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Die Schule der Demokraten und Diktatoren

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Der Mensch als soziales Wesen benötigt seinesgleichen. Er lebt deshalb nicht einsam und beziehungslos zur Masse der Bevölkerung, sondern jeder hat seinen festen Platz in der Struktur der Gesellschaft. Welche soziale Stellung er einnimmt, hängt nicht zuletzt davon ab, wie gut er die Spielregeln beherrscht, die zwischen ihm und seinen Nachbarn gelten.

In früheren Epochen war es. müßig, über diesen Zustand zu philosophieren, denn die Zusammenarbeit mit Vorgesetzten und Untergebenen war durch Tradition ausreichend geregelt. Heute, in unserer raschlebigen Zeit, kommen wir mit überlieferten Verhaltensweisen aber nicht mehr aus. Immer wieder werden wir vor neue Situationen gestellt, die ebenso neue Lösungen fordern. Erst durch systematische Untersuchungen der menschlichen Zusammenarbeit haben wir in den letzten Jahrzehnten angefangen, zu begreifen, wie unvollkommen unsere Führungsmethoden oft sind und wie wenig wir eigentlich von dem komplizierten Kräftespiel wissen, das zwischen den Teilnehmern einer Diskussionsgruppe abläuft, wenn es um Entscheidungen geht.

Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang Erhebungen über Gruppenverhalten, die zwischen den beiden Weltkriegen durch Kurt Lewin, den Begründer der Gruppendynamischen Schule, erstmalig durchgeführt wurden.

In wenigen Jahrzehnten war es ihm und seinen Mitarbeitern möglich, Forschungsresultate zu liefern, die uns aufhorchen lassen, weil sie unsere bisherigen Anschauungen über Autorität und Führung teilweise in Frage stellen.

Die an und für sich sehr interessanten Ueber-Iegungen von Lewin und seinen Schülern über die Tührung innerhalb einer Gruppe werden in ihrer Bedeutung noch erhöht, wenn sie zur Erklärung von Begriffen, wie „autoritär“ und „demokratisch“ herangezogen werden. Eine autoritär geführte Gruppe kennzeichnet sich nach Ansicht dieser Richtung vor allem dadurch, daß der Vorgesetzte den Versuch unternimmt, möglichst viele Führungsfunktionen an sich zu ziehen- Er wird sich daher

in alles hineinmischen, wird ein Höchstmaß an Kontrolle anstreben, Regeln der Zusammenarbeit nach eigenem Ermessen einführen und ändern, Entscheidungen ausschließlich selbst durchführen, wichtige Informationen zurückhalten und — was besonders schwerwiegend ist — er wird auch positive Leistungen von anderen mehr unbewußt als bewußt zurückweisen, da es sich um Führungsfunktionen handelt, die fremden Ursprunges sind. Treten derartige Tendenzen in extremer Form auf, so müssen sie zu einer Situation führen, in der der Diktator, von Arbeit überlastet und von seinen engsten Mitarbeitern verlassen, scheitern muß. Umgekehrt liegen die Verhältnisse in der demokratisch geführten Gruppe, denn dort bemüht sich der Vorgesetzte, möglichst viele Führungsfunktionen an seine Untergebenen abzugeben. Er wird Kontrollen in Selbstkontrollen umwandeln, Entscheidungen, soweit es geht, der Gruppe überlassen, konstruktive Kritik fördern usw.

Demokratie, so gesehen, läßt uns erkennen, daß wir uns von ihr nicht nur ein höheres Ausmaß an Freiheit für uns selbst erwarten dürfen, sondern daß sie uns auch verpflichtet“, Freiheiten jenen einzuräumen, die uns untergeben sind. Freiheit nach oben verlangen und gleichzeitig zentralisierte Kontrolle nach unten ausüben, scheint eine Inkonsequenz der Einstellung zu sein, wenn sie auch psychologisch leicht erklärt werden kann. Für die meisten von uns liegen hier noch immer zwei Prinzipien im Widerstreit, für die wir uns aber doch so oder so entscheiden müssen. Daß diese Entscheidung in privaten und öffentlichen Angelegenheiten noch immer nicht getroffen wird, hat seine Gründe.

