Das Zeichnen neuer LANDKARTEN

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Mit der Aufklärung begann die europäische Weltdominanz. Es braucht eine neue Aufklärung, um die Zukunft zu bewältigen. Ein Alpbach-Essay.

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Mit der Aufklärung begann die europäische Weltdominanz. Es braucht eine neue Aufklärung, um die Zukunft zu bewältigen. Ein Alpbach-Essay.

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Der Kurs europäischer Gesellschaften gleicht den Entdeckungsreisen der Seefahrer längst vergangener Tage. Landkarten, die Orientierung geben sollen, scheinen ihren Wert verloren zu haben. Wir reisen ins Ungewisse und müssen in vielen Bereichen erst neue Wege und Routen erkunden.

Anders die Situation vor zweihundertfünfzig Jahren, zu Lebzeiten von Kant, Rousseau und Voltaire. Die Aufklärung stand als großes intellektuelles Projekt eines selbstbewussten Europas in ihrer Blüte. Die industrielle Revolution, die umwälzenden Erkenntnisse der Wissenschaften und die Menschenrechte gingen aus ihr hervor. Noch Generationen später entfalteten die Licht- und Schattenseiten der Aufklärung ihre Wirkung. Ein Jahrhundert der geistigen und geopolitischen Vormachtstellung Europas war das Resultat. Doch welche Rolle spielt Europa heute? Wie kann es in einer multipolaren Welt seine Werte glaubwürdig vertreten? Welche Konzepte stellen wir den neuen Herausforderungen entgegen und welche Werkzeuge und Motoren helfen uns dabei? Unter dem heurigen Alpbacher Generalthema "Neue Aufklärung" stellen sich mir diese und andere fundamentale Fragen, die wir als Gesellschaft dringend klären müssen.

Der Umgang mit Komplexität ist zur zentralen Frage des 21. Jahrhunderts geworden. Während die Technokratie an Komplexität scheitert, halten wir an ihren alten, verkrusteten Denkmustern fest. Und das, obwohl zudem die Erkenntnisse der Hirnforschung, der Neurolinguistik und der Verhaltenspsychologie das Cartesianische Menschenbild fundamental in Frage stellen. Heute müssen wir akzeptieren, dass Rationalität nicht automatisch zu Verhaltensänderung führt. Diese werden wir aber brauchen, um eine drohende globale Ökologische Katastrophe abzuwenden. Unser rein konsum-und wachstumsorientiertes Gesellschaftsmodell treibt unseren Planeten in den Ruin. Die intellektuellen Werkzeuge der Aufklärung von damals reichen nicht also mehr aus, um die Herausforderungen von heute zu meistern.

Die Errungenschaften empirischen Arbeiten haben uns gelehrt, wie Menschen zu Entscheidungen kommen, wie sie Urteile bilden und Neues schaffen. Methodische Ansätze wie Design Thinking und Service Design finden langsam ihren Weg in die Unternehmen und Organisationen des Landes, weil sie sichtbar bessere Ergebnisse in der Entwicklung von Produkten und Dienstleistungen bringen und weil sie den Menschen in den Mittelpunkt stellen. In vielen Organisationen ist auch Crowdsourcing, die Einbindung von Stakeholdern in einen Innovationsprozess, gelebte Praxis geworden. Die systemische Organisationsentwicklung ist längst kein Orchideenfach mehr.

Abseits der Hierarchien

Dezentrale Organisationsformen abseits von Hierarchien begeistern eine junge Generation von Unternehmerinnen und Unternehmern. Offene Innovationsprozesse stellen den Nutzen von patentiertem und geschätztem Wissen erfolgreich in Frage. Neue sozial und ökologisch verankerte Geschäftsmodelle mischen die Märkte auf. Kooperative Bewegungen und das Gemeinwohldenken erleben einen Aufschwung. Sind diese Formen schon erste Manifestationen einer neuen Aufklärung oder doch nur Zeichen einer zusehenden Fragmentierung?

Ein gefüllter Methodenkoffer alleine reicht nicht aus, wenn wir - bleiben wir bei der Seefahrermetapher - wirklich Neuland entdecken wollen. Wir müssen uns bewusst aus unseren geistigen und strukturellen Silos befreien.

Die Finanzkrise 2008 ist ein Paradebeispiel dafür, wie unter anderem strukturell verankerte Blindheit und Fragmentierung in Banken eine Früherkennung massiver Risiken verhindert haben. Die Chefredakteurin der Amerikanischen Ausgabe der Financial Times, Gilian Tett, bietet in ihrem jüngsten Buch "The Silo Effect" eine anschauliche Analyse zu diesem Thema, das uns wohl noch länger begleiten wird.

