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Schritt in die Barbarei?

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Die europäische Debatte um die Frage der Abtreibung nähert sich ihrem Ende: die Elemente, die die „Freigabe der Schwangerschaftsunterbrechung” forderten, scheinen so ziemlich auf der ganzen Linie gesiegt zu haben. Ihre Propaganda war eben weit wirkungsvoller als die der Verteidiger des Lebens. Darüber hinaus war es ihnen gelungen, sich selbst als „fortschrittlich” darzustellen; und also traute sich eigentlich niemand mehr, mit der notwendigen Härte gegen die Abtreibung aufzutreten. Denn es ist heute ärger, als Gegner irgendeines „Fortschrittes” denn als Verbrecher betrachtet zu werden.

Das dürfte auch der Grund des matten Widerstandes von seiten der meisten religiösen Gemeinschaften gewesen sein. Zwar waren diese durch ihre religiöse Bindung gezwungen, der Durchbrechung des göttlichen Gebotes „Du sollst nicht töten” äußerlich ihre Zustimmung zu verweigern; sie taten es aber innerlich widerwillig, weil sie doch so furchtbar gerne als „modern” und „aufgeklärt” gelten wollten. Die männlichen Worte des evangelischen Landesbischofs von Österreich, Sakrausky, wurden demnach auch von vielen seiner Standesgenossen als zu hart, als unzeitgemäß und allgemein störend betrachtet.

Das wesentlichste an dem Ereignis ist der Zusammenbruch eines der wichtigsten Dämme europäischer Zivilisation. Man hat bisher angenommen, daß Achtung für das Leben ein Zeichen menschlichen Fortschrittes ist. Das war der Grund für’das Verbot der Folter, für die Humanisierung der Gerichtsverfahren, für die Eindämmung, ja Abschaffung der Todesstrafe, und für eine große Anzahl von sozialen Maßnahmen.

Anscheinend schlägt jetzt das Pendel zurück. Auf die überaus milde zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts folgt das harte zwanzigste, in welchem der Massenmord Proportionen angenommen hat, die seit den Tagen Dschiingis Khans unbekannt gewesen sind. Offensichtlich soll aber die Unmenschlichkeit nunmehr legalisiert werden. Es ist ja bemerkenswert, daß gerade jene Staaten, die für zweifellos Schuldige die Todesstrafe abschaffen, diese nunmehr für ein unschuldiges Leben, noch dazu ohne richterlichen Spruch, wieder einführen. Denn, was immer man beschönigend sagen mag, die Abtreibung ist eine Hinrichtung. Das Argument, man könne nicht wissen, ob innerhalb einer gewissen Frist das keimende Leben schon Person sei oder nicht, ist aufgelegte Heuchelei. Derselbe Staat nämlich, der auf Grund dieser angeblichen Zweifel die Tötung freigibt, anerkennt in seiner Rechtsordnung durchaus die Persönlichkeit des Lebewesens seit dem Augenblick der Empfängnis: es kann erben, Rechte können ihm übertragen werden, es ist, mit einem Wort, legal existent.

Jenseits dieser Betrachtungen hat der Dammbruch unserer Tage aber noch eine weitere, vielleicht sogar bedeutendere Auswirkung. Wir werden nämlich bei dem jetzt Erreichten nicht stehenbleiben. Wer die Dinge so sieht, wie sie sind, weiß, daß eine nächste Etappe auf dem

Weg zu einer vollkommen neuen inneren Ordnung der Gesellschaft bereits begonnen hat.

Kaum war nämlich der Kampf um die Abtreibung zugunsten des Mordes erfolgreich abgeschlossen, begann schon die Schleichwerbung für die Euthanasie. Es wird nicht mehr so häufig von dem „Recht auf den eigenen Bauch” gesprochen, aber im mer öfter von dem „Recht auf ein würdiges Ende”. Wer die Programme unserer „fortschrittlichen” Fernsehstudios auch nur ein wenig verfolgt, wer die Artikel liest, die in gewissen Zeitschriften mit Massenauflage erscheinen, wird feststellen, daß die psychologische Vorbereitungsarbeit für das „Einschläfern” der Alten und der angeblich unheilbar Erkrankten bereits angelaufen ist. Eine Flut von Reportagen zeigt, wie traurig das Greisenalter sei. Man suggeriert förmlich, wie schön es wäre, diese trübe Periode des menschlichen Lebens abzukürzen. Darüber hinaus werden Krokodilstränen über jene Menschen vergossen, die man als unheilbar ansieht und deren Leben nur noch aus Qual besteht.

Dabei wird bereits auf einer anderen Linie ein weiteres Argument vorgebracht: daß die wirtschaftlichen Lasten, die die Alten und Kranken verursachen, immer mehr ansteigen und sehr bald jenen Punkt erreichen werden, an dem man sie nicht mehr ertragen kann. Es wird dabei keineswegs darauf verwiesen, daß die (tatsächlich gewaltigen) Ausgaben bei rationeller Behandlung und bei weniger Bürokratie durchaus verkraftet werden könnten. Dem Produzenten legt man nahe, daß ihm viel mehr verbleiben würde, wenn er diese tote Last nicht zu schleppen hätte. Es werden also die Alten und Kranken als Hindernis für einen sich stets erhöhenden „Lebensstandard” dargestellt.

