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Komplexe, Krekse und Manager

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Jeder Mensch — bitte, ich sage Mensch, nicht Christ oder Literat — jeder Mensch sollte wenigstens einmal im Jahr aus der Bibel im Alten Testament den „Kohelet“ lesen. (Zu finden ist er auch unter dem Namen „Ecclcsiastes“ oder „Prediger“.) Denn dieses Buch ist ein Unikum. Es ist das vielleicht am wenigsten orthodoxe Buch der Heiligen Schrift, das den Gelehrten großes Kopfzerbrechen macht, aber dem Unvoreingenommenen, dem Laien ein Buch voll Weisheit und Kraft ist. Es fängt so an, daß es jeder wenigstens von diesem Anfange aus kennen könnte: „Vanitatum Vani-tas et omnia vanitas — Eitelkeit der Eitelkeiten und alles ist Eitelkeit.“ Und dann kommt ein Kapitel über „Alles hat seine Zeit!“ W a s nicht alles?! Das Zeugen und Töten, das Niederreißen und das Aufbauen, das Sich-Meiden und das Sich-Herzen, das Weinen und das Lachen —kurz: Alles hat seine Zeit. Und dann wieder: „Alles ist eitel und ein Haschen nach Wind!“ — Ist Ihnen dies zu pessimistisch, zu melancholisch, zu schwarz und zu grau? Aber: Stimmt's denn nicht? Seien Sie ehrlich! Alles hat seine Zeit!

Auch das Kranksein und das Gesundsein. Zwischen Schnupfen und Nicht-Schnupfen wechseln wir hin und her — so geht es doch! Das ist zwar keine letztgründige Einteilung für das Menschenleben, aber eine, die trotzdem ist: eine beiläufige, zufällige. (Lind leider beleidigt uns das Zufällige viel mehr als das Endgültig-Wesentliche.) Also: „Alles hat seine Zeit“: auch die Krankheiten. Woran wir Zeitgenossen gesund sind, krankten die Vorvorderen. Ein Kunststück bei der Entwicklung der Medizin und der Pharmakologie: die Aerzte und die Apotheker und die Chemisten haben Fortschritte gemacht! Auch die sonstige Forschung der menschlichen Hinfälligkeit läßt manchen Menschen heute nicht mehr fallen, wo sie ihn vor Jahten noch fallen lassen mußte. Derart hat jede Zeit ihre eigenen Krankheiten. Denn: „Alles hat seine Zeit.“ Was wir beklagen, ist den Enkeln vielleicht schon ein Witz. Was uns weh tut, stört die Urenkel nicht mehr. Immer wieder werden Operationen, Spritzen, Techniken und Praktiken gefunden gegen das, was uns Heutige gerade schmerzt. Denn der Schmerz, die Krankheit ist wie die Häresie, die Glaubenswidrigkeit in der Religion: gäbe es beide nicht, wären sowohl die Krankheitsbeseitiger wie die Llnglaubensbeseiti-ger arbeitslos. Die Medizin lebt von neuen Krankheiten und die Theologie von neuen Glaubens Widrigkeiten! — Und heute? „Alles hat seine Zeit.“ Auch das Kranksein hat seine Zeit und das Gesundsein hat seine Zeit. Heute haben viele, wenn nicht alle Menschen „K o m-plexe“. Wissen Sie, was ein Komplex ist? Höchstwahrscheinlich haben Sie ein Lexikon, in dem Sie nachschlagen können, was das ist. Daß Sie einen haben, darüber besteht kein Zweifel! Vater-, Mütter-, Kastrations-, Verfolgungs, X-, Y-, Z-Komplex haben Sie. Nicht daß Sie sich diesen aussuchen könnten: Sie haben ihn, der betreffende Arzt sagt es Ihnen. Und schon sind Sie zufrieden. Das ist aber so töricht, wie anzunehmen, die Katze, die im Fischladen Junge bekommt, habe Heringe zur Welt gebracht, und die Flasche, auf die man ein Weinsortenetikett klebt, enthalte den beschrifteten Wein. Wir wissen zwar sowohl mit der Katze wie mit dem Wein Bescheid. Neu ist aber an dieser Zeitkrankheit, daß wir, obwohl wir Bescheid wissen, nicht wissen wollen. Ich meine, daß das daher kommt: früher gab es den Medizinmann, um uns von der Krankheit zu befreien. Oder es gab die Hexe, die ein Zaubertränklein braute um Mitternacht und mit fürchterlichen Ingredienzen, und „geschluckt“, mußte die geliebte Jungfrau unsere Frau werden. So leicht geben wir uns nicht geschlagen und gefangen. Wir wollen „Wissenschaft“. Gut! Bekommen wirf

Aber leider ist diese Wissenschaft heute nicht mehr sakral- Oie Wissenschaft ist nicht mehr mystisch, Sie it nicht mehr geheimnisvoll und nur für die Eingeweihten und Wissenden. Unsere Wissenschaft ist nicht einmal mehr das alleinige Gebiet der Gelehrten. Die Wissenschaft ist populär. Früher war sie aristokratisch. Heute isf sie allen gemein. Und dadurch wird unsere Wissenschaft — gemein und allgemein-gefährlich! Heute kennen Sie Ihren Komplex: der Arzt sagt ihn aus. Und wenn er sehr klug ist, sagt er ihn nicht — aber Sie selbst haben aus Gesprächen und Lexika soviel Kenntnis von den seelischen Krankheiten, daß Sie, selbst befallen von so einem Biest, selbst bereits wissen, woran Sie kranken. Manchmal wissen Sie auch schon, wie man sich gegen Ihren eigenen Komplex verwahrt. — Das geht zu weit! Das ist der Ruin — Ihrer Krankheit. Wüßten Sie njeht, woran Sie erkrankt sind, Sie wären leicht, oder wenigstens leichter zu heilen. Da Sie es nun wissen, ist dem Arzt jede oder fast alle Möglichkeit genommen, Sie an der Wurzel anzupacken. Sie wissen (oder befscr: Sie glauben zu wissen) so viel wie der Arzt. Wäre die Krankheit eine Angelegenheit der bloßen Rationalität, der überlegenen und überlegenden Vernunft, brauchten Sie heute keinen Arzt mehr; wäre die Krankheit ein Bereich des Wissens, so könnten sich Arzt und Kranker miteinander über Diagnose und Prognose aussprechen; aber hinter jeder Krankheit steckt ein X, das sowohl dem Kranken wie dem Arzt unbekannt ist und bleibt — aber darauf kommt fS an. Und leider darf es darauf nicht mehr ankommen. Sic wjssen Bescheid, der Arzt weiß Bescheid: hier handelt es sich um einen Komplex. Nachdem das Irrationale der Krankheit nicht mehr ausgeschlossen, sondern geleugnet wird (vom Patienten wie vom Arzt! — Popularität und Publizität, ich danke euch!), ist es unmöglich geworden, unsere Krankheiten heute zu heilen,

Sagen Sie irgendwo, irgendwann das Wort „K r e b s“. Sie erregen eine Krebsphobie — eine Sucht in gesunden Menschen, sich einen Krebs einzubilden. Grund: die große Öffentlichkeit weiß um den Krebs; weiß, wo und wie Krebs ist Und tut; wfß (es sei dahingestellt, ob wahr, oder falsch!), wie Krebs weh tut, und kennt seine Symptome und seine Metastasen und — ist bereits krank. Nicjif wej! r es wirklich ist, sondern weil er es sieh einbildet- Nun wird keiner aus Einbildung krebskrank: aber er wird einen Krebskomplex bekommen. Wer ist nun zuständig; der Psychiater oder der Chirurg' Sagen Sie nicht leichtsinnig: nur der Psychiater, denn keineF, weder der Chirurg noch der Psychiater noch der Hatitkundige noch der Gewebekundige noch der Philosoph noch der Psychologe wissen etwas: keiner weiß, was der „Krebs“ ist. und keiner weiß, ob es sich in dem gegenwärtigen Fall um einen „Krebs“ handelt. Zu gutem Schluß: Schneide den Bauch auf und du weißt, ob — oder picht.

Vor einigen Jahren war ich sehr nervös. Mein Hausarzt stellte fest: „das vegetative Nervensystem“. Pillen. Pillen und Ruhe. Und dapn sagte er, ich sei gesund. Ich aber hörte von der „Managerkrankheit“- Das soll jene Krankheit sein, die dem momentanen Aktivismus des heutigen Menschen entspreche. Ihr Grund sei: das vegetative Nervensystem ist angegriffen oder unterbemittelt. Ich frage den Hausarzt, und zwar sehr indigniert: Wenn ihr Aerzte nichts mehr zu sagen wißt, dann sagt ihr: „Managerkrankheit“ und „vegetatives Nervensystem“- Worauf er antwortete: „.Alles hat seine Zeit!' Wir schusseligen Zeitgenossen-sind wirklich an diesem Nervensystem erkrankt — an einer Krankheit, die unsere Großväter, ja unsere Väter nicht kannten!“

Aha! Komplexe, Krebse und Managerkrankheit— darauf gibt es wohl wirklich nur eine einzige Antwort: „Alles hat seine Zeit.“ Unsere Zeit ist an diesen drei Krankheiten wirklich leidend. Zugegeben! Aber was ich gegen die Kranken an diesen drei Krankheiten habe: alle wissen zu viel von diesen Krankheiten: deren Ursprünge, Symptome, Diagnosen, Prognosen und Therapien sind der Öffentlichkeit zu bekannt. Tout

!e mpnde kennt sich darin aus; durch Gespräche durch illustrierte Zeitungen, durch andere Publikationen, durch Hoch- und Tiefschulen, durch Tag- und Abendschulen, durch Kurse und Tagungen und Tagungsberichte.

Und was nun? — Komplexe, Krebse und Managerkrankheit — das alles hat seine Zeit und dies alles hat unsere Zeit. Sie haben unsere Zeit und w i r haben diese drei. Geben wir es zu.'

Leiden wir daran — sei es! — Aber ich Wünsche uns, die wir Komplexe haben, zu den Komplexen der Seeje noch den des Heiligen Geistes: das Unverständnis des Ich möge durch das LInverstehen Gottes noch erhöht werden: verstehst du djeh selbst nicht, so sei es. weil du deinen Gott nicht verstehst. Du verstehst Ihn nicht? Niemand versteht Ihn. Aber Ihn nicht zu verstehen, heißt dennoch: an Ihn glauben können. Und das heißt: mit dem LInversta.ndenen 1 e b e n ! — Komplikationen der Seele? Ich antworte mjt der Komplikation de? Heiligen Geistes: Der weht, wo Er wil]!

Und die Krebs e, diese scheußlich verringernden Wucherungen des Materiellen — lasse sie wuchern! Können sie nicht Bild und Gleichnis des wuchernden, wachsenden, reifenden Geistes sejn? Oder können sie dies nicht werden? Warum muß es der Leib an einem seiner Enden sein, wenn es nicht auch der Geist Gottes an irgendeinem seiner Enden in uns sein könnte? Wo der Krebs ist oder gefürchtet wird, kann Gottes Wirken überreich sein — oder gefürchtet werden.

Die Manager Gottes waren einst die Propheten tmd die Apostel: jene die aus der überreichen Aktivität ihres Gottes gingen und gaben. Heute sind wir Manager der eigenen Betriebsamkeit: der irdischen, der menschlichen. Der größeren? Nein — der eingeengteren wie durch einen Komplex upd durch einen wuchernden Krebs. Anstatt zu treiben und' zu betreiben, laßt euch einmal treiben vom Ceiste Gottes — nach innen und nach oben —, und keine Hilfe erwarten als die unausstehlichste: die Hilfe, die nicht hier, sondern im Reiche Gottes hilft — würde die Betriebsamkeit der Managerkrankheit nicht abgebogen in die reine, absichtslose Passivität der getriebenen Beter vor Gott, in Gott und für Gott?

Der „Kohelet“, der „Ecclesiastes“. der „Prediger“ sagt: „Alles hat seine Zeit!“ — Lind „Alles ist eitel“, „Eitelkeit der Eitelkeiten!“ Die Komplexe, die Krebse und die Manager haben jetzt ihre Zeit! Aber „Alles ist .Eitelkeit“; alles ist umsonst und leer! Das. was unsere Zeit leben muß, ist nur Bild und Gleichnis für die Ewigkeit — und dann sind Zeit und Ewigkeit, Eitelkeit und Zeit voller Heil Gottes: die Verwicklungen des Heiligen Geistes, die Wucherungen des überreichen Lebens Got'-s und das Lieberstehen der göttlichen Uebermacht.

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