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Radioaktiv bis in die Knochen

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,,Ein Drittel der von den Kernwaffenversuchen freigesetzten künstlichen Radioaktivität befindet sich zur Zeit noch in der Stratosphäre.“ Diese Feststellung wurde im April 1960 bei einer Tagung der Amerikanischen Chemischen Gesellschaft in Cleveland, Ohio, von Dr. Wright H. L a n g h a m gemacht. Die radioaktiven Substanzen — es betrifft vor allem das krebserregende Strontium 90 und das genetische Schädigungen hervorrufende Caesim 137 — sickern aus den höheren um die Erde zirkulierenden Luftströmungen ständig in die tieferen atmosphärischen Schichten ein und gelangen schließlich an die Erdoberfläche. Vorausgesetzt, daß keine weiteren Atomversuche durchgeführt werden, wird erst im Jahre 1965 die Atmosphäre wieder frei, von künstlicher Radioaktivität sein. Sieben Jahre nach Explosion der letzten H-Bombe wird sich also die Atmosphäre erst wieder in jenem harmlosen Ausgangszustand befinden, in dem sie vor Aufnahme der großen H-Bomben-Versuchsserien gewesen ist. Wie groß die Gefahren einer mehr und mehr radioaktiv werdenden Atmosphäre sind, ist durch zahlreiche wissenschaftliche und experimentelle Untersuchungen in den letzten Jahren erwiesen worden. Ein im Jahre 1957 veröffentlichter zusammenfassender Bericht des Geologischen Observatoriums von Lamont, USA, über den Strontium-90-Gehalt im Menschen enthält die folgende drastische Schlußfolgerung: „Wenn die Kernwaffenversuche in dieser Art fortgesetzt werden, dann ist die menschliche Rasse in ihrer Existenz bedroht.“

Zur Bestimmung des Strontium-90-Gehalts in den menschlichen Knochen wurde ein weit-weises Versuchsnetz eingerichtet. Es wurden 17 Sezierstationen ausgesucht, die über die meisten bewohnten Gebiete der Erde verteilt waren. Bei der Auswahl der Stationen war man bestrebt, eine derartige Verteilung des Versuchsnetzes zu erreichen, daß die unterschiedliche geographische Lage des Wohnortes und die verschiedenen fcrnanrungsgewohnneiten der dort

lebenden Menschen in die,Untersuchungen ein■5B,i 'jnuxui', Ii um. norb? .jwgunpSn Sa gingen. Die bkelettproben wurden in folgenden

Laboratorien verascht und radiochemisch analysiert: Lamont Observatory; Isotopes Incorpo-rated, Westwood, New Jersey; Nuclear Science and Engineering Corporation, Pittsburgh, Pennsylvania. Die angewendete radiochemische Untersuchungsmethode wurde so verfeinert, daß es möglich war, den Strontium-90-Gehalt auch dann noch zu bestimmen, wenn weniger als ein radioaktiver Impuls pro Minute vorhanden war.

Die Untersuchung ergab, daß die künstliche Radioaktivität im Menschen in Nordamerika und in Asien etwas größer ist als in Europa. Jene Länder, in denen Explosionsherde liegen, erhalten also auch einen etwas größeren Anteil an künstlicher Radioaktivität. Ferner zeigt sich auch, daß der mittlere Gehalt an Strontium 90 in den Bewohnern der südlichen Halbkugel kleiner ist als in den Bewohnern der nördlichen Hemisphäre. In jener Hemisphäre, in der Atomexplosionen ausgelöst werden, verbleibt also auch der größere Teil der radioaktiven Substanzen. Sehr deutlich tritt in der Verteilung des Strontium 90 im Menschen ein „Alterseffekt“ hervor, der sich so auswirkt, daß insbesondere in den ersten vier Lebensjahren die künstliche Radioaktivität drei- bis viermal höher ist als beim erwachsenen Menschen. Dieser Effekt ist darauf zurückzuführen, daß Kleinkinder in ihrer intensivsten Wachstumsperiode sind und daher die größte Aufnahmefähigkeit für knochen- und muskelbildende Stoffe haben.

