7069222-1992_16_13.jpg
Digital In Arbeit

DER MENSCH SPRENGT DEN RAHMEN

Werbung
Werbung
Werbung

Von vornherein sollte man nicht erwarten, daß Naturwissenschaft imstande wäre, Gottes Dasein zu beweisen oder zu widerlegen. Wohl kann Naturwissenschaft Glaubenshindernisse schaffen oder aber ausräumen beziehungsweise Glaubensmotivationen bewirken; das bedeutet aber auch nicht, daß es nicht außernaturwissenschaftliche Gottesbeweise geben könnte und gibt (etwa die neuen Versionen des ontologischen Gottesbeweises durch Gödel und andere). Das Problem Naturwissenschaft-Glaube ist vielschichtig und kann vom Standpunkt der Physik, Biologie (allgemeine Biologie, Entwicklungsbiologie, Neurowissenschaft), Psychologie und Informatik betrachtet werden.

Das monotheistische Gottesbild der Antike entstammte bekanntlich zwei Quellen: der jüdischen (Bibel) und der griechischen (Piaton, Aristoteles). Zur Verschmelzung der diesen Quellen entstammenden Gottesbegriffe hat vor allem Thomas von Aquin beigetragen. Das Spezifische des Christentums liegt in der Lehre von der inner-göttlichen Tripersonalität des einen Gottes, außerdem es keinen Gott gibt. Diese Lehre löst die Antinomie von Gott als dem Absolutum, das auch ohne Schöpfung allein in sich selbst Bestand hätte, und Gott als dem Quell aller geistigen Werte.

Der höchste der ethischen Werte etwa, der Wert der Liebe, wäre so auch ohne Schöpfung rein innergöttlich realisiert. Nun tritt aber nach erfolgter Schöpfung aus gegebenem historischen Anlaß die eine (nämlich die zweite) dieser innergöttlichen Personen mit dem einen Menschen für die Menschen (nämlich ihr Heil und ihre Erlösung) in spezifische Verbindung, durch die der eine wahre Mensch wahrer Gott ist und durch die der außerzeitliche Gott seiner transzendenten Ferne entrückt wird.

Zur Zeit des geozentrischen Weltsystems (die als Scheibe gedachte Erde, um die sich die Sonne dreht, ist Mittelpunkt der Welt, unter ihr die Hölle, über dem glockenförmigen Firmament der Himmel) herrschte zwischen Wissen und Glauben vollste Harmonie. Dann aber schien durch Christoph Kolumbus' Entdeckungsreise die Kugelgestalt der Erde bestätigt zu sein, und mit der allgemeinen Verbreitung des schon in der Antike diskutierten heliozentrischen Weltsystems (Kopemikus, Galilei, Kepler) kam es zur großen Wende.

Nach Ansicht von Giordano Bruno war das Universum in einen unendlichen Raum eingebettet und von unendlicher Dauer, auch andere Planeten wurden als von Lebewesen bewohnt gedachtvEine Schöpfung müßte vor unendlich langer Zeit stattgefunden haben. Gottes Wirken rückt in unendliche Ferne. Die zentrale Stellung von Erde und Mensch ist fraglich geworden.

Das in den nächsten Jahrhunderten besonders durch Newton und Laplace entwickelte mechanistisch-deterministische Weltbild bedeutete für manchen eine Erschütterung seines Gottesglaubens. Bekanntlich antwortete Laplace nach einem Vortrag auf die Frage Napoleons, wo denn bei seiner Argumentation Gott bleibe: „Diese Annahme brauche ich nicht." Sind die Naturgesetze einmal vorgegeben und die Anfangsbedingungen gesetzt, so ist der Weltzustand zu jedem beliebigen Zeitpunkt eindeutig determiniert, eine Intervention Gottes nicht erforderlich.

Die sogenannte klassische Physik läuft aus mit der Hamiltonschen Mechanik, der Thermodynamik, der Maxwellschen Theorie des Elektromagnetismus, und manche Physiker rechnen die Allgemeine Relativitätstheorie (Einstein, Lorenz, Minkowski) und die spezielle Relativitätstheorie (Einstein, Poincare) trotz ihrer Folgenschwere noch zu der durch ihren - ein Glaubenshindemis darstellenden - Determinismus gekennzeichneten klassischen Physik.

