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Audi du kannst dich nirgends verstecken!

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Im Herbst 1948 kehrte der amerikanische Flugzeugträger „Independence“ in den Hafen von San Franzisko zurück. Er kam auf Umwegen — erst nach mehr als zwei Jahren — aus Bikini zurück und mußte in größerer Entfernung von der Küste Anker werfen. Und die Zeitungen berichteten: „Weder Journalisten noch das Publikum dürfen sich dem Schiff nähern. Die amerikanische Marine hält es für das beste, dieses schreckliche Symbol einer möglichen Zukunft von einem der Hügel um San Franzisko aus sicherer Entfernung zu betrachten.“ Denn die „Independence“ war ein aussätziges Schiff.

Gegen diese Art resignierter Philosophie rebelliert der amerikanische Arzt Dr. David Bradley, der als Wissenschaftler an den Versuchen von Bikini teilnahm.

Er ist mit Recht der Ansicht, daß es gerade die Journalisten und „das Publikum“ sind, die sich mit den Tatsachen vertraut machen müssen. Unkenntnis der Gesetze schützt nicht vor Strafe. Unkenntnis der Naturgesetze, die die Atomenergie regieren, wird ebensowenig vor ihren Folgen schützen. Früher oder später wird „das Publikum“ von den luftigen Hügeln heruntergehen müssen — entweder um sich in Höhlen zu verstecken oder um seine .Independence“ zu übernehmen.

Etwa drei Jahre nach Bikini veröffentlichte die amerikanische Atomenergiekommission ihren wohldurchdachten Ratgeber für Zivilisten. Dieses Handbuch der atomischen ersten Hilfe erklärte klipp und klar, daß jeder Mensch, der dem radioaktiven Nebel aus einer Unterwasseratombombenexplosion ausgesetzt sei, seine Kleidung ohne den kürzesten Verzug und ohne Bedachtnahme auf jahrtausendalte Anstandsbegriffe ablegen müsse.

Im Jänner 1950 gab die Atomenergiekommission ein neues Handbuch heraus, das uns potentiellen Atomopfern einen geringen Trost bot: Wir müssen uns im Falle eines Angriffs doch nicht ganz ausziehen. Soldaten könnten ja ihre Uniformen keineswegs ablegen, ohne zugleich zu Zivilisten zu werden, aber wir Zivilisten erfahren, daß wir ruhig ein weißes loses Gewand — etwa von der Art einer römischen Toga — tragen dürfen.

Das ist aber auch das einzige Wort des Trosts in jenem Bericht, der von der AE-Kommission gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium abgefaßt war — also gewiß voller Verantwortung geschrieben. Er wurde allen amerikanischen Gouverneuren zugesandt, um ihnen die Schaffung von Verteidigungsmaßnahmen zu erleichtern. Man ließ die Gouverneure nicht im unklaren:

„Es wäre unrealistisch, sich für weniger als 40.000 bis 50.000 schwer verbrannte Personep bei einer einzelnen Atombombenexplosion vorzubereiten“ — wozu noch eine gleich große Zahl von Toten käme.

Den Toten kann man nicht mehr helfen. Aber kann man den Lebenden helfen? Der Bericht gibt auf diese Frage eine Antwort, indem er mitteilt, was jeder einzelne dieser 40.000 bü 50.000 schwer verbrannten Menschen für eine „ideale“ Pflege benötigen würde. Jeder einzelne benötigt 42 Sauerstofftanks, 4,3 Kilometer Wundgaze, 18 Liter Blutplasma, 20 Liter Vollblut, 50 Liter anderer Heilflüssigkeiten, ferner Morphium und zahlreiche andere Drogen und drei Pflegerinnen! Die ganze Welt wird weiß sein: weiße Togen, weiße Bandagen und weiße Pflegerinnen. Pro Atombombe 1 2 0.0 0 0 b i s 1 5 0.0 0 0 P f 1 e-gerinnen. Sauerstoff und Wundgaze können vielleicht in ausreichender Menge vorbereitet werden, aber wo soll man die 1 00.000 Liter Blut pro einzelne Atombombe hernehmen? Oder gibt es einen Schutz?

Dr. Bradley beantwortet diese Frage im Titel seines Buches „No Place to Hide“ („Du kannst dich nirgends verstecken“). Er war vor einigen Monaten in Europa, um seine Erkenntnisse zu popularisieren. So sprach er auch in Wien über „Atomenergie und Weltordnung“. „Naturwissenschaft und Soziologie sind nun so unzertrennlich wie der Mensch und sein Schatten.“ Bikini war ein Fehlschlag in einem andern Sinn, als man glaubte. Die Bombe hat kaum mehr als ein paar geborene Pessimisten mit dem vollen Umfang ihres tödlichen Potentials beeindruckt. Man hat diesen Mangel an Publizität mit der militärischen Notwendigkeit der Geheimhaltung erklärt. Die Russen gingen noch weiter und leugneten die Gefahr, die den „Wehrwillen“ lähmen könnte. „Letzten Endes ist aber die uninformierte Öffentlichkeit zu Hause gefährlicher als informierte fremde Regierungen.“ Die Wolke über Hiroshima hat einen Schatten auf unser Denken geworfen. Es hilft nichts, die Augen zu schließen.

Bikini war ein Versuch, von vielen verschiedenen Menschen durchgeführt, an dessen Ergebnissen viel mehr Menschen, nämlich wir alle und unsere Kinder, teilnehmen werden. Bikini, so heißt es im Logbuch Dr. Bradleys am 10. August 1946, also nach der zweiten Explosion, „ging nicht planmäßig aus. Die Flotte, die triumphierend und unbesiegbar zurückkehren sollte, wird hier bleiben müssen, bis man sich ihrer gefahrlos entledigen kann. Einige Schiffe werden gelegentlich abgeschleppt werden; viele wird man in tiefem Wasser versenken müssen.“

Der radioaktive Belag hatte die Schiffe so verseucht, daß sie lebensgefährlich geworden waren. Und diesen radioaktiven Belag konnte man weder wegscheuern, noch auf eine andere der üblichen Arten entfernen, außer durch Wegmeißeln des Anstrichs und des Rostes und durch Abreißen der Beplankung von allen Außenseiten der Schiffe. Es gab außerdem Gefahren, die man mit den vorhandenen Instrumenten gar nicht feststellen konnte. Die seltsamsten Dinge erwiesen sich als radioaktiv: die Schiffsglocke (so wie jedes Metall), Chemikalien im Medizinkästchen an Bord, ein Stück Seife. „Man kann nie wissen, welcher bedeutungslose Gegenstand das unsichtbare Brandmal der Bombe trägt... Nicht einmal der große Pazifik kann ein Röntgen wegwaschen.“ Ein Röntgen entspricht etwa der Summe an kosmischen Strahlen und Strahlen aus radioaktiven Stoffen in der Erde, die unsern Körper im Jahr treffen. Aber in Bikini ging es nicht um ein Röntgen, und nicht um unsichtbare, aber schon tödliche Millionstel Gramm Radium, sondern um Radioaktivität in der Stärke von Tonnen Radiums. Plutonium ist noch giftiger als Radium. Es kann weder mittels Geiger-Zähler noch mittels Ionisierungskammer festgestellt werden. Man benötigt dazu einen besondern und äußerst empfindsamen „Alphazähler“, der selbst unter den friedlichen Umständen von Bikini die Arbeit eines Tages nicht überdauern könnte. In den amerikanischen Laboratorien, wo man mit reinem Plutonium arbeitet, besteht die Vorschrift, daß die geringste Infektion damit sofortige Amputation des betroffenen Gliedes erfordere.

Um auch die geringste Infektion mit radioaktiven Stoffen festzustellen, wurden Harnanalysen mancher Teilnehmer ausgeführt. In Bikini machte das keine Schwierigkeiten, aber Dr. Bradley bezweifelt, daß man sich diesen Luxus im Ernstfall würde leisten können. Vom medizinischen, wie vom militärischen Standpunkt aus gesehen, wären Harnanalysen, Blutsenkungen und ähnliche Schutzmaßnahmen für ein Opfer eines Atomkrieges 60 nützlich wie eine Lebensversicherung.“

Und man kann eventuell ein im Hafen liegendes Schiff durch Wegmeißeln, Sandgebläse oder Wegreißen entseuchen, aber man kann schließlich nicht den ganzen Hafen oder gar eine ganze Stadt auf diese Art entseuchen. Und wenn man nach einer Atomexplosion die gesamte Schiffsoberfläche „abhobeln“ muß, was bleibt dann noch viel übrig? Die Marine denkt daran, ihre Schiffe mit einem plastischen Belag zu überziehn, den man nach Verseuchung abschälen kann, aber wie will man das in unsern Städten mit den Häusern, dem Pflaster, den Wasserleitungen usw. tun?