Die mittlere Konzentration an Strontium 90, das „Weltmittel“, lag im Jahre 195 5 bei 0,12 Micromicrocurie pro Gramm Kalzium, das ist ein Zehntausendstel der maximal zulässigen Konzentration*. Im Einzelindividuum treten große Abweichungen im Strontium-90-Gehalt von diesen errechneten Durchschnittswerten auf. Aus den Versuchsprotokollen über die nordamerikanischen Proben geht hervor, daß einige Individuen das Zehnfache der mittleren Konzentration aufweisen. Diese Unterschiede sind wahrscheinlich auf die verschiedenen Ernährungsgewohnheiten des Einzelmenschen zurückzuführen.

Wie kommt dieses biologisch so schädliche Radiostrontium in die Knochen der Menschen? Welcher weltweite „Verseuchungsmechanismus“

* 1 Microcurie = 1 Millionste! Curie, 1 Micromicrocurie = 1 Millionstel X 1 Millionstel Curie. ist hier wirksam, der Strontium 90 von der Kappe des Atompilzes, wo es in der Hauptsache entsteht, bis in das menschliche Skelett befördert? Es ist die Zirkulation der Atmosphäre, die den Atomstaub über die ganze Erde verteilt. Die Verfolgung der radioaktiven Teilchenwolken nach Atomexplosionen hat der meteorologischen Forschung wertvolle Hinweise über bisher ungeklärte Luftaustauschgänge zwischen Stratosphäre . und Troposphäre eingebracht. Die Ergebnisse waren so wertvoll, daß man in Zukunft unschädliche radioaktive Substanzen künstlich in der Atmosphäre ausstreuen will, um auf diese Weise genaue Informationen über den Mechanismus großräumiger atmosphärischer Austausch-, Verwirbelungs- und Durchmischungsprozesse zu erhalten.

Im folgenden soll nun zunächst der Weg beschrieben werden, den das Strontium 90 vom Augenblick der Kernspaltung bei der Explosion bis zu seiner Ablagerung in den menschlichen Knochen zurücklegt.

Eine Atomexplosion setzt sehr große Energiemengen in einem verhältnismäßig kleinen Raum in einer extrem kurzen Zeit frei. Bereits einige Tausendstelsekunden nach erfolgter Explosion entwickelt sich eine Temperatur von vielen Millionen Grad, die sich nicht viel von der Temperatur im Innern der Sonne unterscheidet. Sie bringt das Bombenmaterial, die Umhüllung der Bombe, die Abschußvorrichtung und große Mengen Gesteine der Erdoberfläche zur Verdampfung und vereinigt alles zu einem einzigen großen Feuerball, der rasch expandiert. In den ersten Tausendstelsekunden nach der Detonation hat zum Beispiel der Feuerball einer 1-Megaton-Bombe einen Radius von 70 Metern. Zehn Sekunden später erreicht er bereits einen Durchmesser von 2,1 Kilometern. Die feurigen Dämpfe wachsen sehr rasch in die Höhe und kühlen sich durch Ausstrahlung, Ausdehnung und Mischung mit der kühleren Luft der Umgebung ab. Dabei bilden sich Millionen radioaktiver Partikeln der verschiedensten Größen. Die schwereren Teilchen fallen sehr rasch wieder zur Erde zurück. Unzählige Teilchen jedoch, die bis in höhere atmosphärische Schichten gelangen, besitzen infolge ihrer Winzigkeit und Leichtigkeit eine so geringe Fallgeschwindigkeit, daß sie längere Zeit in der Atmosphäre verbleiben können, mit den Luftströmungen davongetragen und erst in weltweiter Entfernung vom Explosionsherd abgelagert werden. Das nach einer Atomexplosion auftretende Gewölk hat eine ganz typische Gestalt. Im Zeitraum von etwa 15 Minuten bildet sich ein langer, schlanker Stengel, auf dem eine pilzförmige Kappe aufgesetzt ist, der bekannte Atompilz. Die Pilzkappe bildet sich an der Basis der Stratosphäre. Der Hauptteil des radioaktiven Materials ist in der Pilzkappe konzentriert.

