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Theorie des Wettersturzes

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Am 14. November 1854 überrashte ein Orkan die im Krimkrieg an der Küste des Schwarzen Meeres operierenden französischen und englishen Flotten. Mehrere Shiffe erlitten schwere Beshädigungen, das französische Linienschiff Henri IV geriet in Seenot und sank. Diese Sturmkatastrophe war für die synoptische Meteorologie von großer Bedeutung. Denn der damalige französishe Kriegsminister Marshall Vaillant beauftragte den Direktor des Pariser Oberserva- toriums Leverrier mit einer Untersuchung über die Ursahen des schweren Sturmes. In einer Studie, die für die Entwicklung des modernen Wetterdienstes historische Bedeutung erlangt hat, konnte Leverrier einwandfrei nahweisen, daß sih das Zentrum des Sturmes von Westeuropa quer über Deutshland und österreih bis zum Shwarzen Meer verlagert hatte, und daß es möglih gewesen wäre, bei rechtzeitiger Kenntnis der entsprechenden meteorologischen Beobachtungen die Ankunft des Sturmes im Schwarzen Meer vorherzusagen. Seine Untersuchung brahte Leverrier auf den Gedanken eines internationalen Wetterdienstes unter Ausnützung des bereits damals über Europa gespannten telegraphishen Nahrichtennetzes. Einige Jahre vorher hatte Carl Kreil, der erste Direktor der 1851 mit kaiserlicher Entschließung gegründeten Zentralanstalt für Meteorologie und Erdmagnetismus in Wien, bald nach Erfindung des elektrishen Telegraphen als erster darauf hingewiesen, daß die neue Erfindung zur Durhführung eines europäischen Wetterdienstes ausgenützt werden könnte. Am 19. Februar 1855 unterbreitete Leverrier der französischen Akademie der Wissenshaften die erste telegraphische Wetterkarte, die den atmosphärischen Zustand über, Frankreih vom gleihen Tage zeigte. Zwei Jahre später hatte sih eine große Anzahl europäisher Länder an das internationale meteorologische Netz angeschlossen.

Jetzt erst, durh die laufende kartographische Darstellung der Wetterlage und unmittelbare Beobahtung des Wetters über eienm größeren Gebiet, waren die Voraussetzungen für wichtige meteorologishe Entdeckungen geschaffen. Bereits im Jahre 1860 formulierte Buys-Ballot das wichtige barische Windgesetz, das die enge Beziehung zwishen Wind und Luftdruckverteilung aufdeckte. Die meisten Meteorologen dieser Zeit bis zum ersten Weltkrieg maßen dem Luftdruckfeld, das durh Linien gleihen Luftdruckes, die Isobaren, auf der Wetterkarte dargestellt wird, die allergrößte Bedeutung bei. Sie vertieften sih in die vershiedenen Formen der Isobaren und zogen daraus wertvolle Erkenntnisse. Infolge dieser sehr einseitigen Betrachtungsweise, die dem Luftdruck über allen anderen meteorologischen Elementen eine Vorzugsstellung einräumte, blieben den „Isobarenmeteorologen“ die Ursachen vieler Erscheinungen verborgen. So verleitet zum Beispiel der im allgemeinen recht regelmäßige Verlauf der Isobaren zu der Annahme, daß der Wetterablauf kontinuierlich erfolge. Das Phänomen des Wettersturzes paßte nicht in das Bild, das man sich damals von den Witterungsvorgängen machte. In den alten Wetterkarten wurde diese für das Wettergeschehen unseręp Breiten so charakteristische Erscheinung überhaupt nicht zur Darstellung gebracht, und es ist daher schwierig, sich an Hand dieser Karten den wirklichen Witterungsablauf zu rekonstruieren. Der Wettersturz, sein Name deutet schon darauf hin, erfolgt mit plötzlicher Temperaturänderung, sprunghaftem Windwechsel, einer „Drucknase“ im Barogramm, mit Feuchtigkeitssprung und einer völligen Veränderung der Bewölkung -, Niederschlags- und Sichtverhältnisse, kurz, mit einer diskontinuierlichen Änderung aller meteorologischen Elemente. Durch diese überaus markanten Erscheinungen beim Wettersturz tritt bereits deutlich in Erscheinung, daß die meteorologischen Elemente in ihrer Gesamtheit betrachtet werden müssen, wenn man ein der Wirklichkeit entsprechendes Bild vom Ablauf der Witterung erhalten will.

