6646737-1958_28_10.jpg
Digital In Arbeit

Gibt es eine „Toleranzgrenze“?

Werbung
Werbung
Werbung

In den letzten Monaten“ ist auf Grund des einseitigen Verzichtes der Sowjetunion auf Kernwaffenversuche — möglicherweise als Folge einer atomaren Katastrophe im Inneren Sibiriens — wieder sehr viel über die zunehmende Radioaktivität auf Grund derartiger Versuche und die damit verbundenen Gefahren für unser Erbgut gesprochen worden. Wie immer, wenn sich die Politiker einer Sache annehmen, werden über das Ausmaß dieser Gefahren die verschiedensten Meinungen verbreitet. Je nach politischer Opportunität: durch eine rosarote oder schwarze Brille gesehen.

Es ist daher ein besonderes Verdienst, wenn die Schweizerische Akademie der medizinischen

Wissenschaften, zusammen mit der Eidgenössischen Kommission zur Ueberwachung dei Radioaktivität und der Isotopenkommission dei Akademie, eVm internationalen Symposior über die Wirkung'schwacher Strahlendosen nacr. Lausanne eingeladen haben, welcher Einladung Gelehrte aus fast allen Teilen der Well Folge leisteten. Bei diesem weltweiten Gespräch nahmen nun Fachleute zu all den hängender Fragen ernsthaft Stellung, tauschten ihre Erfahrungen aus und versuchten, ihre Aussagen, wie es in der Wissenschaft üblich ist, auch zahlenmäßig, statistisch zu belegen.

Vor allem ging es um die Festlegung einer obersten noch, zulässigen Strahlendosis, der Menschen ausgesetzt werden dürfen, ohne daß eine Schädigung ihrer selbst noch ihrer Nachkommen zu befürchten ist. Es waren sich fast einstimmig alle Gelehrten darüber einig, -daß es eine solche Toleranzdosis zunächst für das einzelne Individuum wahrscheinlich gar nicht gibt. Denn im Tierversuch zeigte es sich — und bei den Prognosen für Menschen ist man auf diese Versuche angewiesen, da man mit Menschen ja keine Experimente machen kann —, daß man einmal von einem mit einer hohen Dosis Röntgenstrahlen bestrahlten Muttertier gesunde Nachkommen erzielen kann, während bei einem anderen Tier schon eine ganz geringe Strahlenmenge eine Mutation auslösen kann.

Es blieb daher die Frage zu diskutieren, welche Strahlendosis, welche Toleranzgrenze das Fortbestehen der Menschheit als Ganzes noch nicht gefährdet. Die Feststellung, daß es bereits so weit gekommen ist, eine derartige Grenze diskutieren zu müssen, beinhaltet die volle Tragik der Entwicklung der Menschheit im atomaren Zeitalter. Denn, wer darf sich die Verantwortung zumessen, ja die Vermessenheit nach derartigen Richtlinien, die nur das Weiterbestehen des Kollektivs im Auge haben, zu handeln. Denn ein Handeln lediglich unter diesem Aspekt, läßt die Einzelschicksale ungezählter zusätzlicher Mißgeburten außer acht, all die Krüppel kommender Generationen, die ein vielfach menschenunwürdiges Dasein werden fristen müssen. Albert Schweitzer hat in seinem letzten Radioappell an die Welt besonders eindrucksvoll auf diese schlechthin unmenschliche Haltung hingewiesen, wenn er sagt:

„Nur diejenigen, welche nie bei der Geburt eines deformierten Kindes dabei waren, die nie als Augenzeugen das Wimmern der Mutter und ihren Schock sahen, wagen zu behaupten, daß unter den gegebenen Umständen die Gefahren weiterer Kernwaffenversuche eben in Kauf genommen werden müssen.“

Nun sind es aber leider die Politiker und nicht die Wissenschaftler, die sich an Toleranzgrenzen dieser oder jener Art halten oder auch nicht halten. Lind man muß selbstverständlich eine Grenze kennen, ehe man sie einhalten oder außer acht lassen kann. Wo liegen nun diese Grenzen, wie hoch ist die Toleranzgrenze, der die Menschheit als Ganzes ausgesetzt werden darf?

Um die Gefährdung, die ein Kollektiv durch radioaktive Strahlung erfährt, festzustellen, bedient man sich im Tierversuch der Bestimmung der sogenannten Verdoppelungsdosis. Darunter versteht man jene Strahlenmenge, die die auch natürlich vorkommenden Mutationen verdoppelt.