Die euklidische Geometrie ist in dem Sinn „apriorisch", daß aus den Axiomen dieser Geometrie die in ihr geltenden geometrischen Sätze mit logischer Notwendigkeit folgen. Die Allgemeine Relativitätstheorie lehrt aber, daß der zum Raum-Zeit-Konti-nuum erweiterte physikalische Raum wegen der durch Materie verursachten Krümmung kein Modell für die euklidische Geometrie darstellt. Die spezielle Relativitätstheorie lehrt, daß Materie und Energie praktisch dasselbe sind.

Die Wende in der modernen Physik beginnt mit der Quantenmechanik, vor allem verknüpft mit den Namen Planck, Schrödinger, Heisenberg und Jordan. Im Gegensatz zu dem klassischen Satz „Die Natur macht keine Sprünge" vollziehen sich im atomaren Bereich Veränderungen in Quantensprüngen.

Im atomaren Bereich gut nicht mehr vollständige Determiniertheit. Manche physikalische Bestimmtheiten an einem atomaren Teilchen (zum Beispiel Elektron) wie Ort und Impuls können prinzipiell nicht gleichzeitig genau gemessen werden. Atomare Teilchen wie auch Licht haben die Disposition, unter gewissen Bedingungen als Materieteilchen in Erscheinung zu treten und zugleich die Disposition, unter gewissen anderen Bedingungen als Welle in Erscheinung zu treten; aber nur eine dieser beiden Dispositionen kann sich zu einem bestimmten Zeitpunkt manifestieren.

Im atomaren Bereich treten neben den bekannten elektromagnetischen Kräften und Gravitationskräften noch das von Hadronen (also den Mesonen und Baryonen und den sie konstituierenden Quarks) erzeugte, durch Austauschteilchen vermittelte Hadronen-feld (oder Feld der starken Wechselwirkung) und schließlich das von den Leptonen ausgehende, ebenfalls durch Austauschteilchen vermittelte Lepto-nenfeld (oder Feld der schwachen Wechselwirkung) auf. Die beiden letztgenannten Kräfte folgen nicht einem invers quadratischen Gesetz im Gegensatz zu den beiden erstgenannten Kräften. Das Naturgeschehen im atomaren Bereich ist nicht mehr lückenlos determiniert. Im atomaren Bereich herrscht eine individuelle Zerfallsindeterminiertheit: von einer radioaktiven Substanz weiß man genau, in welcher Zeit sie entsprechend der Halbwertszeit bis zur Hälfte zerfallen sein wird, von zwei beliebigen individuellen Atomen der Substanz steht aber nicht fest, welches von beiden früher zerfallen wird.

Die Konsequenzen der Quantenphysik sind mannigfaltig. Ferner steht im Gegensatz zur Meinung von Giordano Bruno heute nach Entdeckung der Radio wellenhintergrundstrahlung fest, daß das Universum nicht von unendlicher Dauer ist, sein Alter seit dem Urknall rund 15 (plus/minus fünf) Milliarden Jahre beträgt; das Alter der Erde beträgt rund vier bis viereinhalb Milliarden, das des Menschen eine halbe bis eine Million Jahre. Die in der unendlichen Weltendauer und der strengen Determiniertheit liegenden Glaubenshindernisse der klassischen Physik sind durch die moderne Physik ausgeräumt.

Manche der Schöpfer der modernen Physik haben in der Schönheit und Eleganz der modernen physikalischen Theorien eine Glaubensmotivation erfahren. „Die Erkenntnisse der modernen Physik verneinen das alte Weltbild, das seinerzeit Gott verleugnet hat." (Jordan). Nach Ansicht mancher Physiker (Hawking, Penrose und anderen) ist die Entwicklung der modernen Physik nicht abgeschlossen. Eine im Entstehen begriffene Theorie der Quantengravitation läßt manche Klärungen (etwa der Weyischen Krümmungshypothese, kurz dauernder, sich ausgleichender Verletzungen des Energieprinzips und so weiter) erwarten. vorübergehend gleich nach ihrer Entstehung die Evolutionstheorie von manchen, wenn schon nicht als Glaubenshindernis schlechthin, so als Bibelglaubenshindernis angesehen.