Schon der englische Admiral Fitz Roy hatte zu Beginn der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts eine richtigere Vorstellung von den Wettervorgängen in unseren Breiten als die Anhänger der später herrschenden Isobarenmeteorologie. Als altem Seefahrer waren ihm plötzliche Wetteränderungen gut bekannt, und er nahm an, daß die Wettervorgänge in unseren Breiten in der Hauptsache durch den Kampf verschiedener Luftströmungen verursacht würden. Erst im Verlauf des ersten Weltkrieges, als ein dichteres meteorologisches Beobachtungsnetz zur Verfügung stand, knüpfte die norwegische Meteorologenschule unter Führung von Bjerknes an die Gedankengänge Fitz Roys an. Vorher hatten die Österreicher Max Margules und Heinrich Ficker durch grundlegende Arbeiten der „norwegischen Frontentheorie“ den Boden bereitet.

Max Margules, ein Forscher, einer der bedeutendsten Theoretiker in der Meteorologie, dessen Anschauungen und Leistungen seiner Zeit weit vorauseilten, ist der Begründer der modernen Sturmtheorie. Seine Arbeit „Über die Energie der Stürme“ war bahnbrechend. Margules ist — ein verspätetes Kriegsopfer — an Entkräftung gestorben. Er hinterließ der Nachwelt nur eine spärliche Anzahl von Arbeiten. Aber jede Zeile, die Margules geschrieben, jede Gleichung, die er abgeleitet hat, ist von fundamentaler Wichtigkeit für die Auffassung dynamisch-atmosphärischer Probleme geworden.

Heinrich Ficker gelangte im Jahre 1911 auf Grund einer Untersuchung rascher Erwärmungen und Abkühlungen in Rußland und Nordasien zur Schlußfolgerung, daß eine barometrische Depression aus zwei nebeneinanderfließenden, verschieden temperierten Luftströmungen — aus einer Wärmewelle in ihrem vorderen und einer Kältewelle in ihrem rückwärtigen Teil — besteht und nicht als Ursache, sondern als Folge dieses Nebeneinanderfließens anzusehen ist. Er grenzte diese Luftströme durch Frontlinien gegeneinander ab und zeigte ferner, daß die vorherrschenden Südwestwinde immer vorhanden sind und nur temporär durch kalte, aus dem Polarbecken vorstoßende Luft vom Boden abgehoben werden; dabei sind die Südwestwinde als ein Glied der allgemeinen Zirkulation zu betrachten, die Kältewellen als ein Vorgang, der den Rücktransport der Luft in niedrigere Breiten besorgt.

Die von V. Bjerknes begründete norwegische Schule ging davon ab, einem einzigen meteorologischen Element eine Vorzugsstellung einzuräumen und führte eine Betrachtung der meteorologischen Elemente in ihrer Gesamtheit ein. Aus dieser Betrachtungsweise folgten die Begriffe der Luftmasse und der Front. Die Analyse der Wetterlage wurde nun nicht mehr allein auf der Grundlage der Isobaren vorgenommen, sondern sie bestand nun hauptsächlich darin, eine Gliederung der Troposphäre in einzelne Luftmassen (Luftkörper) vorzunehmen. Die Begrenzungslinie verschiedener Luftmassen erhielt die Bezeichnung „Front“. Denn so wie die Front im Kriege die Grenze zwischen den beiden Heeren darstellt, so stellt sie in der norwegischen Frontentheorie die Grenzlinie zwischen verschiedenen Luftmassen dar. Man spricht von einer Kaltfront, wenn die Kaltluftmasse aktiv gegen die warme vordringt. Von einer Warmfront, wenn die Warmmasse die aktive Luftmas6e ist. Die Fronten werden in die Wetterkarte eingezeichnet und sind seither als Zonen aktivsten Wettergeschehens aus der modernen Wetterkarte nicht mehr wegzudenken. Durch das Einträgen der Frontensymbole in die Wetterkarte wird kenntlich gemacht, daß längs dieser Linien der Witterungsablauf diskontinuierlich vor sich geht. Die durch Isobaren und Fronten kartographische Darstellung des Wetters über einem Gebiet kommt der Wirklichkeit viel näher als die alte Darstellung.