Der Engländer W. M. Court Brown hat sich vor allem mit der Schädigung der bestrahlten Menschen selbst befaßt und ist auf Grund der statistischen Analyse von Leukämiefällen (krankhafte Vermehrung der weißen Blutkörperchen) in Japan, vor und nach den beiden Atombombenabwürfen zu dem Schluß gekommen, daß sich die Wahrscheinlichkeit, an Leukämie zu erkranken, verdoppelt, wenn man einen großen Teil des für die Blutbildung verantwortlichen Knochenmarkes einer Bestrahlung von 35 r (r = Röntgeneinheit) aussetzt.

Wollen wir nun diese Zahl zu der heute bestehenden erhöhten Radioaktivität in Beziehung setzen, um einen Einblick in die bereits bestehende Gefährdung zu bekommen, so müssen wir nicht nur die absolute Höhe der bestehenden Radioaktivität kennen, sondern auch wissen, wieviel davon nun tatsächlich auf die Kernwaffenversuche zurückgeht.

Mit dieser Frage hat sich vor allem W. F. L i b b y von der amerikanischen Atomenergiekommission beschäftigt. Seinen Untersuchungen ist zu entnehmen, daß die Belastung durch die Kernwaffenversuche heute erst lediglich zirka 5 Prozent der natürlichen Belastung vorteil *bis -03 pW Jäter ausmacht; DettfW gegenüber'Bettägt' bereits die zusätzliche'

lastung.durch die in Medizin und Technik verwendeten Röntgenstrahlen bis zu 100 Prozent der natürlichen Belastung.

Wenn man das Generationsalter des Menschen mit 30 Jahren ansetzt, so beträgt also die Gesamtbelastung für diese Zeit nach dem heutigen Stand der Dinge 4,1 bis 9,3 r. Davon entfallen auf die natürliche Belastung 3 bis 6 r, auf die zusätzliche Belastung durch Röntgenstrahlen 1 bis 3 r und auf die zusätzliche'Belastung durch Kernwaffenversuche 0,1 bis 0,3 r.

Zwei weitere amerikanische Forscher, J. L. K u 1 p und Wv L a n g h a m, haben aber darauf hingewiesen, daß durch die Langlebigkeit mancher bei diesen Versuchen freiwerdenden Isotope — vor allem des radioaktiven Strontiums, das noch dazu nur zu einem geringen Teil aus dem Körper wieder ausgeschieden wird — sich diese Belastung binnen hundert Jahren verzehnfachen wird, so daß wir zu diesem Zeitpunkt bereits mit einer Gesamtbelastung (wieder auf 30 Jahre) von bereits 9 bis 12 r rechnen müssen.

Daraus ergibt sich, daß die mutmaßliche Verdopplungsdosis der Leukämie heute „erst“ zu einem Drittel erreicht ist, also „noch keine direkte Gefahr für das Fortbestehen der Menschheit besteht.

Mit der Frage der Verdoppelungsdosis für strahleninduzierte Mutationen am menschlichen Erbgut hat sich vor allem der deutsche Forscher M. Marquardt befaßt, und auch der Franzose R. T u r p i n hat in einem Referat zu diesem Problem Stellung genommen. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß 7 r als der mutmaßlich unterste Wert und 80 r als der mutmaßlich oberste Wert für diese Verdopplungsdosis angenommen werden müssen.

Setzen wir nun aber ' diesen mutmaßlich untersten Wert von 7 r — und es wird gut sein, sich an den untersten Wert zu halten — zu der heute, wie wir aufgezeigt haben, bereits bestehenden Belastung von rund 4 bis 9 r in Bezug, so werden wir sofort erkennen, welche Gefahr bereits heute jeder weitere Kernwaffenversuch in sich birgt, auch wenn es sich nur um sogenannte „saubere Bomben“ mit nur geringen radioaktiven Abfallprodukten handelt.

Dieses Symposion hat aber auch gezeigt, 3aß auch die Medizin jede nicht un-jedingt notwendige zusätzliche Strahlenbelastung besonders noch generationsfähiger Renschen tunlichst vermeiden sollte. Dies gilt rot allem für die heute groß in Mode stehenden leihenuntersuchüngen mit radioaktiven Iso-:open, ...

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung