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Das Ende der eckigen Häuser

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Vom Blitz bis zum Blutgefäß: Viele Dinge, von denen der Mensch dachte, sie seien chaotisch, folgen einer strengen Ordnungsstruktur.

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Vom Blitz bis zum Blutgefäß: Viele Dinge, von denen der Mensch dachte, sie seien chaotisch, folgen einer strengen Ordnungsstruktur.

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In unserem Kulturkreis herrscht die Meinung vor, daß die Mechanismen der Natur, Wirtschaft, Technik und die des Menschen überwiegend linear funktionieren. Eine Federwaage zum Beispiel funktioniert im elastischen Bereich der Feder linear. Hängt man ein Gewicht an diese Federwaage, so zieht es die Feder auf eine bestimmte Länge. Ein doppelt so großes Gewicht zieht die Feder doppelt so weit nach unten und ein dreifaches Gewicht dreimal so weit. Hier ist die Wirkung ihrer Ursache streng proportional.

So glauben auch viele Autofahrer, daß das Tempo (=Wirkung) ihres Kfz linear mit der erhöhten Benzinzufuhr (^Ursache), die durch das Gasgeben erfolgt, steigt. Doch jeder Autofahrer erlebt es eigentlich täglich: Gibt man plötzlich Gas, so ist die Wirkung bei niederem Tempo weitaus höher, als bei hohem Tempo. Je höher das Tempo, desto weniger kann dieses also durch weitere Benzinzufuhr noch erhöht werden. Man nähert sich einem „Tempo”-Sättigungswert, der trotz erhöhten Benzinverbrauches nicht überschritten werden kann.

Aus diesem alltäglichen Ereignis lassen sich schon zwei Erkenntnisse ziehen:

1 .Vollgasfahren lohnt sich wirklich nicht.

2. Es handelt sich um eine nichtlineare Erscheinung.

Bei nichtlinearen Beziehungen verändert sich die Wirkung nicht im gleichen Maße wie die Ursache.

Wenn in nichtlinearen Ereignissen positive Bückkoppelungen überwiegen, dann kann es zu Unvorhersagba-rem, Durcheinander, Wirrwarr, Unordnung, Verwüstungen, Verwirrungen, Turbulenzen, Explosionen kommen beziehungsweise in das Chaos führen. Das exponentielle Anwachsen von etwas ist eine der Grund-funktionen des Chaos.

Wir sind von exponentiellen Entwicklungen umgeben, die zu Beginn harmlos erscheinen und sich dann plötzlich überschlagen und sich als Bumerang erweisen. Die sich in immer kürzeren Zyklen verdoppelnden Müllhalden und Automobile, die jährlichen Abgasemissionen im Straßenverkehr, die jährliche Plutoniumsproduktion.

Auch unsere exponentielle Boh-stoffausbeute steuert immer rascher auf endgültige Grenzen zu. Solange eben die letzte Tonne Silber, Kupfer, Erdöl, Zink, Uran noch nicht gefördert ist, werden wir vom Mangel nichts spüren. Danach wird aber schlagartig unsere gesamte Technologie zusammenbrechen. Durch Recycling läßt sich die Rohstofferschöpfung verzögern. Doch die exponentielle Kurve bleibt, solange der Verbrauch exponentiell steigt. Wenn auch um einige Jahrzehnte verzögert, tritt letztlich die Katastrophe ein.

Das wichtigste, was wir in diesem Zusammenhang von der neuen Chaosforschung lernen können, ist, daß wir in einer Welt voller nichtlinearer Ereignisse leben, in der Lineares eher die Ausnahme bildet. Wir Menschen sind als komplexe Wesen vollberechtigte Mitspieler in dem Reigen permanenten Wandels, der Evolution heißt. Daß gerade in den siebziger und achtziger Jahren die Chaostheorie geboren wird, hängt mit dem fruchtbaren Boden zusammen, auf dem die kühnen Ideen vieler Wissenschaftler gedeihen.

