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Die Wirklichkeit ist ganz anders

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Die Salzburger Pädagogische Werktagung („In die Zukunft begleiten”, 15. bis 19. Juli 1985) begann mit einem richtungweisenden - hier gekürzt wiedergegebenen - Referat.

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Die Salzburger Pädagogische Werktagung („In die Zukunft begleiten”, 15. bis 19. Juli 1985) begann mit einem richtungweisenden - hier gekürzt wiedergegebenen - Referat.

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Gerade beim Versuch, das Verhalten komplexer Systeme zu verstehen, spielt uns ein bloßes Spezialwissen, ja selbst eine rein logische Denkweise oft die übelsten Streiche. Man denke nur an die katastrophalen Ergebnisse unserer klassischen Entwicklungshilfe oder auch an die mißlungenen Maßnahmen der Sanierung unserer Wirtschaft, an die Uberkapazitäten, die ins Desaster führten, an Technologien, die sich selbst ad absurdum führen, wie die Kernenergie, das Uberschallflugzeug Concorde oder die Supertanker, und an die schon grotesken Entwicklungen in unserer EG-Landwirtschaft, um nur einige Beispiele zu nennen. Alles von hochdotierten Experten geplant, auf der Grundlage genauer Daten und logischer Schlüsse, doch nicht im Zusammenhang, als Teil eines lebendigen Ganzen!

Ich glaube, daß unsere heutige Lage folgendes von uns verlangt: Nachdem unsere Industriegesellschaft den kognitiven Gehirnbereich und seine monokausale Logik im Laufe der letzten Jahrhunderte so großartig entwickelt hat, müssen wir in einem neuen Bewußtseinsschritt auch die anderen Gehirnpartien in unser Denken und Handeln einbeziehen. Damit meine ichvor allem Funktionen wie Kreativität und Intuition, die Fähigkeit, Wesentliches zu erkennen, weiterhin den äußerst subtilen und in der Informationsverarbeitung extrem schnellen Gefühlsbereich und über ihn natürlich auch das gesamte hormonelle Wechselspiel. All dies muß neben dem kognitiven Bereich auf einer neuen Ebene in unser Denken — und damit auch Lernen — Eingang finden.

Das heißt nichts anderes, als daß sich in erster Linie in unserer Ausbildung etwas ändern muß: an demjenigen Faktor, der jenes unvernetzte Denken zunächst zementiert hat, an denjenigen Lernformen, die vom ersten Schultag an das mit der Realität vernetzte Denken austreiben. Ich sage bewußt austreiben, denn wir müssen es keineswegs als etwas Fremdes neu lernen, wir müssen es lediglich wiederentdecken. Denn es entspricht unserer innersten Natur. Dazu ein paar konkrete Beispiele:

Wenn auf die Frage: „Was ist ein Stuhl?” ein Vorschulkind noch sagt: „Ein Stuhl ist, wenn man sich draufsetzen kann”, so wird jenes mit der Umwelt verflochtene Ding in der Schule sehr bald unter dem Begriff „Möbelstück” eingeordnet. Der Sommer ist nicht, wenn die Frösche quaken, wenn warmer Wind weht, wenn es nach Heu riecht, sondern er wird zur „Jahreszeit”. Und ein Frosch ist nicht etwa ein wichtiger Bewohner eines Feuchtgebietes, sondern er wird in die Familie der Ronidae eingeordnet, diese wiederum in die Ordnung der Anuro, die selbst wieder zur Klasse der Amphibien gehören. Und da bleibt er dann! Der Zusammenhang verschwindet, und es entsteht eine Art Kreuzworträtsel-Intelligenz.

Der Schluß, den wir daraus ziehen müssen, ist nicht angenehm. Denn das heißt nichts anderes, als daß unsere Schulen und Hochschulen die Auszubildenden betrügen, weil sie ihnen ein falsches Wirklichkeitsbild präsentieren.

So sind wir zwar darin geübt, die einzelnen Dinge sauber getrennt nach Fach- und Lebensbereich zu beschreiben, jedoch nicht die sie in der Wirklichkeit verbindenden Beziehungen. Denn nur in der Theorie, nicht aber in der Praxis liegen die Dinge so fein säuberlich nebeneinander getrennt. In der Wirklichkeit haben wir es ausschließlich mit komplexen Systemen zu tun.

