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Wankende Theoreme

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Bei seiner ersten Fahrt nach Amerika im Jahre 1492 kam Christoph Kolumbus mit seinem Schiff in eine Zone nordöstlicher Winde, über deren vorher nie erfahrene, unheimliche Beständigkeit seine Geführten entsetzt waren. Der Nordost trieb sie vom heimatlichen Hafen immer weiter ab ins Ungewisse, so daß sie befürchteten, ihr Vaterland nie mehr wiederzusehen. Kolumbus wurde durch dieses Erlebnis der Entdecker der Passatwinde. Später wurden vor allem von den englischen Seeleuten die großen Vorteile dieser regelmäßigen Winde für die Schiffahrt erkannt, die sie „trade-winds“ (Handelswinde) nannten. Nach verschiedenen irrigen Erklärungsversuchen des Phänomens entwarf H a 1- 1 e y (1686) als erster eine richtige Theorie der Passate, die bis heute ihre Gültigkeit1 behalten hat. Er nahm an, daß die Passate ihren Ursprung in der Tempera- turdifferenz zwischen Äquator und den Polen haben, und schloß ferner auf die Existenz des Antipassats.

Damit gab Halley schon vor 266 Jahren ein richtiges Bild von diesem wichtigen Glied der allgemeinen Zirkulation der Atmosphäre, das 1735 durch’ Hadley noch ergänzt wurde, als er den Einfluß der1 Erdrotation auf die Richtung des Passats nachwies. Während 100 Jahre hat mau fast nichts Neues den fundamentalen Ergebnissen dieser beiden englischen Gelehrten hinzufügen können. Erst Dove fügte die Passate seiner berühmten Theorie der allgemeinen Zirkulation eiri;; einer Theorie, die fast bis heute in ihren Grundauffassungen vorherrschend geblieben ist.

Nach Dove gehen alle Luftströmungen auf eine Temperaturdifferenz zurück. Dadurch, daß die Erde unaufhörlich in den Tropenzonen erwärmt und an den Polen abgekühlt wird, entstehen zwei atmosphärische Ausgleichsströmungen. Die eine befördert erkaltete Luft in den unteren Schichten gegen den Äquator, die andere führt in der Höhe warme Luft zu den Polen zurück. In der Tropenzone sind beide Ströme übereinandergelagert, ohne sich zu vermischen. Die untere Strömung heißt Passatströmung, die obere Antipassat. In der Zone der gemäßigten Breiten sind im Gegensatz dazu die warme äquatoriale Strömung und die kaltė polare Strömung ständig miteinander in Konflikt. Die jeweilige Vorherrschaft der einen oder der anderen Strömung bestimmt den augenblicklichen Witijerungszustand.

Seit dem zweiten Weltkrieg ist für die meteorologische Wissenschaft ein neues Zeitalter angebrochen: das Zeitalter der zirkümpolaren oder gar globalen dreidimensionalen Meteorologie. Es werden heute im täglichen Wetterdienst nicht nur „Europakarten“ und Wetterkarten anderer begrenzter Gebiete hergestellt, sondern „Zirkumpolarkarten“ und „Weltkarten“. Außerdem hat die Radiosonde dem Wetterdienst auch die dritte Dimension bis 30 Kilometer Höhe erschlossen.

Die zirkümpolaren und globalen Wetterkarten in Verbindung mit den Höhenwetterkarten und Vertikalschnitten durch die Erdatmosphäre stellen den modernen Meteorologen täglich mit jeder Wetterkarte vor einen Komplex von Fragen über die allgemeine Zirkulation der Atmosphäre. Was Halley, Hadley, Dove und viele andere Forscher der früheren Zeit sich intuitiv erarbeiten mußten, liegt heutje dem Meteorologen in Form großräumiger Wetter- und Strömungskarten als selbstverständliche Arbeitsunterlage täglich vor Augen. Es ist daher keineswegs erstaunlich, daß in den letzten Jahren die allgemeine Zirkulation, deren herkömmliche Erklärung so einfach urd einleuchtend schien, heute zu einem heiß umkämpften Problem geworden ist. D i e Theorien der klassischen Meteorologie wanken. Die Meteorologen der neuen Richtung meinen, daß die Loslösung der Betrachtung vom Boden und der bewußte Übergang zu einer wahrhaft dreidimensionalen, mindestens zirkümpolaren Anschauung in den letzten Jahren dazu geführt hat, daß die bisherigen theoretischen Vorstellungen über den allgemeinen Kreislauf revisionsbedürftig geworden sind.

In den letzten Jahren wurde in der Tropenzone eine große Zahl von Höhenwindmessungen bis über 30 Kilometer Höhe durchgeführt. Vor allem über Singapore (1 Grad Nordbreite), Padang (Sumatra, 1 Grad Süd) und über dem einsamen Atoll Addu (Malediven, 0,7 Grad Süd), mitten im Indischen Ozean, liegen zahlreiche elektrisch gepeilte Höhenwindmessungen yor. Diese Messungen und die Flugerfahrungen der Amerikaner in diesem Gebiet führten zu der überraschenden Entdedcung einer ganzjährigen äquatorialen Westwindzone in der freien Atmosphäre, die bereits südlich des Äquators mit einer erstaunlich hohen Beständigkeit einsetzt. Nach der alten klassischen Theorie des allgemeinen Luftkreislaufes konnte über dem Äquator nur ein windschwaches Gebiet, eine Kalmenzone, existieren. Nun erinnerte man sich wieder auf einen Hinweis W. Meinardus, der in seiner 1893 abgeschlossenen Dissertation, in welcher er Segelschiffsbeobachtungen auswertete, auf die Existenz einer selbständigen Westwindzone beiderseits des Äquators hingewiesen hatte und den man damals nicht weiter beachtet hatte. In das Modell der allgemeinen Zirkulation der Atmosphäre muß also diese äquatoriale Westwindzone als neues Glied eingefügt werden.