Die heutigen Entwicklungen in den Neurowissenschaften (Neurophysio-logie, Neuropsychologie, Neuroinfor-matik, Neuropathologie, Neurochirurgie, Neuropharmakologie, Experimentelle Tierneuropathologie) mit ihren verbesserten EEG-Methoden, der Positronenemissionstomographie, computerisierter Hirndurchblutungsmessung und so weiter brachten tiefere Einsichten in die psychophysischen Korrelationen und deren Störbarkeit. Eine Reduktion des Psychischen, insbesondere des bewußt Psychischen auf das hirnphysiologische Geschehen ist jedoch trotz des innigen interaktiven Ganzheitszusammenhanges nicht gelungen und dem Wesen des Psychischen entsprechend auch nicht zu erwarten. Faßt man das menschliche Gehirn als einen dem psychischen Subjekt zur Verfügunge stehenden parallel verarbeitenden Biocomputer (auf der Basis neuronaler Netze) auf, so lassen sich Unterschiede zu entsprechenden technischen Systemen angeben: die synaptischen Verschal-tungen im Gehirn zeichnen sich durch eine Variabilität aus, auf der die sogenannte Plastizität des Gehirns beruht.

Ein letzter modemer Aspekt sei noch erwähnt, der der sogenannten Künstlichen Intelligenz. Die große Bedeutung des Computers in Wissenschaft, Technik, Medizin, Industrie und Wirtschaft ist weitgehend bekannt. Die Künstliche-Intelligenz-Forschung sucht ein Maximum an menschlicher intelligenter Tätigkeit durch den Computer zu simulieren. Radikale Künstliche Intelligenz-Forscher haben es sich zum Ziel gesetzt, die alte Lamettrie'sche These „Der Mensch eine Maschine" zu bestätigen.

Diese These ist jedoch von vornherein fragwürdig. Die elektronische Maschine, die kraft eingegebener Programme intelligente Leistungen etwa als Rechner, Gedächtniskünstler, Experte, Roboter und so weiter vollbringt, kann den algorithmischen (rekursiven) Bereich nicht überschreiten; aus berühmten und gefeierten -mit den Namen Kurt Gödel, Alonzo Church, Paul Cohen verknüpften -Resultaten dieses ausgehenden Jahrhunderts läßt sich deduzieren, daß eine ideale (allerdings nicht realisierbare) elektronische Maschine wohl alle Sätze einer axiomenbestimmba-ren mathematischen Theorie auf der Basis einer Berechnungsvorschrift aufzählen könnte, sie aber nicht imstande wäre, in endlicher Zeit die Frage zu beantworten, ob ein Satz einmal in der Aufzählung auftreten wird, ebenso, daß sie nicht imstande ist, für einen in der Theorie auftretenden unentscheidbaren Satz festzustellen, ob er oder seine Negation wahr ist.

Femer läßt sich deduzieren, daß der Mensch kraft ihm, aber nicht der Maschine zukommender höherer Bewußtseinsformen (bedeutungser-fassendem - also nicht bloß symbolmanipulierendem Denken, intuitivem Einsehen in die Verhältnisse vorgegebener idealer Strukturen) prinzipiell die Fähigkeit hat, den algorithmischen (rekursiven) Rahmen zu sprengen. Trotz weiter zu erwartender blendender Fortschritte auf dem elektronischen Sektor sind echte Glauben shin -demisse nicht zu erwarten.

Zusammenfassend kann man sagen, daß die Glaubenshindernisse in der ersten Hälfte der bisherigen Naturwissenschaftsentwicklung größer waren als in der zweiten Hälfte, in der Glaubenshindernisse weitgehend ausgeräumt wurden. Dies gilt für den Glauben aller drei großen monotheistischen Weltreligionen, insbesondere des Christentums. Verzichtet man auf Gottesbeweise, so stellt der bloße Glaube in logischer Hinsicht die Akzeptierung eines außematurwissen-schaftlichen Axioms dar, das unter anderem zur Erklärung der Existenz des Universums dient. Naturwissenschaftliche Fakten können die Akzeptierung dieses Axioms motivieren: „Sucht ihr mich, so werdet ihr mich finden" (Jes. 55,6 und so weiter).

Der Autor ist emeritierter Ordinarius für Logistik an der Universität Wien.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung