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Diagnose in zwei Minuten

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Wenn man diese Hintergründe kennt, dann ist es verständlich, warum die Untersuchungsmethode MEDSAK — die Verarbeitung medizinischer Daten durch eine Mathematikmaschine — in Schweden einem' so außerordentlichen Interesse begegnete.

Das von Dr. Harry Danielsson und Ing. Bertil Greko ausgearbeitete System wurde in zwei Krankenhäusern erprobt und es gab ausgezeichnete Resultate. Wie funktioniert es nun?

Jeder Patient erhält beim ersten Besuch ein umfangreiches Frageformular, das 254 Fragen für Männer und 266 Fragen für Frauen enthält. Alle Fragen müssen zu Hause mit Ja oder Nein beantwortet werden. Hier ist der erste Vorteil erkennbar: Kein Arzt hat heute die Zeit, so viele Fragen zu stellen! Die Antwort wird auf einen Lochstreifen übertragen und der Mathematikmaschine übergeben, deren Speicher die Prognosen von 80 der häufigsten Krankheiten enthält. Bis zu diesenl Zeitpunkt sind vom ersten Kontakt gewöhnlich 24 Stunden verstrichen.

Das Folgende geht jedoch unglaublich schnell: Die Maschine vergleicht die Symptome, wählt aus, kontrolliert sich selbst, gibt den Sicherheitsgrad ihrer Antwort an und hebt dringende Fälle hervor. Dann verfaßt sie ein Konzentrat, das in Reinschrift übersetzt wird und per Fernschreiber auf den Tisch des Arztes gelangt, und alles dies dauert nicht einmal zwei Minuten! Die Vorteile sind offenbar:

1. Die Maschine hat eine unbe grenzte Arbeitskraft und kann 1000 Krankheitsfälle in einem Tag behandeln, also praktisch genommen alle, die ihr vorgelegt werden, in der nächsten Minute.

2. Der Arzt wird auf dringende Fälle — oder Fälle, die dringend sein könnten — sofort hingewiesen; er kann sich nun durch gezielte Fragen und die Untersuchung Gewißheit verschaffen.

3. Die Behandlung ist bis zu diesem Zeitpunkt anonym; die Angestellten weigern sich sogar, Daten zu behandeln, denen ein Name beigegeben ist. Ein monatelanges Warten gibt es nicht mehr. Und dazu kommt noch, daß die ganze Untersuchung nur wenige Kronen kostet.

Nun ist natürlich die Maschine kein denkendes Wesen und kann nur nach dem Programm arbeiten, das ihr gegeben worden ist. In Stockholm und Göteborg zeigte es sich, daß dieser Roboter Magen-und Darmerkrankungen sowie Nervenkrankheiten am genauesten diagnostizierte. In vielen Fällen spürte er auch Krankheiten auf, von denen die Patienten selbst nichts wußten. Die Behandlung ist dann, natürlich -Sache des. Arztes, der ja niemals ersetzt werden kann.

Als die Zeitung „Stockholms Tidningen“ ihre Absicht kundgab, für 5000 Personen die Untersuchung zu bezahlen, meldeten sich 25.000. Von den ersten 5000 mußten über ein Drittel zum Arzt geschickt werden. Von 800 Ärzten bezeichneten 80 Prozent diese Vordiagnose des Roboters als eine große Hilfe für den Arzt und als eine Neuerung, deren Bedeutung heute noch gar nicht richtig eingeschätzt werden kann.

Zu Beginn des Jahres 1959 wurde im Gustav-Werner-Institut für Kernchemie in Uppsala eine Operation durchgeführt, die in der ganzen wissenschaftlichen Welt größtes Aufsehen erregen sollte.

Angeschnallt auf einen sich in der Längsrichtung drehenden Tisch lag in einem Betonbunker 15 Meter unter der Erde ein 55 Jahre alter Patient, der einige Jahre lang unter einer schweren Angstneurose gelitten hatte. Die besten Ärzte Uppsalas waren der Auffassung, daß eine Zertrennung bestimmter Nervenbündel zwischen den vorderen Gehirnlappen und dem Zentralgehirn den Mann von seinem Leiden befreien würde. Eine solch außerordentlich komplizierte und gefährliche Operation konnte jedoch mit den herkömmlichen Mitteln nicht durchgeführt werden. Man einigte sich auf die Anwendung eines „Strahlenmessers“.

Zwanzig Meter vom Behandlungsraum entfernt steht dort in einem Bunker mit zwei Meter dicken Betonwänden ein Cyklotron, in dem Elementarpartikelchen des zersprengten Wasserstoffatoms durch Zufuhr hochgespannter Energie auf eine Geschwindigkeit von 150.000 Kilometer in der Sekunde gebracht werden. Diese Protonen verlassen schließlich den Beschleunigungsapparat mit einer Intensität von 10.000 Millionen Partikel pro Sekunde. Ein System von Filtern und magnetischen Kanälen bremst sie ab und steuert sie genau auf die Behandlungsstelle zu. Dieser Protonenstrahl wirkt nun auf diese Art, daß er die zwischenliegenden Schichten kaum beeinflußt, da seine Geschwindigkeit dafür noch zu groß ist; er „gleitet“ an den Atomen vorbei, wird aber doch abgebremst und erreicht seine zerstörende Kraft erst genau an der Operationsstelle. Dieses Verhalten des Protonenstromes berechnet und auf die richtige Art angewandt zu haben ist gewiß das große Verdienst der Forscher von Uppsala!

Die Protonen ionisieren nun bei ihrem Aufprall die dort befindlichen Atome. Um ein Scheibchen Zellgewebe von 6 X 10 Millimeter herauszuschneiden, mußten die Ärzte die Lage des Kranken vierzigmal-ändern. Und diese unglaubliche Operation gelang! Ein Jahr nach ihr konnte man einwandfrei feststellen, daß der Kranke von seinen Angstzuständen befreit war.

Die Behandlung war völlig schmerzlos. Die Operation wurde ferngesteuert — die Ärzte befanden sich in einem anderen Stockwerk — und der Patient konnte sich mit ihnen per Telephon unterhalten. Insgesamt war er dem Protonenstrom durch 20 Minuten ausgesetzt gewesen, die ganze Behandlung hatte jedoch zwei Stunden gedauert; ihr waren fünf Jahre anderer — vergeblicher — Versuche vorangegangen!

Die Gehirnoperation, die mit dem unblutigen und unsichtbaren Messer eines Partikelstromes durchgeführt wurde, öffnete das Tor zu einem Neuland der Chirurgie mit bisher ungeahnten Möglichkeiten. Der Autor des Verfahrens, Professor Leksell, rechnet mit seiner Anwendung auf vorwiegend drei Gebieten: dem der Behebung chronischer Schmerzzustände, der Behandlung der Parkinsonschen Lähmung und der Behandlung von Angstneurosen.

Inzwischen wurde in denselben unterirdischen Anlagen in Uppsala eine Methode zur Bekämpfung des Unterleibskrebses bei Frauen entwickelt. Genau wie bei der beschriebenen Gehirnoperation kam es dabei darauf an, die Geschwulst vollständig und ohne Öffnen des Körpers zu entfernen. Nach den üblichen Tierversuchen wagte man sich an die Behandlung von Menschen, die nur noch kurze Zeit zu leben hatten. Nach ihrem kurz darauf erfolgten Ableben konnte nicht einmal eine genaue mikroskopische Untersuchung eine Spur von Krebs feststellen: Die richtig dosierten und in der notwendigen Geschwindigkeit angesetzten Protonenstrahlen hatten die Krebszellen vollständig zerstört! Am 8. Mai 1962 konnten die Pioniere dieser Be-handlungsweise, Professor John Naeslund und Bbrje Larsson, in Uppsala an 15 Fällen nachweisen, daß sie hier ein wirkungsvolles Mittel gegen den Unterleibskrebs gefunden hatten. Daß hier Schritt für Schritt, mit unendlicher Mühe und bei Beachtung aller Vorsicht vorgegangen werden muß, steht wohl außer Zweifel. Auch Rückschläge lassen sich nicht vermeiden. Die Synthese zwischen Technik und Wissenschaft, die hier in Erscheinung tritt, öffnet jedoch unter allen Umständen neue Möglichkeiten, den Schmerz, die Angst, jahrelanges Leiden und den allzufrühen Tod zu besiegen.

Die hier aufgezeigten Versuche — mehr sind sie auch heute noch nicht! — sind dabei nur ein Teil dessen, was heute“ 'gteöcHÄtr-'F^rri-gesteuerte Operationen, das „Eiserne Herz“ Professor Clarence Crafoords, die modernste Konstruktion, die „Herz-Lunge-Maschine“ (die Schweden bereits in über 20 Länder exportiert hat!), die Operationen mit Hilfe der sogenannten Tiefhypothermie, das Studium von Embryos durch elektro-physiologische Apparate (Professor C. G. Bernhard, Stockholm) und die Gehirnuntersuohungen von Embryos ermöglicht, die nur wenige Gramm wiegen; auf allen diesen Gebieten haben schwedische Forscher Hervorragendes geleistet, und immer stand neben dem Arzt der Mathematiker und der Ingenieur: Die Heilkunde ist eine Aufgabe des technisch-wissenschaftlichen Teams geworden.

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