Bradley erzählte während seines Vortrags eine illustrative Anekdote: Ein wohlbekannter Chikagoer Zeitungsherausgeber ließ eine atombombensichere Druckerei tief unter seinem Wolkenkratzer einrichten. Eines Tages fiel es aber einem seiner Mitarbeiter ein, daß nach einer Atombombenexplosion das Wasser ebenfalls verseucht sein würde. Der Herausgeber wandte sich sofort an einen Atomwissenschaftler von Chikago und fragte ihn, ob es möglich sei, einen Filter zu konstruieren, der das Wasser wieder genießbar machen würde. „Gewiß“, antwortete der Gelehrte, „aber haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wem Sie dann noch Ihre Zeitungen verkaufen können?“

Bradley kommt in seinem Logbuch zu folgenden Schlüssen:

1. Es gibt keine wirkliche Verteidigung gegen Atomwaffen.

2. Es gibt keine befriedigenden Gegenmaßnahmen und Methoden der Entseuchung.

3. Es gibt keinen befriedigenden ärztliehen oder sanitären Schutz für die Bewohner atomisierter Gebiete.

4. Die verheerende Wirkung der Atombombe kann die Welt und ihre Schätze — und deshalb die Menschen — infolge der Fortdauer der Radioaktivität jahrhundertelang treffen.

Machen wir uns jedoch nicht zu viel Sorgen über das Schicksal der Menschenrasse nach weiteren Jahrhunderten. Wir müssen erreichen, daß unsere und die nächste Generation einen Atomkrieg vermeiden. Wir dürfen unsere Zeit nicht darauf verwenden, erst immer größere und stärkere Bomben zu erfinden und dann zu lernen, wie wir ihnen ausweichen können. Denn wir können ihnen nicht ausweichen.

Aber die größte Gefahr liegt nicht in den Waffen des 20. Jahrhunderts, sondern in unseren Gedanken, die im 19. Jahrhundert steckengeblieben sind. Wir haften wie hypnotisiert an. den Vorstellungen des 19. Jahrhunderts von Handel, Finanz, Diplomatie und nationaler Souveränität. Die Diplomatie der Viktorianischen Zeit war nicht einmal damals gut, Und heute ist sie absolut unzulänglich. Ist es nicht merkwürdig, daß wir uns einen sechsjährigen Urlaub von der Zivilisation nahmen, 46 Millionen Menschen und eine Million Millionen Dollar ($ 1,000.000,000.000) opferten, um ein paar Verbrecher vors Gericht zu bringen? Man muß kein Volkswirtschaftler sein, uA zu wissen, daß man für dieselbe Menge Zeit und Geld ein fünfräumiges Haus für jede Familie auf Erden — inklusive alle Chinesen, Indier und Neger — hätte bauen können.“

Wissenschaft und Technologie haben unsere Welt schon sehr weit vereinheitlicht. In der Wirtschaft und im Handel ist sie es seit einiger Zeit. Die Abwertung des Pfundes in Washington führte zu einer Abwertung zum Beispiel auch in Indien, und eine Krise in Amerika würde eine Krise für den größten Teil der Welt, bedeuten. Auch militärisch ist die Welt heute eins. Wir sprechen von globaler Strategie und was „hinten in der Türkei“ vor sich geht, hat sofortige Wirkungen auf Washington, Moskau, London. „Die Verwüstung von London, Rotterdam, Hamburg, Stalingrad und Hiroshima ist nur das Eingeständnis einer Schuld, das fürchterliche Eingeständnis, daß es uns nicht gelungen ist, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des 20. Jahrhunderts zu lösen.“

Die Atomkraft kann uns dazu helfen. Wir können Benzin zum Betrieb von Bombern oder von Ambulanzen benützen. Die Atomkraft steht uns für friedliche wie für kriegerische Zwecke zur Verfügung. Es hängt von uns ab, ob die Atomkraft unser Meisterstück wird — oder ob sie uns meistert.

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