Um festzustellen, welche Schichten der Atmosphäre nach Bombenexplosionen am meisten radioaktiv werden, wurden an Radiosondenballonen Instrumente zur Bestimmung der künstlichen Radioaktivität angebracht. Bei den in Japan nach Atomversuchen im Bikini-Atoll im Frühjahr 1954 durchgeführten Messungen zeigte sich, daß eine ungewöhnlich hohe Menge radioaktiver Partikeln in einer Höhe von zwölf Kilometer konzentriert ist. In dieser Höhe liegt die Tropopause, die sich dadurch auszeichnet, daß sie mit der Zone' der höchsten Windgeschwindigkeit in der Atmosphäre zusammenfällt. Ferner geht aus den Meßwerten hervor, daß vor allem in die Stratosphäre massenhaft radioaktive Partikeln gebracht werden, um ein Vielfaches mehr als in die Troposphäre. Der Hauptteil des in der Atmosphäre verbleibenden Bombenabfalls gelangt also in die Tropopause und die untere Stratosphäre.

Über das Verhältnis zwischen den Mengen der innerhalb 24 Stunden nach der Explosion zurückfallenden Teilchen zu den in der Atmosphäre zurückbleibenden Spaltprodukten liegt die folgende Schätzung vor: Die gesamte Menge des bis November 195 8 durch Atomversuche in die Atmosphäre geschleuderten radioaktiven Strontiums beträgt 9,2 Megacurie (1 Megacurie ist gleich 1 Million Curie). Davon dürften rund 6,0 Megacurie in der Atmosphäre verblieben sein. Messungen der Teilchengröße des in die Stratosphäre gelangenden Atomstaubes ergaben, daß die meisten Partikeln eine Größenordnung von ein hunderttausendstel Zentimeter oder eine noch kleinere haben. Ein solches Teilchen benötigt ein Jahr, um eine Strecke von drei Kilometern zu durchfallen. Die radioaktiven Partikeln können sich also in der Stratosphäre mehrere Jahre lang halten. Die Stratosphäre ist gleichsam als eine Art Reservoir wirksam, in dem die radioaktiven Abfallprodukte der explodierenden Bomben über eine lange Zeit aufgespeichert werden.

Die in troposphärische Luftschichten eintretenden radioaktiven Partikeln werden von den horizontalen und vertikalen Zirkulationen der verschiedensten Ausdehnung und Intensität, wie sie in der Troposphäre herrschen, erfaßt. Die Verteilung der radioaktiven Substanzen ist in diesen Luftschichten in stärkstem Maße von der gerade herrschenden besonderen meteorologischen Situation abhängig. Die radioaktive Konzentration zeigt daher über verschiedenen Gebieten der Erde starke Unterschiede. Auch die Aufenthaltsdauer des radioaktiven Materials hängt stark von dem in einem bestimmten troposphärischen Gebiet herrschenden meteorologischen Zustand ab. Dabei spielt die Niederschlagsbildung eine hervorragende Rolle. Die entstehenden Niederschlagselemente binden die radioaktiven Partikeln und bringen sie rasch zum Erdboden. Niederschläge reinigen also die Atmosphäre von radioaktiven Substanzen in kürzester Zeit. Die Aufenthaltsdauer des radioaktiven Materials in der Troposphäre schwankt daher stark und ist wesentlich kürzer als in der Stratosphäre. Sie variiert zwischen einigen Tagen und vier Wochen.

