramatisch gesenkt, das Kindbettfieber bekämpft, die Gefahr von Seuchen durch Impfungen und hygienische Maßnahmen weitgehend gebannt. Triumphe hat auch die Chirurgie gefeiert. Was vor Jahren als Utopie erschien, gehört heute zur Spitalsroutine: Das Transplantieren von Organen, das Einsetzen künstlicher Gelenke, Operationen am offenen Herzen, ja selbst am angeborenen Kind...

Der Medizin-Technik scheinen keine Grenzen gesetzt. Diesen Eindruck vermitteln auch die Errungenschaften der Gentechnik und der Humangenetik: Tausende Kinder wurden bereits in der Retorte gezeugt, vorgeburtliche Untersuchungen lassen Behinderungen erkennen, in den USA wird ein Atlas der menschlichen Erbinformation angelegt...

Fragt man nach der Triebfeder dieser Errungenschaften, so wird klar, daß es sich vor allem um Fortschritte der naturwissenschaftlichen Forschung und der Technik handelt. Die Medizin versteht sich heute primär als Naturwissenschaft. Und dementsprechend geht sie auch an ihre Aufgabe heran, indem sie in der Physik und in der Chemie bewährte Verfahren anwendet. '

Auf der einen Seite werden damit große Erfolge erzielt. Denn das Le-

ben des Menschen und seine Gesundheit haben etwas mit physikalischchemischen Vorgängen zu tun. Dieser Zugang ist aber notgedrungenermaßen begrenzt, wie Erwin Chargaff, weltbekannter Biochemiker österreichischen Ursprungs, einmal festgestellt hat:

„Mit wenigen Ausnahmen geht bei der Untersuchung der Bestandteile lebender Organismen das Wesentliche, das Leben, verloren. Dieser Verlust wird von den Wissenschaften, die sich mit Präfix ,Bio-' zieren,gerne in Kauf genommen, denn sie haben sich dazu überredet, daß dabei nichts Wichtiges abhanden gekommen sein kann, jedenfalls nichts Wäg- und Meßbares..."

Leben - ein Geheimnis

Wie weitreichend diese Verdrängung ist, erkennt jeder, der im Lexikon unter dem Schlagwort „Leben" nachliest: „Stationärer Zustand eines materiellen Systems komplizierter chemischer Zusammensetzung, der aus einem Zusammenwirken aller Einzelbestandteile auf Grund physikalischer und chemischer Wechselwirkungen resultiert", ist beispielsweise im neuen Meyer zu lesen. Da ist überhaupt nur mehr von Chemie und Physik die Rede. Und damit sind wir bei einem Grundproblem modemer Medizin. Ihr wissenschaftliches Selbstverständnis läßt sie allzu leicht das Leben, den lebendigen Menschen, die Person aus den Augen verlieren. Sie hat ein verkürztes, also ein falsches Menschenbild, sieht ihn als komplexes Gebilde vielfältiger wis-senschaftl ich erfaßbarer Vorgänge, als höheres Säugetier, als kostengünstig zu reparierendes Rädchen im gesellschaftlichen Gefüge...

Zu welcher Menschenverachtung das führt, zeigen folgende Extrembei-

spiele: 1984 pflanzte der US-Chri-rurg Leonard Bailey einem Kleinkind, Baby Fae, das Herz eines Pavians ein. Das Kind starb drei Wochen später an Abstoßreaktionen. Ebenfalls 1984 hat Bailey dem vier Tage alten Säugling Paul Hole das Herz eines großhimlo-sen Babys eingesetzt. Dieses war unter permanenter künstlicher Beatmung aus Kanada in die kalifornische Klinik eingeflogen worden.

1986 starb in Pittsburgh der siebenjährige Ronnie Desillers nach seiner dritte Lebentransplantation. Obwohl die Ersatzorgane immer wieder abgestoßen worden waren, wollten die Ärzte ihm knapp vor seinem Tod noch eine vierte Fremdleber einpflanzen.

In jedem dieser Fälle wird der Mensch ebenso zum Objekt - zum Versuchsobjekt - wie bei der künstlichen Befruchtung. Da wird er als Produktionsobjekt behandelt. Auf dem Schwarzmarkt für Ersatzorgane wiederum wird er zum Ersatzteillager.

Natürlich läßt sich jede einzelne der oben erwähnten Handlungen von irgendeinem Standpunkt aus rechtfertigen: Man kann den Fortschritt des Wissens ins Treffen führen, die Linderung zukünftigen Leidens, ja sogar die Verlängerung des Lebens eines anderen Menschen (bei der Organtransplantation)... Aber trotz allem bleibt ein nicht ausrottbares Unbehagen. Denn niemand kann die Frage beantworten, welches Leben denn mehr wert habe: das des heute Benachteiligten oder das der möglichen Nutznießer.

Diese Frage wird immer unbeant-wortbar bleiben, weil jeder Mensch als Person einmalig ist. Leben erschöpft sich eben nicht im zahlenmäßig Erfaßbaren, sondern artikuliert sich bei jedem in besonderer und letztlich nicht vergleichbarer Form: Freu-

de, Schmerz, Leid oder Glücksempfinden lassen sich nicht von Mensch zu Mensch vergleichen, sind wissenschaftlich nicht auslotbar.

In dem Spannungsfeld zwischen Einmaligkeit der Person, wissenschaftlicher Erkenntnis und ökonomischen Bedingungen arbeitet der Arzt. Er ist heute in besonderem Maß bedroht, sich als Wissenschafter, Gesundheitstechniker oder Verwalter von Budgets zu verstehen.

Ethikkommisionen • wozu?

Ohne ein klares Menschenbild wird er sich kaum zurechtfinden, wenn selbst Nobelpreisträger sich diesbezüglich tolle Stücke leisten: „Jetzt können wir endlich den Menschen definieren. Genotypisch zumindest ist er sechs Fuß einer, besonderen molekularen Anordnung von Kohlen-, Wasser-, Sauer- und Stickstoff- sowie von Phosphoratomen", meinte etwa Joshua Lederberg.

In einer Welt, in der solche Äußerungen salonfähig sind, werden auch Ethik-Kommissionen kaum den Durchbruch zur Menschlichkeit bringen können. Dort sucht man in bewährter Art nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Und dieser ist erfahrungsgemäß so vage formuliert, daß niemand sich wirklich danach ausrichten kann.

Ärzten, die nach einer echten Barriere gegen Unmenschlichkeit Ausschau halten, kann aber jedenfalls die Botschaft der Heiligen Schrift empfohlen werden. Dort wird die Würde jedes Menschen in unüberbietbarer Form herausgestellt: Jeder einzelne ist Kind und Ebenbild Gottes, also unschätzbar wertvoll, wert, daß man sich ganz für ihn einsetzt. An diesem Einsatz entscheidet sich letztlich der Wert unseres Lebens.

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