Noch immer unterschätzen wir die intellektuelle Radikalität der Aufklärung und Kühnheit ihrer Akteure. Aufgeklärtes Denken barg Risiken und viele dieser Intellektuellen agierten im Untergrund. Welche Thesen stoßen heute auf Widerstand, wie einst die Ideen von Diderot und Holbach? Wer stellt bestehende Herrschafts-und Gesellschaftsmodelle in Frage? Wo sind die Pioniere, die Konzepte und Utopien mit Veränderungskraft liefern?

Es stellt sich ebenso die Frage, welche Konzepte wir jenen entgegenhalten können, die mit aller Kraft versuchen, das Erbe der Aufklärung mit Radikalisierung, Populismus oder religiösem Fundamentalismus zu sprengen. Welche konstruktiven Zukunftsbilder bieten wir an? Wie sieht eine Welt mit qualitätsvollem Wachstum aus, das ein Mehr an Lebensqualität und sozialer Kohäsion bedeutet und nicht unbedingt ein Ansteigen des BIP? Wie könnte ein Leben in einer reduktiven Moderne aussehen?

Wir müssen Menschen aufsuchen und ins Rampenlicht zu stellen, die diese neuen Ideen bereits in ihrer Praxis leben. Die französischen Filmemacher Melanie Laurent und Cyril Dion zum Beispiel mit "Tomorrow", ihrem wunderbaren Film der Hoffnung.

Die Veränderung leben

Auch in Alpbach geben wir jenen Menschen eine Bühne, die Veränderung leben. Zu ihnen gehören auch jene Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, denen es durch unermüdlichen Einsatz und Überzeugungsarbeit gelingt, Integration von Menschen auf der Flucht in ihren Gemeinden zum Erfolg zu machen.

Digitalisierung und das Internet wurden anfänglich als Aufbruch in eine neue Epoche der Aufklärung interpretiert. Allein der Zugang zu Wissen würde die Menschheit vor Radikalisierung und Ideologien schützen, so die Annahme. Hass im Netz, Cybermobbing und Echokammern beweisen uns das Gegenteil. Wer heute in die Krisenherde der Welt blickt, erkennt, dass die Vernetzung und Globalisierung nicht automatisch zu mehr Frieden und Kooperation führen. Manche Regime nutzen die Werkzeuge der Digitalisierung gezielt zur Manipulation und Überwachung.

Automatisierung der Arbeitswelt

Die Roboter haben die Werkshallen längst verlassen, Automatisierung durchdringt die Arbeitswelt und verändert die Wirtschaft von Grund auf. Gleichzeitig ergeben sich enorme technische Möglichkeiten, die wir zum Nutzen aller einsetzen können. Welche Aufklärung der Öffentlichkeit braucht es, um Nutzen zu erkennen und Risiken richtig abzuschätzen? Welche Art der Digitalisierung wollen und brauchen wir überhaupt?

Klar ist, Bürger brauchen Einsicht und Steuerungsmöglichkeiten in die Algorithmen von Facebook &Co, die durch die selektive Auswahl von Nachrichten unser Weltbild mitformen. Für uns ist es selbstverständlich, die Inhaltsstoffe eines Präparats aus der Apotheke zu studieren. Genauso selbstverständlich sollte es sein, die "Inhaltsstoffe" von sozialen Netzwerken zu ergründen. Wenn schon nicht kollektiv, dann sollten wir diese zumindest individuell mitsteuern können.

Wie auf Entdeckungsreise erleben wir schließlich, wie bislang gültige Wahrheiten hinterfragt, neu interpretiert und entkräftet werden müssen. Scheinbar sichere Modelle in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sind obsolet. Ich habe versucht, Gedanken unter dem Thema "Neue Aufklärung" zu formulieren, umso wichtiger sind mir aber die Erkenntnisse, die im Dialog mit Menschen aus allen Generationen, Disziplinen und Regionen unter dem Generalthema "Neue Aufklärung" beim Europäischen Forum Alpbach 2016 entstehen werden. Kritisches Denken ist bei diesem Dialog, wie schon zu Zeiten der Aufklärung, Voraussetzung und Pflicht -etwas, das uns auch Maschinen in absehbarer Zeit nicht abnehmen werden.

Der Autor ist Generalsekretär des Europäischen Forum Alpbach

Auf der Suche nach Erleuchtung

Das Europäische Forum Alpbach will die Möglichkeiten für ein Zeitalter der "Neuen Aufklärung" ausleuchten. Gibt es Wege zu einem radikalen Umdenken, das die Probleme der globalisierten Gesellschaft besser lösen kann? Welche Rolle kommt dabei den Wissenschaften zu? Kann auch die Religion einen Beitrag leisten? Eine Erleuchtungsreise mit FURCHE-Beteiligung.

Redaktion: Oliver Tanzer

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