Im allgemeinen scheinen jüngere Leute nicht zu verstehen, daß sie ihren Lebensstandard der Arbeit der Älteren verdanken — daß die Älteren also, laut der vielzitierten Gerechtigkeit, doch gewiß Anspruch auf einen Teil des von ihnen geschaffenen Reichtums haben. Auch verstehen die Jüngeren nicht, daß sie ja die Alten von morgen sind. Man kann ihnen daher Auffassungen eingeben, die der Euthanasie förderlich sind.

Der Gedanke der Euthanasie ist nicht etwa eine Erfindung unserer Tage. Die primitivsten Völker der Steinzeit haben sie gekannt und praktizieren sie heute noch. Bei den wenigst entwickelten Südseeinsula- nem etwa gibt es eine jährliche Zeremonie, in deren Verlauf man die Alten zwingt, eine Palme zu besteigen. Diese wird dann durch die Jungen nach Kräften geschüttelt. Gelingt es dem Greis oder der Greisin, sich festzuklammem, dürfen sie ein weiteres Jahr zu leben; fallen sie herunter, werden sie erschlagen. Bisher galt als Fortschritt der Zivilisation, daß man solchen barbarischen Gebräuchen ein Ende setzte. Genauso wie der Marxismus ein Rückfall in das Bronzezeitalter ist (weil man damals den Eigentumsbegriff nicht kannte), so gilt das gleiche auch für die Euthanasie.

Dazu kommt, daß dieser angebliche „Fortschritt” nichts ist als der Ausdruck eines krassen Materialismus: für diesen hat das Leben nur solange einen Sinn, als es produktiv ist und genossen weiden kann. Ist das aber nicht mehr der Fall, dann muß es beendet werden — so wie man bei einer Maschine einen schadhaften Teil austauscht. Wer aber eine höhere menschliche Würde anerkennt, weiß, daß das Individuum auch dann seine Funktion auf Erden hat, wenn es nicht mehr arbeiten kann. Wer das Leben als ein Durchgangsstadium zu etwas Höherem betrachtet, gibt ihm einen Sinn bis zum natürlichen Ende. Es handelt sich also bei der Debatte um die letzte Frage: ist der Mensch wirklich Mensch, wie wir es verstehen — also ein Wesen mit einer unsterblichen Seele —, oder ist er nichts als ein Tier, das man nach einer gewissen Zeit schlachtet?

Nunmehr scheint der Augenblick gekommen, bezüglich der Euthanasie über das Stadium der Schleichwerbung hinauszugehen. Mitte Juni haben drei Nobelpreisträger einen Aufruf veröffentlicht, in welchem sie sich zu dem Recht auf ein „würdiges Ende” bekennen. Die drei, Professor Jacques Monod, Sir George Paget Thomson und der berüchtigte Professor Linus Pauling, verlangen im Namen der Zivilisation die Einführung des Gnadentodes. Damit wird dem verbrecherischen Gedanken ein wissenschaftliches Mäntelchen umgehängt, wird ihm jene Respektabili- tät gegeben, die nun einmal die Berufung auf den Nobelpreis verleiht. Dabei könnte niemand sagen, warum Männer, die den Nobelpreis für Physik und Chemie gewonnen haben, wie Paget Thomson und Pauling, in einer Frage zuständig sein sollten, die doch gewiß *nicht in ihr Fachgebiet gehört. Wie dem auch immer sei — dieser Schritt, der einer parallelen Entwicklung seinerzeit in der Frage der Abtreibung entspricht, ist eine klare Eskalation der weltweiten Werbung für Euthanasie. Man kann erfahrungsgemäß annehmen, daß nun entsprechende Gesetzesvorlagen in verschiedenen Parlamenten in etwa zwei bis drei Jahren folgen werden.

Natürlich wird heute noch betont, die Euthanasie würde nur angewandt werden, wenn es die Alten selbst in klarer Kenntnis ihrer hoffnungslosen Lage verlangen. Das wurde früher auch gesagt, als man zuerst nur von „Indikationslösung” bei Abtreibung sprach. Erst nachdem der entscheidende nächste psychologische Schritt getan war, kam die „Fristenlösung”. Genau das gleiche wird auch bei der Euthanasie der Fall sein. Heute noch soll jeder selbst entscheiden können — morgen schon wird man uns sagen, daß es zahlreiche Fälle gibt, in denen die Alten oder die unheilbar Kranken nicht mehr verstehen können, worum es sich handelt; soll man sie auch dann noch in ihrem Elend belassen? Die Antwort wird selbstverständlich „nein” sein. Wir werden dann eine Formel vorgesetzt bekommen, in der Organe der Gesellschaft zu bestimmen haben werden, wann die Alten und Kranken „von ihrem Leiden erlöst werden”.

Das ist der entscheidende Schritt in die Barbarei. Tun wir ihn, dann haben wir jegliche moralische Berechtigung verloren, Massenmörder zu verurteilen. Dann werden Hitler und Stalin, Eichmann und Beria endgültig gewonnen haben.

Eine der letzten Herausforderungen an alle, die an Freiheit und Menschenwürde glauben, kommt auf uns zu. Gibt Europa noch einmal nach, dann hat es zum Ende der eigenen Zivilisation „ja” gesagt.

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