In einer geradezu heilen Welt des Wohlstandes, der Vorhersagbar- und Berechenbarkeit gibt es zunehmend Ereignisse, mit denen niemand gerechnet hat. Die Ölkrise sitzt heute noch vielen Mitmenschen in den Knochen. Haben wir es doch deutlich zu spüren bekommen, daß Wachstum Grenzen hat und unsere Unabhängigkeit von anderen Staaten, Kulturen und Menschen ebenfalls. Das Umweltbewußtsein in der Bevölkerang wächst und es formieren sich Bürgerinitiativen, die zu verstehen geben, daß unsere Welt nicht so heil ist, wie wir sie gern hätten. Alte Ordnungen werden hier und da in Frage gestellt. Alles in allem: es funktioniert vieles nicht mehr so, wie geplant. In diesem Umfeld entsteht die Chaostheorie, die die Zufälligkeit, Unste-tigkeit und Unvorhersagbarkeit zu ihrem Forschungsgegenstand macht. Eines der Ziele dieser Bemühungen ist es, herauszufinden, ob das Chaos ei -genen Gesetzmäßigkeiten folgt.

Biologen, Physiker, Mathematiker, Mediziner, Ökonomen, Ökologen, Chemiker und so weiter befassen sich zum großen Teil unabhängig voneinander mit dem Aufbau und Verhalten lebender Systeme.

Die Chaos-Theorie hat viele Väter und sie entstammt weniger der Feder eines einzelnen Genies. Dennoch gibt es einzelne Personen, die die Chaosforschung maßgeblich beeinflussen.

Der französische Physiker, Mathematiker und Philosoph Henri Poin-care, der schon im Ausklang des 19. Jahrhunderts im Chaos forschte, ist ebenso wie Max Planck zu erwähnen, der entdeckte, daß Energie keine kontinuierliche Substanz ist, sondern in Quanten daherkommt und Albert Einstein, dessen Belativitätstheorie durch und durch Nichtlinearität beinhaltet.

Die Erkenntnisse dieser berühmten Wissenschaftler führten zur Entwicklung von Computerchips, Lasern und Atomwaffen.

Ebenso existieren viele „Chaosdenker”, die nicht direkt unter dem Segel der Chaostheorie fahren, aber Parallelen zu ihr aufweisen. So entwickelte Benoit Mandelbrot, der seit 1958 als Forscher in dem höchst angesehenen Thomas J. Watson Besearch Center der IBM in Yorktown Heights im Staate New York arbeitet, die Idee einer neuen Geometrie.

Sie wird in den nächsten Jahrzehnten die naturwissenschaftliche Weltsicht, die stark durch Euklid und Isaack Newton geprägt ist, verwandeln.

Mandelbrot hat entdeckt, daß die scheinbar uns unregelmäßig und chaotisch anmutenden Formen von Bergen, die nicht kegelförmig sind, Blitzen, die keiner geraden Linie folgen, Küstenlinien, die keine Krise sind und so weiter, tatsächlich eine gewisse geometrische Begelmäßigkeit aufweisen.

Betrachten wir die Silhouette eines Berges aus 50 Kilometer Abstand, so ist sie zwar unregelmäßig, aber doch gut erkennbar. Je näher wir heran-kommen,imfeo mehr Details werden sichtbar. Selbst wenn wir beginnen den Berg zu besteigen, werden wir die gleichen unregelmäßigen Muster in den Details der einzelnen Felsen wiederfinden. Die komplexen Systeme der Natur behalten anscheinend ihr Aussehen im Detail auf immer kleineren Skalen bei. Die Bilder von ganz verschiedenen Größenskalen rufen den Eindruck von Ähnlichkeit und Wiedererkennbarkeit hervor.

Schaut man sich die Venen und Arterien mit ihren ständigen Verzweigungen in Anatomiebüchern an, so erscheinen sie zunächst als chaotisch. Betrachtet man diese Bilder detailliert, so wird klar, daß sich das gleiche komplexe Verzweigungsmuster bei kleineren und immer kleineren Blutgefäßen bis hinunter zu den Kapillaren wiederholt.

Mandelbrot hat die neue Sprache zur Beschreibung vielfältiger Formen in Wissenschaft und Natur „Fraktale Geometrie” genannt. Sie hat in Mathematik und Naturwissenschaften ein neues Denken in Gang gesetzt.

Vielleicht werden unsere Häuser in Zukunft andere Formen haben. Nicht mehr rechtwinkelig, eckig oder bestenfalls kreisförmig. Mit der Man-delbrotschen Geometrie werden Formen und Flächen, die bislang als faltig, gewunden, körnig, pickelig, pockennarbig, polypenförmig, schlängelnd, seltsam, tangartig, verzweigt, wirr und wuschelig galten, salonfähig. Die Kreativität erhält neue Dimensionen, deren Auswirkungen in allen unseren Lebensbereichen noch nicht absehbar sind.

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