Die Anerkennung demokratischer Prinzipien bedarf eines geschichtlichen Reifungsprozesses, der nicht viel anders abläuft als die Entwicklung eines Kindes zum Erwachsenen. Am Anfang steht auch in der Familie das autoritär-patriarchalische Prinzip, weil dem Kind in seinem frühen Alter einfach die Voraussetzungen zur Ausübung von Führungsfunktionen fehlen. In

seiner physischen und psychischen Abhängigkeit benötigt es die Führung, der Eltern, und es tut gut daran, wenn es in diesem Stadium gehorcht. Das ändert sich aber mit der Zeit, und diese Aenderung geht in keiner Familie ohne Krisen vor sich. In der Pubertät kommt es schließlich zur offenen Auflehnung, und der Jugendliche versucht, die fürsorgliche Liebe seiner Eltern — und damit die' eigene Abhängigkeit — abzuschütteln wie ein altes Kleid. Erst wenn er diese Phase überwunden hat, kann er zur Erkenntnis durchdringen, daß wir alle voneinander abhängig sind und einander brauchen. Reif geworden, das heißt verantwortungsbewußt, kann er jetzt in immer steigendem Ausmaß Führungsfunktionen innerhalb der Gesellschaft übernehmen, bis eben er und seine Generation die vorangegangene ersetzen.

Uebertragen auf die Verhältnisse der Arbeitssphäre, besagt dieses Bild, daß auch dort am Anfang das autoritär-patriarchalische System steht. Immer wenn sich eine neue Gruppe bil-

det, wird der Vorgesetzte die ganze Last der Verantwortung zu tragen haben und sorgen müssen, daß die für den Erfolg notwendigen Führungsfunktionen ausgeübt werden. In diesem Zeitpunkt ist es besser, wenn die anderen tun. was er für richtig hält. Doch wird das nicht immer so bleiben müssen, denn auch eine Gruppe kann reifen. Damit dies tatsächlich geschieht, ist es nicht nur wichtig, daß den Gruppenmitgliedern das Recht eingeräumt wird, Fehler zu machen, sondern sie müssen dazu auch Gelegenheit haben. Genau so wie Eltern ihre Kinder in der Entwicklung schädigen, wenn sie sich nicht rechtzeitig von ihnen zurückziehen, so ist es fast immer ein Fehler, wenn ein Vorgesetzter aus Angst vor Risiko und Prestigeverlusten selbständige Arbeit nicht zuläßt. .....s* ■• ?nbci ,!t

Führen und Leiten wird heute 'uritef'ne'uerf Aspekten gesehen, und es ist durchaus kein Zufall, wenn für die Ausbildung von Führungskräften vollkommen neue Methoden entwickelt worden sind. Die Wirtschaft ist auf diesem Gebiet anderen Kulturbereichen ein wenig voraus, was vielleicht mit der spezifischen Art ihrer Schwierigkeiten und mit der verhältnismäßig jungen Tradition ihrer Vorgesetztenberufe zusammenhängt. In Vorgesetztenseminaren und Schulungskursen wird den Teilnehmern geschickt demonstriert, wieweit ein Vorgesetzter Führungsfunktionen an Untergebene delegieren kann — und das ist gewöhnlich mehr, als die in Führungsdingen erfahrenen Kursbesucher vorher für möglich hielten. Gleichzeitig wird aber auch gezeigt, daß selbst das einfachste Gruppenmitglied mehr Verantwortung für die richtige Ausübung von Führungsfunktionen übernehmen muß, als es ursprünglich dachte.

Wenigstens in der Wirtschaft werden autoritär-patriarchalische Formen mit der Zeit verschwinden, denn das, Geflecht der modernen industriellen Gesellschaft ist dafür schon zu kompliziert geworden und die Stellung des Vorgesetzten zu sehr von traditionellen Vorbildern abgewichen. Man denke nur an die stets wachsende Größe der Unternehmungen, an die fortschreitende Teilung der Verantwortungsbereiche, an die Schwierigkeiten der Koordination spezialisierter Fachgebiete und an den ständigen Bildungs- und Auflösungsprozeß von Arbeitsgruppen, wie er sich durch Beförderungen und Versetzungen laufend ergibt. Derartige Veränderungen sind Quellen unzähliger Schwierigkeiten, die an den Vorgesetzten von heute erhöhte Anforderungen stellen.

Die konsequente Durchführung demokratischer Gruppenleistung und weitgehende Selbständigkeit in der Ausübung von Führungsfunktionen sind eine Möglichkeit, ' diese Schwierigkeiten zu überwinden. Voraussetzung dafür ist, daß sich unsere Vorgesetzten entbehrlicher machen und mehr als bisher um die Heranbildung kompetenter Mitarbeiter bemühen, die kompetente Entscheidungen treffen können. Die Autorität wird dadurch nicht geschmälert, denn jemand, der zur Persönlichkeitsentfaltung anderer beiträgt, kann in seinem Ansehen nur gewinnen. Die Bereitschaft. Helfender zu sein, und der Verzicht auf stete Ueberlegen-heit erfordern aber eine bestimmte geistige Haltung. Vorgesetzte mit starkem Geltungsdrang erscheinen daher für die Bewältigung zukünftiger Führungsaufgaben weniger geeignet.

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