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Roman des Meters

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Vor genau 150 Jahren (im November 1800) wurde mit Dekret der Konsuln der Republik Frankreich das Gesetz über die Einführung des metrischen Systems verkündet.

Daß die beiden Gelehrten Jean Baptist Delambre und Pierre Francois Mechain, die in den bewegten Zeiten der Revolutionsjahre, begleitet von einigen Trägern und Knechten, quer durch Frankreich zogen und von Zeit zu Zeit mit ihrem ganzen Troß haltmachten, eine Fahne entrollten und durch Fernrohre die Gegend absuchten, Aufsehen erregten, ist kaum verwunderlich. Was anders sollten die abergläubischen Bauern der Normandie oder die Schafhirten der Auvergne denken, wenn sie das Tun dieser seltsamen Schar beobachteten, als daß hier Schatzgräber oder verdächtige Eindringlinge am Werk seien. Die nicht minder mißtrauischen Republikaner hingegen, voll des Argwohns gegen die immer noch mächtigen und konspirierenden Königstreuen, verfolgten die kleine Reisegruppe mit ihren Anfeindungen und Belästigungen, und mehr als einmal kam es zum wilden Sturm auf das weiße Banner, das Delambre entrollte, weil man es für die Fahne der Bourbonen hielt. Um solchen Gefahren zu entgehen und ungestört arbeiten zu können, ließ der Gelehrte einen roten und einen blauen Streifen aufnähen und pflanzte nun die Trikolore zur Kennzeichnung der Richtungspunkte in die Erde, um sie von seinen Mitarbeitern anvisieren zu lassen. Von Dünkirchen bis hinab nach Barcelona lief die Linie der Vermessungsarbeiten und der Zweck war, so hatten die „Deputierten der Nation“ in Paris es beschlossen, die Länge des Erdmeridians zwischen diesen beiden Punkten zu bestimmen, um daraus ein neues, internationales Längenmaß ableiten zu können.

Schon mehr als hundert Jahre zuvor hatte ein anderer Franzose, der Lyoner Vikar M o u 1 o n, vorgeschlagen, die Einheit eines neuen, allgemein anerkannten Längenmaßes der Erde selbst zu entnehmen. Er dachte dabei an die Länge einer sogenannten „Bogensekunde“, den 60. Teil eines Grades (bekanntlich beträgt der Erdumfang 360 Grade), was einer Strecke von 1852 Kilometer entsprochen hätte und später als „Seemeile“ bezeichnet wurde. Um dem Wirrwarr der vielen im Gebrauch stehenden und manchmal von Ort zu Ort verschiedenen Längenmaße ein Ende zu bereiten, waren damals viele Gelehrte mit Vorschlägen für ein ganz neues Maßsystem beschäftigt.

Im ersten Jahr nach dem Sturm auf die Bastille, am 8. Mai 1790, beschloß die französische Nationalversammlung daher, ein neues Längenmaß zu errechnen, und ein weiteres Jahr später drang die Auffassung, dieses Maß auf das Dezimalsystem zu beziehen, durch, die beiden eingangs erwähnten Gelehrten erhielten ihren Auftrag und zogen, umtobt von den Wirren des immer noch anhaltenden Bürgerkrieges, aus, den Meridian zwischen Dünkirchen und Barcelona zu vermessen. Damit begann der Roman des Meters, der Roman eines Maßes, das heute die Grundlage der gesamten wissenschaftlichen und eines sehr wesentlichen Teiles der wirtschaftlichen Tätigkeit aller Menschen darstellt.

Der zehnmillionste Teil des Erdquadranten, so lautete der Vorschlag der französischen Kommission für die Schaffung des einheitlichen Längenmaßes, sollte als Einheit angenommen und als „metre“ bezeichnet werden. Die Kommission, von Bischof Talleyrand angeregt, setzte sich aus den berühmtesten Wissenschaftlern dieser Epoche zusammen. Ihr gehörten unter anderen auch Lagrange und L a p 1 a c e an, und sie überprüfte und diskutierte eingehend die von den beiden mit der schwierigen Vermessungsarbeit betrauten Gelehrten eingehenden Berichte und Ergebnisse. Erst im Jahre 1798 konnte sich die Konstituante abschließend mit der Frage beschäftigen, das neue System anerkennen, und zwei Jahre darauf, am 13. Brumaire des Jahres IX (4, November 18 0 0), das „Metrische System“ in Frankreich obligatorisch einführen.

Das erste, auf Grund der Messungen von Delambre und Mechain angefertigte Urmeter, das im Archiv des „Con-servatoire des Arts et Metiers“ in Paris deponiert und von dem auch der Kommission angehörenden Physiker Borda aus Platin angefertigt worden war, stellte sich bei genauen Nachmessungen später als etwas zu klein heraus. Die sehr schwierigen Meridianmessungen und die darauf aufbauenden Rechnungen erfuhren noch einige Korrekturen, und so entschloß sich die indessen gebildete „Internationale Kommission für Maße und Gewichte“ im Jahre 1875, ein neues „Urmeter“ anzufertigen, das aus einer Legierung von 90 Prozent Platin und 10 Prozent Iridium hergestellt wurde. Die am 20. Mai 1875 in Paris abgeschlossene „Meterkonvention“ nahm dieses Urmeter als endgültigen Prototyp des Meters an und definierte ihn als „Abstand der zwei Striche bei der Temperatur schmelzenden Eises und einem Luftdruck von 760 Millimeter Quecksilber“. Dieses Urmeter, als dessen Hüter das „Bureau International des Poids et Mesure“ etabliert wurde, weicht damit von der ursprünglich proklamierten Definition: „Ein Meter ist der vierzigmillionste Teil des Erdumfanges“ etwas ab, und zwar um den für den Laien belanglosen, für die wissenschaftliche Messung aber recht bedeutsamen Betrag von 0,00856 Zentimeter.

Nach dem so geschaffenen Urmeter-modell bestimmten die der Meterkonvention angeschlossenen Länder nun ihrerseits die jeweiligen Vorbilder und Eicheinheiten. Das zum internationalen Prototyp erklärte Maß wurde aus 31 gleichen Stücken ausgewählt, die um 0.0002 Millimeter nach oben oder unten voneinander abwichen. Die Urmeter sind X-förmig gegossen und die als Urbild dienende Strecke liegt im neutralen Teil des X-Balkens, um auch die Wirkung der Durchbiegung auszuschalten. So verblieb man auf der Generalkonferenz des September 1889 und deponierte das Urmeter im Kellergewölbe von Breteuil, einem Vorort von Paris, wo das Internationale Meterbüro seinen Sitz hat. Hier wird das kostbare Vorbild aller Meßbänder unter einer zehn Meter dicken Decke und bei ständig gleichbleibender Temperatur gehütet, und nur ganz selten darf ein Sterblicher die in rotem Samt schlummernden Urmaße (auch das Urkilogramm und das Ur-hohlmaß von einem Liter sind hier verwahrt) erblicken. Die beiden Schlüssel zu diesem Tresor der Wissenschaft werden getrennt verwahrt, wobei der eine der beiden in den Händen des Generalsekretärs des Büros in Paris, der andere im Besitz des jeweiligen Präsidenten der Internationalen Kommission ist.

Als sich mit der zunehmenden Präzision der Instrumente und mit steigenden Anforderungen der wissenschaftlichen Meßgenauigkeit herausstellte, daß verschiedene Einflüsse und nicht zuletzt auch molekulare Umsetzungen der verwendeten Metallegierung doch zu nicht unerheblichen Größenschwankungen des Pariser Prototyps und seiner Abbilder führten, suchte man nach einer natürlichen, konstant bleibenden Einheit, die jederzeit nachprüfbar sein sollte und immer und überall die gleichen Werte ergeben müßte. Die Generalkonferenz 1927 einigte sich daher auf eine ganz andere Einheit, die von irdischen Faktoren unabhängig ist. nämlieh auf die Wellenlänge der im Sonnenspektrum auftretenden roten Kadmium 1 i n i e. Diese Linie wurde mit einer Länge von 0,64384696 Mikron (1 Mikron = ein Tausendstel Millimeter) gemessen und demnach das Meter mit Beschluß der Generalkonferenz von 1927 als „die 1,533.164,13fache Wellenlänge der Kadmiumlinie bei 150 Grad Celsius, 760 mm Druck und in trockener Luft von 0,03% Kohlensäuregehalt“ definiert.