Das geht bis in die Art unserer Landesplanung hinein, wo man vielfach auch nur die Dinge für sich betrachtet: Straßen, Häuser, Wälder, Gewerbegebiet, Arbeitslosenzahl, Bevölkerungsmigration usw----Doch in Wirklichkeit erfahren wir dadurch nicht das mindeste über ihre Funktion, über ihre eigentliche Rolle im System. Denn die ist von Fall zu Fall verschieden. Sie ergibt sich nicht aus den Komponenten selbst, sondern aus ihren Wechselwirkungen. Wir können noch so sehr dafür sorgen, daß die Einzelkomponenten unserer Welt, also jene Straßen und Häuser und Fabriken perfekt geplant und sorgfältig gebaut und abgesichert sind, mit Prüfsiegel usw., und dennoch kann das Zusammenspiel des Ganzen in ein Chaos führen.

Und damit komme ich wieder zurück zu unserem Gehirn, zum Lernen und Denken. Denn die Fähigkeit, vernetzt zu denken, das Gesicht der Wirklichkeit zu erkennen und dann weit schneller und leichter das angebotene Wissen dort einzuspeichern, diese Fähigkeit hängt eng damit zusammen, inwieweit wir auch die „Querverdrahtungen” unserer verschiedenen Gehirnareale und Wahrnehmungsfelder nutzen, die Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Eingangskanälen wie Hören, Sehen und Fühlen oder zwischen den Steuerungsfeldern der Bewegung des bildhaften, des motorischen oder des logischen Erfassens, wie hier zwischen Kleinhirn, Großhirnrinde und Hypothalamus.

Das heißt aber nichts anderes, als daß wir die Aufnahme von Information, auch wenn sie nur durch einen gelesenen Text erfolgt, durch die Art dieses Textes zu einem Ganzheitserlebnis machen sollten. Wenn er intelligent gemacht ist -, und das sollte man eigentlich von einem Schulbuchschreiber erwarten — dann kann er ohne weiteres sonst oft brachliegende Gehirnareale aktivieren.

So haben wir einmal den einfachen Satz „Die Mutter kocht in der Küche”, unter dem man sich ja durchaus etwas Bildhaftes vorstellen kann, ins Schulbuchdeutsch übersetzt. Er heißt dann: „Der weibliche Elternteil ist im Begriff, die für Nahrungszuberei-tungsmaßnahmen reservierte Raumeinheit im Sinne entsprechend dafür erforderlicher Arbeitsabläufe der Nutzung zuzuführen.” Es ist klar, daß diese Information, obwohl sie den gleichen Inhalt hat wie vorher, sich eigentlich nur an wenigen Wortbegriffen aufhängen kann, aber weder verarbeitet noch gespeichert wird.

Ähnlich ist es mit folgendem authentischen Satz aus der Umweltpolitik: „Zur Vermeidung dilatorischer Formelkompromisse fordert eine optimalisierte Umweltpolitik die Institutionalisierung rationaler Zielfindungsprozesse, die operational definierbar sind und divergierenden Zielen im Sinne praktikabler Konkordanz angepaßt werden können.”

Wenn man diesen Satz aus dem Artikel eines Umweltjuristen übersetzt, heißt das dann lediglich noch folgendes: „Damit es mit den Umweltgesetzen vorwärts geht, müssen erreichbare Ziele gefunden werden, die man mit bestehenden Zielen vereinbaren kann.” Das entpuppt sich dann aber als so trivial, daß man es auch ganz weglassen kann. Vielleicht würden bei einer solchen Überarbeitung auch unsere Schulbücher beträchtlich dünner werden.

Mit diesen Beispielen wollte ich nur zeigen, daß jenes vernetzte Denken, das wir heute mehr denn je brauchen, bis in einzelne Bereiche hinein, wie es die Schulbuchgestaltung ist, fehlt und daß eine durchgehende Umstülpung unseres ganzen Ansatzes in der Ausbildung nicht nur nötig ist, um die Welt besser zu verstehen, sondern daß sie auch das Lernen als solches erleichtern und effizienter machen.