Die Eroberung der dritten Dimension durch das Flugzeug und durch die Radiosonde zwischen dem ersten und zweiten Weltkrieg brachte der synoptischen Meteorologie weitere Erkenntnisse. Durch die Auswertung direkter Messungen und Beobachtungen aus der freien Atmosphäre und ihrer kartographischen Darstellung in Flöhenkarten wurden die Anschauungen über die Fronten weiter vertieft und ergänzt. Zunächst wurden einige Einwände gegen die erste ursprüngliche Form des norwegischen Frontenmodells vorgebracht.

Ficker hatte schon 1921 die Bemerkung gemacht, daß im norwegischen Frontenschema kein Raum für Schönwetter sei. Nach Bjerknes erhebt sich nämlich die Warmfrontfläche, an der Wolken- und Niederschlagsbildung vor sich geht, bis neun Kilometer Höhe. Diese Auffassung verträgt sich nach Ficker nicht mit den Beobachtungstatsachen. Denn erstens dürfte nur selten eine polare Kältewelle bis neun Kilometer reichen, und zweitens fände man auf der Rückseite jeder Kältewelle, länger oder kürzer dauernd, ein Stadium mit schönem und warmem Wetter, das durch absteigende Luftbewegungen hervorgerufen wird. Dieser Einwand zusammen mit einigen anderen führten den Deutschen S t ü v e zum Entwurf eines verbesserten Frontenschemas, das alle vorgebrachten Einwände weitgehend berücksichtigte.

Eine Erweiterung der Kenntnisse über die besondere Form der Fronten über dem Meere brachte der zweite Weltkrieg. Als Ersatz für die im Kriege ausgefallenen Meldungen wurden vom deutschen Reichswetterdienst regelmäßige Wettererkundungs- fiüge gemacht. Die wichtigsten und täglich beflogenen Routen führten von Nord- norwegen bis in das Gebiet von Spitzbergen, von Drontheim nach Jan Mayen, von Stavanger über die Färöer westwärts bis zum Atlantik südlich von Island, von der Deutschen Bucht wieder über die Nordsee bis zu den Shetlandsinseln und von Brest aus jeweils 1500 Kilometer in nordwestlicher Richtung. Da stets Meteorologen mit- flogen, wurde eine wesentliche Erweiterung der Kenntnisse über das Wettergeschehen auf dem Nordatlantik erzielt. Trotz den großen Verlusten an Menschen und Material wurde diese Wetteraufklärung bis zum Kriegsende durchgehalten. Der deutsche Meteorologe Schwerdtfeger hat die gewonnenen Erfahrungen in einer Reihe sehr wertvoller Arbeiten veröffentlicht.

Das wichtigste Ergebnis dieser Wetteraufklärung ist die Tatsache, daß sich über See offenbar eine scharfe Frontfläche, wie sie über dem Kontinent festgestellt wurde, nicht halten kann. Schwerdtfeger fand über dem nordwesteuropäischen Seegebiet weder eine geneigte, scharf ausgeprägte Kaltfrontfläche, noch die bekannte Keilform der vordringenden Kaltluft. An Stelle der scharfen Frontfläche fand Schwerdtfeger zumeist eine „labile Übergangszone“ von Warm zu Kalt. Die Beobachtungen der deutschen Wettererkundungsstaffeln ergaben ferner, daß die stärkste Schauertätigkeit bei diesen Fronten über See vor der Kaltfront liegt und daß man nach Frontidurchgang sofort in ein Gebiet vollständiger Wolkenlosigkeit gerät, das sich etwa 50 bis 100 Kilometer weit hinter der Kaltfront erstreckt.

Die Beobachtungen von Schwerdtfeger haben den Diskussionen über die Dynamik der Wetterfronten neuen Nährboden gegeben. Sie sind im Fluß und werden in den meteorologischen Fachzeitschriften aller Länder lebhaft weitergeführt.

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