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Aphorismen

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Es gibt Leute, die ihr Mangel an Charakter so sehr dazu prädestiniert, berühmt zu werden, daß man direkt ihren Mangel an Talent bedauert, der sie daran verhindert.

Die Produktivität mancher Intellektuellen reicht gerade noch hin, ihre Unproduktivität originell zu motivieren.

Die einsamen und unglücklichen Menschen in einem Theaterstück haben wenigstens das weichherzige Publikum, das sie bemitleidet. Die einsamen und unglücklichen Menschen im Leben sind schlechter dran: die sind mit ihren hartherzigen Mitspielern — eben jenem Publikum — allein.

Schauspieler und Kulissen haben eines gemeinsam: bei Tageslicht sind sie voll Unzulänglichkeit, voll der Risse, Sprünge, Defekte, grell und fahl zugleich, in allen Maßen verschoben, überflüssig und zwecklos. Aber am Abend, wenn die Scheinwerfersonnen aufgehen, werden sie plötzlich vollkommen und schön, wahr und lebendig, unter den milden Strahlen des Rampenlichts blüht Verborgenes auf und Sichtbares verschwindet, was uns als Fehler erschien, nun dünkt es uns ein Vorzug, alles falsch Dosierte verwandelt sich in Harmonre, und beglückt erkennen wir als gesteigertes Urbild der Natur, was wir bei anderm Licht als dessen Zerrbild belächelt hatten.

Bibliothek: das Resultat einer Kettenreaktion, die von dem ersten Buch, das man ersteht, ausgelöst wird.

Eine Bibliothek, also eine aus Vielheiten bestehende Einheit, kann man ebensowenig derivativ erwerben, wie man einen Freundeskreis erheiraten, ererben oder sonstwie durch familiäre oder gesellschaftliche Anschlüsse sich aneignen kann. Man vermag ihrer mittels der genannten Methoden wohl habhaft zu werden, aber nicht teilhaft. Teilhaft werden kann man Bücher wie Menschen nur auf originärem Wege und durch zweiseitige Akte — also im gegenseitigen Einverständnis.

Ein Buch „ausgelesen“ haben? Das kann nur passieren, wenn entweder das Buch oder der Leser nichts taugt!

Man ist zu häufig geneigt, ein Buch für die gute Sache für ein gutes Buch für die Sache zu halten!

Der schlechte Leser beendet ein Buch. Der gute vollendet es.

Das größte Kompliment für einen Autor: Nachdem ich sein Buch gelesen hatte, fühlte ich das Verlangen, mich kennenzulernen.

Der Durchschnittsleser klebt am Sinn und erfaßt den Buchstaben nicht.

Die Gedanken eines Autors nachdenken, das ist keine Kunst. Aber den Gedanken eines Autors nachdenken — also denen, die er sich gedacht hat, als er jene schrieb, und über sie hinaus: das allein heißt lesen!

Ein gutes Buch ist eines, das zum Denken anregt. Da eine Gedankenlosigkeit jedoch fast immer mehr Gedanken in mir wachruft als ein Gedanke, so ergibt sich, daß für mich ein schlechtes Buch weit öfter ein gutes Buch ist als ein gutes!

Lektüre: die Uebersetzung eines Autors in einen Leser.

Formlosigkeit möchte sich uns oft gerne als Informalität aufschwatzen, hat aber damit kein Glück: denn Informalität ist ein hoher Grad von Form.

Vom Hammer des Schicksals getroffen werden alle; aber nur die Künstler geben unter den Schicksalsschlägen Funken.

Zwei Faktoren bestimmen die Qualität eines Künstlers: das Ausmaß von Chaos, das er in sich hat, und seine Fähigkeit, es zu formen. Denn ein Künstler ist, wer das Mikrochaos in seiner Brust in den Mikrokosmos seines Werkes verwandeln kann. •

Das Talent versucht das Schwierige. Das Genie vermag das Einfache.

Die Entdecker von Genies haben gewöhnlich eine übertriebene Vorstellung von ihrer Wichtigkeit. Denn ein fürs Entdecktwerden reifes Genie entdeckt seinen Entdecker mit derselben Verläßlichkeit, mit der ein zur Liebe reifes Mädchen seinem Liebhaber „begegnet“,

Das Werk eines Künstlers wirkt immer persönlich, das Werk eines Dilettanten immer privat.

Der Künstler vermag selten alles auszudrücken, was er fühlt; der Dilettant stets mehr.

Der Spießer spuckte auf den Künstler und ärgerte sich: „Wo ich hinspucke, ist so ein Kerl!“

Bedeutende Menschen gleichen Sternen: manchmal erreicht ihr Licht uns erst, wenn sie selbst schon erloschen sind.

Aphorismensammlung: Geröll und versunkenes Gold am Grunde eines Gedankenflusses.

Aphorismen sind nicht Kurzschriftanmerkungen zum Zwecke künftiger Ausarbeitung, nicht Rohmaterialien für Aufsätze, sondern im Gegenteil: mancher Aufsatz, den man schrieb, entpuppt sich eines Tages als die unwissentlich geleistete Vorarbeit für das Fertigprodukt in zwei Zeilen: den Aphorismus.

Der Aphorismus: ein in flagranti ertappter Gedanke.

Gedankensplitter entstehen durch Kopfzerbrechen.

Sprichwörter leuchten ein. Aphorismen leuchten auf.

Gedanken soll man auf die gleiche Art aussprechen, wie man Kleider tragen soll: alte, als wären sie neu, und neue, als wären sie alt.

Die Kenntnis jeglicher Sprache beginnt mit der Erkenntnis, daß es keine Synonyme gibt.

Man kann dem Leben auf verschiedene Art die Zähne zeigen. Die amerikanische Art ist: lächeln.

Beileid — Nebenbei-Leid.

„Der Mann, der die Maschine bediente...“ — die Sprache bringt es an den Tag. Und gar erst: „Er gefiel sich in Gefälligkeiten...“!

Eigentum macht eigentümlich.

Der Amerikaner lebt nicht: he makes a living.

Der Deutsche stirbt nicht: er wird abberufen.

Der Berliner sagt nicht „ja“; er sagt „Machen wa!“

Der Wiener sagt nicht „nein“; er sagt: „Net amol denken!“

Aus einem Handbuch des deutschen Strafrechts ersehe ich, daß es ein „Strafbedürfnis des Staates“ gibt. Darnach wären also Gefängnisse staatliche Strafbedürfnisanstalten.

Niemand ist vor seinem Glücke menschlich zu preisen.

Nur wer gehorchen gelernt hat, kann es über sich bringen, nicht zu befehlen.

„Arbeit macht das Leben süß“ — aber nicht das ganze, sondern nur die Zeit des Lebens, in der man nicht arbeitet. Von Rechts wegen sollte es heißen: Arbeit macht die Nichtarbeit süß - und so ist es mit allem: Krankheit macht die Gesundheit süß, erst durch die Dummheit wird die Gescheitheit zu einem Wert, nur weil es den Tod gibt, hängt man am Leben. Immer besteht das Plus nur von Gnaden des Minus, und nichts Helles wäre hell, wenn es das Dunkle nicht gäbe, von dem es sich abheben kann.

Mit der Bezeichnung „homo sapiens“ setzt der Mensch sich die Krone der Schöpfung auf.

Hatte ich jemandem den Unterschied zwischen Vermögen und Kapital zu erklären, so würde ich ihm den Unterschied zwischen Männer- und Frauenkleidern zu bedenken geben. Für den Mann nämlich bedeuten Kleider Vermögen: er trägt sie. Für die Frau hingegen bedeuten sie Kapital: sie tragen ihr ...

Die Uhr ist ein Zeitmesser: sie mißt die Zeit, indem sie sie zerschneidet.

Etwas können, heißt: es nicht mehr schwer finden? Etwas nicht können: es noch nicht schwer finden.

Ironisch sein heißt: sich über eine Traurigkeit lustig machen.

Der Zyniker: einer, der aus einem Elefanten eine Mücke macht.

Der Statistiker: ein Mann, der die Bäume vor den Wäldern nicht sieht.

Narr: einer, den man nicht versteht.

Der Mediziner kennt nur Fälle. Der Arzt nur Befallene.

Furcht: das Barometer des Verlangens.

Glück: der Schnittpunkt der Geraden „Noch nicht“ mit der Geraden „Nicht mehr“. (Der Punkt hat bekanntlich keine Dimension.)

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