Damit plädiere ich, wie ich dies in meinem Buch „Denken, Lernen, Vergessen” dargelegt habe, für eine Schule und Hochschule, die den Menschen in seiner Ganzheit sieht, in der Intelligenz nicht nur seines Geistes, sondern auch in der Intelligenz seiner Gefühle und auch seines Körpers. Denn auch die Zellen unserer Gewebe, unserer Finger, unserer Augen sind intelligent. Sie zu vernachlässigen hieße, den Menschen in Richtung eines intellektuellen Monstrums auszubilden, ihn durch Uberbetonung einiger weniger Gehirnareale zu einem geistigen Krüppel zu machen.

Was können Sie als Eltern und Pädagogen dazu beitragen, um wenigstens einige der Schäden wettzumachen, die — natürlich von Lerntyp zu Lerntyp sehr unterschiedlich - uns schon als Kinder belasteten?

Zum Beispiel, indem wir den Kindern nicht auch zu Hause noch eine Heimschule draufsetzen, sondern ihnen soviel Ausgleich wie möglich schaffen. Ihnen musische Betätigung, Spiel und Gestaltung ermöglichen, ihnen helfen, den Unterrichtsstoff und die Unterrichtsthemen in irgendeiner Weise mit der realen Welt zu verbinden und dadurch erinnerungsmäßig zu verarbeiten, so daß auch ein wenig sinnvolle Motivation und Interesse hinzukommen, und nicht noch von Elternseite der Leistungsdruck erhöht wird, indem lediglich gute Noten erwartet werden.

Wenn ein Schüler oder eine Schülerin nicht den Numerus clausus für Medizin schaffen, dann werden sie sich eben in eine andere Richtung entwickeln, in einen Beruf, in dem sie vielleicht noch viel glücklicher sind. Und wenn sie gar die Matura nicht schaffen, dann werden sie vielleicht ein guter Handwerker, Sachbearbeiter oder Organisator, der nun wirklich wertschöpfende Arbeit tut, anstatt vielleicht irgendwo als höherer Beamter zu verstauben, sich in einem Universitätsinstitut in unsinnigen Prestigekämpfen zu verschleißen oder irgendein unsinniges Produkt herstellen und vertreiben zu helfen, jemand, der sich selbst in die Hand nehmen kann, vielleicht selbständig werden und dadurch sein Selbstbewußtsein stärken und so womöglich viel mehr erreichen kann: an geistiger, seelischer und körperlicher Befriedigung, an persönlicher Entfaltung und einem kreativen Familienleben.

Ein sinnvolles Leben

Ohnehin vollzieht sich zur Zeit ein tiefgreifender Wertewandel in unserer Gesellschaft, der nach neueren Untersuchungen selbst hochbegabte Hochschulabsolventen dazu bringt, lieber eine weniger hoch dotierte Tätigkeit auszuüben, die nach landläufiger Meinung ihrem beruflichen Niveau ganz und gar nicht entspricht, als sich vom Berufskampf aufzehren zu lassen und nur der Karriere zu leben. Ein sinnvolles reichhaltiges „Leben” ist wieder wichtiger geworden und rangiert vor Geld und Prestige. Und nur inwieweit sich eine Liebe zu seiner Arbeit entwickelt, der Beruf dann auch Leben ist, bringt er wirklich etwas für den einzelnen wie für die Gesellschaft.

Daß dieser Wertwandel offensichtlich im Gange ist, das ist, meine ich, eine sehr gesunde Entwicklung, die wir begrüßen sollten. Und wenn wir beginnen, das Lernen neu zu lernen und seinen Wert nicht mehr im bloßen Notenspiegel sehen, dann werden wir uns, wie Arthur Koestler sagt, „die Zukunft geneigt machen” und ihren wahrscheinlich sehr ungewohnten Problemen gegenüber gewappnet sein.

Prof. Dr. Frederic Vester ist Biochemiker und leitet die private „Studiengruppe für Biologie und Umwelt GmbH” in München.

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