Die neue Weltsicht heißt Komplexität

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Dass die Welt auch für moderne Manager scheinbar immer unüberschaubarer wird, sollte uns nicht beunruhigen. Im Gegenteil: Diese Entwickung birgt enorme Chancen.

Wir alle haben unterschiedliche Visionen von der Zukunft, aber kaum jemand wird bezweifeln, dass die Welt in den letzten Jahrzehnten um einiges komplexer geworden ist. Nicht wenige empfinden das als beunruhigend. Mit der fortschreitenden Digitalisierung hat auch die Vernetzung zwischen Menschen und Dingen sowie von Software zu Software exponentiell zugenommen. Dichte globale Netzwerke kennzeichnen unser Umfeld. Diese Vernetzung und wechselseitige Abhängigkeit bringt auf allen Ebenen neue Risiken, aber auch neue Möglichkeiten mit sich.

Vor etwa dreißig Jahren begannen Wissenschaft und Forschung sich mit Komplexität als eigener Disziplin zu befassen. Bekanntestes Beispiel hierfür dürfte der Schmetterlingseffekt sein, der besagt, dass ein scheinbar unbedeutendes Ereignis (wie der Flügelschlag eines Schmetterlings) eine Kette von Ereignissen auslösen kann, die an einem völlig anderen Ort zu gewaltigen Veränderungen im Gesamtsystem führt (etwa zu einem Hurrikan).

Im Zuge dessen setzte sich auch bei Managern die Erkenntnis durch, dass Firmen und Organisationen nicht nur kompliziert sind, sondern komplex (siehe Kasten). In der Praxis hat sich jedoch wenig verändert. Das aufbrandende Interesse an komlexitätsorientiertem Denken führte kaum zu Veränderungen im Management der großen Firmen und Konzerne. Weshalb? Und gibt es Chancen einer Trendwende?

Grenzen des Shareholder-Value

Wo Komplexität ist, haben Manager seit jeher Modelle und Mechanismen entwickelt, um sie auszublenden. Je weniger Variablen sie berücksichtigen müssen und je unmittelbarer der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung erscheint, desto einfacher war die Entscheidungsfindung.

Die Maximierung des Shareholder-Values, der heutzutage weitgehend darüber bestimmt, wie börsennotierende Großunternehmen operieren, ist hierfür ein gutes Beispiel. Dass ständige Ausgaben- und Investitionskürzungen sowie Veräußerung von Vermögenswerten zwar kurzfristig die Rendite steigern, einem Unternehmen aber auf lange Sicht schaden, wissen wir längst. Dennoch handeln nicht wenige Führungskräfte nach genau dieser Maxime. Doch die Maxime "der Aktionär allein ist König“ beginnt immer stärker zu bröckeln. Eine immer größer werdende Zahl von Vordenkern stellt sich der "Shareholder-Value-Maximierungs-Philosophie“ entgegen, immer mehr Konzerne bemühen sich, Komplexität bei ihrer Einbettung in Ecosysteme der Wirtschaft und Gesellschaft in ihre Firmenphilosophie zu integrieren.

Als Systemdenker und -theoretiker in den 1980er und 1990er Jahren begannen, sich mit den Auswirkungen von Komplexität auf Organisationen zu beschäftigen, hatten sie nicht die nötigen Werkzeuge, um für die Praxis aussagekräftige Modelle zu erstellen. Doch der Zuwachs an Rechenkapazität sowie die mathematischen und statistischen Modelle, die mittlerweile zur Verfügung stehen, haben eine neue Ära eingeläutet. Auch die rapide zunehmende Vernetzung der Mitarbeiter durch soziale Medien könnte dem Modell der Lernenden Organisation neues Leben einhauchen.

Immer mehr Firmen schaffen in Form von Instant Messaging, Blogs und anderen Plattformen lebendige Netzwerke, in denen Wissen generiert und in noch nie da gewesener Geschwindigkeit über multiple Kommunkations-Kanäle, im Unternehmen, dessen Partnernetzwerk und selbst im Kundenkreis geteilt wird.

Das Fehlen der nötigen Technologie war nicht der einzige Grund, weshalb viele Manager vor dem Thema Komplexität zurückscheuten. Viele plagte die Sorge, ob wir irgendwann einen Scheitelpunkt erreichen, an dem das menschliche Denken marginalisiert wird - ob eines Tages Roboter und Computer den Wissensarbeiter verdrängen, wie Ray Kurzweil prophezeit.

Glücklicherweise findet die Erkenntnis immer größere Verbreitung, dass Computer zwar unser Wissen und unsere Verarbeitungskapazität erweitern, aber das menschliche Urteilsvermögen nicht ersetzen können. Sie sind und bleiben Zulieferer. Letztendlich kommen wir zur Erkenntnis, dass Technologie allein die Probleme komplexer Organisationen nicht lösen kann: Maschinen sind dazu da, dem Menschen zu dienen - nicht umgekehrt.

Selbstverschuldete Komplexität

In ihrem Bestreben, einstellig wachsenden Märkten zweistellige Gewinne abzuringen, verstricken viele Firmen sich in einem regelrechten internen Komplexitätsdschungel, ohne zu merken, dass sie ihn selbst erschaffen haben. Ursache für diese "Komplexitätskrise“, wie John Marotti das Phänomen in seinem gleichnamigen Buch nennt, ist eine ausufernde Diversifizierung im Bereich Produkte, Kunden, Märkte, Zulieferer, angebotene Leistungen und Standorte. Durch jeden einzelnen dieser Punkte fallen verdeckte Kosten an, die von den Buchhaltungssystemen unerfasst bleiben.

Außerdem begünstigt Komplexität eine Zersplitterung des Managementfokus. Auf diese Weise führt die Komplexitätskrise in vielen Firmen zu Gewinnverlusten, die selbst für jene unerkannt bleiben, die sie selbst verursacht haben. Allerdings gewinnen neue Ideen rasch Momentum: in Emerging Markets geht man dazu über, Produkt- und Serviceportfolio von unnötiger Komplexität zu befreien und sie auf spezifische Kundenbedürfnisse, darunter die Bezahlbarkeit des Produkts, zuzuschneiden. Die komplexitätsreduzierende Innovation war im Bereich der mobilen Endgeräte und in der Medizintechnik erstaunlich erfolgreich. Nachdem sie sich bewährt hatten, fanden Produkte auch auf größeren Märkten Verbreitung.

Phänomen unbeabsichtiger Folgen

Für Firmen und Konzerne ist diese Situation schwierig genug, Regierungen und die öffentliche Verwaltung sehen sich noch größeren Herausforderungen gegenüber. Große Entscheidungen werden getroffen ohne ernsthafte Versuche, die Folgewirkungen durchzudenken. Die "unerwünschten Nebenwirkungen“ bei Gesetzen sind Legion. Vielfach wird durch scheinbar dem Gemeinwohl dienende Aktionen das Gegenteil dessen bewirkt, was beabsichtigt war: dass im Rahmen der deutschen Energiewende nun die Braunkohle und damit CO2 ein Comeback feiern, ist eines der besorgniserregenden Beispiele.

Während der letzten Jahre hat unter Managern das Bewusstsein, welch große Herausforderung Komplexität darstellt, enorm zugenommen. Dennoch sind die meisten Managementpraktiken nach wie vor in der präkomplexen Welt verhaftet. Mit seinen Erkenntnissen zum Thema Wissensgesellschaft und -arbeit hat Peter Drucker die Grundlagen für komplexitätsorientiertes Management geschaffen. Führungskräfte müssen Rahmenbedingungen schaffen, in denen Komplexität genutzt werden kann - durch stärkere Delegation von Verantwortung an Wissensarbeiter, durch Förderung einer offenen, von Vertrauen getragenen, Kultur und durch eine technologische Infrastruktur, die die Reaktionsfähigkeit des Unternehmens exponentiell erhöht.

Wenn wir diese Prinzipien in der Praxis anwenden, können sich Organisationen endlich weg von komplizierten, durch strikt verteilte Kompetenzen und unflexible Hierarchien charakterisierte Einrichtungen, hin zu adaptiven und komplexen lernenden Systemen entwickeln. Einen solchen "Mondflug“ - wie ihn Gary Hamel in seinem klassischen Havard Business Review-Artikel 2009 beschrieben hat - Realität werden zu lassen, wird nicht einfach sein. Der Entwicklungsschritt vom linearen Denken hin zu einem komplexitätsorientierten Ansatz stellt einen Paradigmenwechsel dar, der durchaus vergleichbar ist mit dem Wechsel von der Newton’schen zur Einstein’schen Physik. Einsteins Erkenntnisse haben die Newton’schen Gesetze nicht außer Kraft gesetzt, aber sie eröffneten uns eine neue Welt.

In diesem Sinne muss Komplexität zur neuen Weltsicht werden, zu einer geistigen Grundhaltung, auf der alle Bewertungen und Entscheidungen fußen.

Diese Seite entstand in Kooperation mit dem Drucker Forum .

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