Verschiedene Forscher, wie E r t e 1, Philipps und F 1 o h n, wiesen in der letzten Zeit auf Diskrepanzen zwischen der auf Hadley (1735) zurückgehenden Lehre von der Meridionalzirkulation und neuen Ergebnissen der meteorologischen Forschung hin. Hadley begründete, wie schon erwähnt, jene Lehre, welche der ablenkenden Kraft der Erdrotation auf den Luftaustausch zwischen Äquator und Pol und so auch auf die Richtung des Passats (Nordostrichtung auf der Nordhalbkugel, Südostrichtung auf der Südhalbkugel) eine überragende Rolle zuwies. Der deutsche Meteorologe F 1 o h n spricht von einem folgenschweren Dilemma, das sich aus der Tatsache ergibt, daß sich die Lehre von der Meridionalzirkulation nicht mit der sogenannten Gleichung des geostrophisdhen (isobaren parallelen) Windes vereinbaren läßt. Nach dieser Gleichung kann es eine derart großräumige Abweichung vom Druckfeld, wie es eine von den Polen zum Äquator gerichtete Passatströmung verlangen würde, gar nicht geben. In theoretischer Formulierung kann man auch sagen: „Es gibt kein Druckfeld, das einer im Mittel über einen Breitenkreis nicht verschwindenden meridionalen Strömungskomponente das Gleichgewicht halten könnte.“ Der „Nordost“- beziehungsweise „Südost“passat soll tatsächlich nur ätif dem kleineren Teil der Erdatmosphäre regelmäßig ausgebildet sein.

Nach der neuen Auffassung wehen in der Passatzone, im Gegensatz zur klassischen Lehre, vorwiegend breitenparallele Winde und von einer durchgängig zum Äquator hin oder von ihm weggerichteten Strömung (Passat beziehungsweise Antipassat) kann angeblich keine Rede sein. In der modernen meteorologischen Literatur, Vor allem auch in der amerikanischen, versteht man daher unter dem Urpassat die tropische Ostströmung („tropical easterlies“), unter Antipassat eine Westströmung mit wechselnder meridionaler Komponente.

Die meisten Untersuchungen über die Dynamik der Erdatmosphäre müssen den Nachteil mit in Kauf nehmen, daß die großräumigen Bewegungsvorgänge nicht direkt beobachtet werden können, sondern durch indirekte Schlüsse aufgededct werden müssen, Wir leben eben am Grunde des Luftmeeres und daher bleibt uns ein umfassender Überblick über die Bewegungen der Erdatmosphäre verborgen. Man ist daher auf den Gedanken gekommen, die allgemeine Zirkulation der Atmosphäre bei anderen Weltkörpern zu studieren und sie mit den Verhältnissen auf der Erde zu vergleichen. In den letzten Jahren wurden solche Untersuchungen beim Planeten Jupiter durchgeführt. Jupiter wurde deshalb aus- gewählt, weil er als wolkenerfüllter Planet der Erde verwandter ist als etwa der wolkenfreie Mars. Ferner ergab sich aus den V2-Photographien aus 130 Kilometer Höhe, daß die Wolkensys’eme des Jupiters sogar viel klarer in Erscheinung treten als die — selbst im wüstenhaft trockenen Subtropengebiet der USA — nur schwach sichtbaren Konturen der Erdoberfläche, so daß diė Untersuchung der Jupiteratmosphäre und der Vergleich mit der irdischen Atmosphäre als sehr aussichtsreich erschien.

Es ergab sidh, däß die Zirkulation der Jupiteratmosphäre im umgekehrten Sinn wie die der irdischen, aber im gleichen Sinn wie die der Sonne erfolgt. Während beim Jupiter und bei der Sonne die Äquatorialregion schneller rotiert als die subtropischen Breiten, bleibt sie bei der Erde mit ihrem tropischen Urpassat gegenüber diesen zurück, und die kräftige Westströmung der gemäßigten Breiten eilt voraus. Wie erfolgversprechend diese Forschungen noch werden können, ergibt sich aus einer Tatsache, die Staunen erwecken muß; die scheinbare Rotationsdauer und damit die Differenz der Höhenströmung in meridionaler Richtung ist bei Jupiter auf Zehntelsekunden bekannt, die der Erde bestenfalls auf zehn Minuten. Wir müßten die Genauigkeit unserer Windmessungen um volle drei Größenordnungen steigern, wollten wir die Genauigkeit astronomischer Beobachtungen erreichen. Die aufschlußreichen Untersuchungen bei Jupiter führten schließlich zu dem Ergebnis, daß die tatsächliche Zirkulation der Atmosphäre nicht rein meridional sein kann, sondern einen großräumigen horizontalen Austauschvorgang darstellt, in UbereinstimT mung mit den schob früher erwähnten neuen Beobachtungstatsachen und theoretischen Überlegungen der letzten Jahre.

Die klassische Theorie der atmosphärischen Zirkulation war über 250 Jahre lang die unbestritten geltende Lehrmeinung der meteorologischen Wissenschaft. Das Fundament des Gebäudes der bisherigen Auffassung ist durch die Be- öbachtungstatsadien und Erfahrungen der letzten Jahre zweifellos an mehreren Stellen unterhöhlt worden. Ob sich die neuen Argumente wirklich so stark und unwiderleglich erweisen werden, um den endgültigen Zusammenbruch der klassischen Lehre herbeizuführen, muß noch abgewartet werden.

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