In der Praxis und vor allem für industrielle Zwecke bedient man sich als Vergleichs- und Ursprungsmaße meist der sogenannten „Endnormen“. Es sind das Stäbe oder Klötze aus einer besonderen Stahllegierung, und das Maß wird durch den Abstand zweier planparalleler Ebenen gegeben, was bei der Verwendung ausgewählten Materials und spezieller Bearbeitung enge Toleranzen garantiert und die Abweichungen unter 0,00005 mm hält. Diese Genauigkeit ist in der mit unglaublicher Sorgfalt polierten Oberfläche dieser Stahlstücke verankert. Die Herstellung dieser Endnormen, deren berühmteste von C. E. Johannson geliefert werden, ist Fabrikationsgeheimnis einiger weniger schwedischer Firmen. Die fast unglaubliche Genauigkeit, die man mit Hilfe dieser „Endnormen“, auch „ Johannson-Normen“ genannt, erzielen kann, kann man daraus ermessen, daß sich selbst auf einer Distanz von zehn Kilometern eine Ungenauigkeit von höchstens einem Millimeter ergibt!

Es ist kennzeichnend für die Verfeinerung unseres wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens, daß aber selbst solche Abweichungen und minimalen Unge-nauigkeifen für manche Aufgabenbereiche, vor allem auf elektronenphysikalischem Gebiet, „untragbar“ sind und man höchstens bereit ist, Meßfehler von einem Millimeter auf einer Strecke von hundert und mehr Kilometern zu tolerieren, also Abweichungen von einem Hunderttausendstel eines Millimeters eben noch hinzunehmen. Solch Meflgenauigkeiten sind aber mit Hilfe des sogenannten „direkten“ Messens nicht mehr erzielbar, die moderne Physik hat jedoch auf dem Gebiet der Interfero-metrie eine Möglichkeit geschaffen, die schon früher mit dem Hinweis auf die Wellenlänge der Spektrallinien erwähnt wurde. Sie beruht darauf, daß jede Farbe des Sonnenspektrums eine andere Wellenlänge hat und man gut feststellbare Linien mit genau bekannten Wellenlängen als Vergleichsobjekte, also „Prototypen“ anderer Art, heranzieht.

Auf dieser Basis will man nun überhaupt darangehen, ein neues Standardmaß zu entwickeln, und möglicherweise wird vielleicht schon der nächsten Generalkonferenz der Meterkonvention ein Vorschlag unterbreitet werden, eine neue, international anerkannte Meßeinheit festzulegen. Die im Jahre 1927 definierte Beziehung des Meters auf ein Vielfaches der roten Kadmiumiinie stellt nämlich deswegen noch nicht restlos zufrieden, weil dieses Metall, wie so viele Elemente, aus mehreren Isotopen zusammengesetzt ist und daher auch wieder Ungenauigkeiten in der Wellenlänge des ihm eigenen Lichtes auftreten können. Das „Bureau of Standards“ der USA hat daher angeregt, das Licht eines bestimmten Quecksilberisotops zu verwenden, und zwar jenes Quecksilbers, das man mittels der Atomspaltung aus Gold erhält.

Wie dem auch sei und wie weit man in der Verfeinerung der Meßgenauigkeiten und in der Festlegung der notwendigen Normen auch noch kommen mag, das Wesentliche des vor eineinhalb Jahrhunderten eingeführten Systems, die Anwendung des Dezimalsystems und die Festlegung auf rechnerisch leicht erfaßbare und ineinander umrechenbare Einheiten, wird bestehenbleiben und auch fernerhin die Grundlage für den wissenschaftlichen Fortschritt bilden.

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