Es ist seit längerer Zeit bekannt, daß Regen und Schnee die Atmosphäre von ihren Verunreinigungen gründlich säubern. Weniger bekannt ist jedoch, daß dies ganz besonders für das in der Atmosphäre feinst verteilte Material der Fall ist. Gerade die feinst verteilte radioaktive Materie, die sich in der Stratosphäre Jahre hindurch halten kann, wird nach ihrem Eintritt in die Troposphäre schon nach kurzer Zeit zu Boden gebracht.

Es konnte ferner nachgewiesen werden, daß im Gegensatz zur Stratosphäre eine Verteilung des radioaktiven Materials entlang der Meridiane, also in Richtung der Pole, nur in geringfügigem Ausmaß stattfindet. Ein Übertritt von radioaktiven Substanzen von der nördlichen zur südlichen Hemisphäre findet in der Troposphäre überhaupt nicht statt. Der gesamte radioaktive Ausfall in der südlichen Hemisphäre wurde allein durch stratosphärische Transportvorgänge hervorgerufen. Die in der südlichen Hemisphäre niedergeschlagenen radioaktiven Substanzen bestanden nämlich durchweg aus langlebigen Isotopen.

Durch die wechselnde vertikale Konvektion und Turbulenz, vor allem aber durch die Niederschläge, werden die radioaktiven Teilchen in die unteren Luftschichten und zu Boden gebracht. Am Beispiel der Wiener Meßreihe, die am 1. Dezember 1957 mit 24stündigen Messungen begonnen und bis heute ohne Unterbrechungen fortgeführt wurde, soll nun der Verlauf der Radioaktivität an einem Ort, der sich in weltweiter Entfernung von sämtlichen Explosionsherden befindet, verfolgt werden.

In den ersten Monaten der Meßperiode waren die Werte niedrig, wobei allerdings bemerkenswerterweise die „langlebige“, das ist die künstliche Aktivität, vom Dezember 1957 bis Februar 1958 ständig zugenommen hat. Diese Zunahme deutet darauf hin, daß die künstliche Radioaktivität auch dann noch zunehmen kann, wenn auch einige Zeit hindurch keine Atomversuche vorgenommen werden. Durch vorangegangene Atomexperimente hat sich bereits ein größerer Vorrat in der Stratosphäre angesammelt, von dem bei günstigen Bedingungen radioaktive Teilchen an die Tropopause abgegeben und schließlich zu Boden gebracht werden.

Im März 1958 begannen die großen russischen Wasserstoffbombenversuche. Diese wirkten sich in Wien in einem raschen Anstieg der langlebigen Radioaktivität der Luft im April aus, der sich darin äußerte, daß die gesamte Aktivität beträchtlich zugenommen hat, verhältnismäßig mehr jedoch die langlebige Aktivität, deren Anteil an der Gesamtaktivität im Monatsmittel auf das Doppelte des Vormonats gestiegen ist. Das größte Monatsmittel der langlebigen Radioaktivität der Luft wurde jedoch im Juni gemessen, worin sich vorhergegangene amerikanische Atombombenversuche, die die Wirkungen der russischen Versuche überlagerten, bemerkbar mächen. In der letzten Junidekade ging aber dann der langlebige Anteil wieder stark zurück.

Die Monatsmittelwerte der langlebigen Radioaktivität nahmen aber bis Jahresende dauernd zu, während gleichzeitig die Monatsmittelwerte der Gesamtaktivität abnahmen, so daß der p o-zentuelle Anteil der langlebigen künstlichen Aktivität im Dezember den zweieinhalbfachen Betrag des Septemberwertes erreichte. Auch im Jänner 1959 war die langlebige Radioaktivität weiter angestiegen, bei gleichzeitiger Abnahme der Gesamtaktivität. Besonders stark war der Anstieg im Februar, in welchem Monat sogar das Monatsmittel des Juni 1958 übertroffen worden ist. Im Mai des Jahres 1959 ging sowohl die Gesamtaktivität stark zurück, um seither auf einem etwa dem Normalzustand entsprechenden Niveau bis heute zu verbleiben. Auswirkungen der französischen Kernwaffenversuche konnten bisher in Wien nicht beobachtet werden.

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