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In der Eiswelt der Jungfrau

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! IN DIESEM HERBST 1962 sind es 50 Jahre, seit die letzte Etappe der Jungfraubahnstrecke und die Bergstation Jungfraujoch dem öffentlichen Betrieb übergeben werden konnten. — Die eisenbahn- und erschließungsfreudige zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte vor dem neuartigen und kühnen Plan des Schweizer Industriellen Adolf Guyer-Zeller (1839 bis 1899) schon etliche Projekte ausgearbeitet. Im Gegensatz zu diesen durchweg vom Lauterbrunnental ausgehenden Plänen wollte Guyer-Zeller einen Anschluß an die bereits seit 1893 verkehrende Wengernalpbahn schaffen: Während die übrigen Vorhaben in Lauterbrunnen knappe 800 Meter Meereshöhe als Ausgangspunkt vorsahen, konnte der neue Plan von der Kleinen Scheidegg (2061 Meter Meereshöhe) ausgehen. Von vornherein war diese Bahn — für die damalige Zeit einigermaßen revolutionär — für den elektrischen Betrieb (mit eigenen Kraftwerken) geplant. Freilich waren außer den technischen Bedenken jener Zeit noch mannigfache Überlegungen zu parieren: Vor allem erwog man seitens der Behörde etwaige gesundheitsschädliche Wirkungen einer solchen Bahn wegen der raschen Überwindung so großer Höhenunterschiede. Im Abschnitt 8 der Konzession zu einem derartigen Bahnbau heißt es unter anderem:

„Der Bundesrat wird die Genehmigung der Detailpläne für diejenigen Strecken, welche höher als die Station Eiger (etwa 3200 Meter) liegen, erst dann erteilen, wenn nachgewiesen sein wird, daß der Bau und Betrieb der Bahn in bezug auf Leben und Gesundheit der Menschen keine ausnahms-weisen Gefahren nach sich ziehen werde.“

NOCH IM SELBEN JAHR, 1894, konnte mit dem Bahnbau begonnen werden, nach zweijähriger Bauzeit wurde die erste Teilstrecke bis Eiger-gletscher (2320 Meter) erstellt, die 1898 dann in Betrieb genommen wurde. Schon das war für die damalige Zeit und ihre zwar oft kühnen, aber doch meist beschränkten technischen Perspektiven eine außerordentliche Leistung. Lesen wir etwa in der Monographie „Die Schweiz“ (von J. C. Heer, 2. Aufl., 1902): „Der titanenhafte Gedanke, eine Touristenbahn in den Eishorst der Jungfrau... zu führen, war das Ideal und Lebensziel des Züricher Großindustriellen und Eisenbahnpolitikers Adolf Guyer-Zeller. Doch hat ihn ein tragisches Geschick wenige Monate nach der Eröffnung der ersten Strecke der Bahn aus dem Leben gerufen. Seine Erben setzen nun den Bau fort, aber es ist mit seinem Tod zweifelhaft geworden, ob sich das gewaltige Unternehmen je vollständig verwirklichen wird und die vielen kühnen .Pläne... in Erfüllung gehen. Die Bahn sucht im Inneren des Eigers mit 25 Prozent Steigung den Weg in die Höhe des Gebirges. Der Tunnel ist bis zur Eigergalerie vollendet, die einen wunderbaren Tiefblick auf das Tal von Grindelwald und den Fernblick auf die am Thunersee aufsteigenden Berge gewährt. Selbst wenn die Bahn ein Torso bliebe, wäre ihr das Interesse der reisenden Welt gesichert.“

TATSÄCHLICH SOLLTE dieser zeitgenössische Bericht — zumindest bis heute — recht behalten. Zwar begann man nach der Ersteröffnung unverzüglich mit dem Bau des heute mehr als sieben Kilometer langen und teilweise bis 65 Meter unter der Erd-beziehungsweise Eisoberfläche sich befindlichen Tunnelstollens, jedoch verzögerten zum ersten der plötzliche Tod Guyer-Zellers (Herzschlag) und zum zweiten technische und finanzielle Schwierigkeiten den Weiterbau sehr. Die zehn Millionen Franken des ersten Kostenvoranschlages waren bereits mit der Errichtung der Station Eismeer (3160 Meter) im Jahre 1905 völlig verbraucht. Weitere fünfeinhalb Millionen Schweizer Franken mußten bis zur Errichtung der Station Jungfraujoch (3454 Meter) im Jahre 1912 (also nach insgesamt mehr als 17jähriger Bauzeit) investiert werden. Hauptsächlich waren es in der Folge die finanziellen Schwierigkeiten, die den Weiter- und Fertigbau der Bahn bis zum Jungfraugipfel (4166 Meter) verhinderten. Während des ersten Weltkrieges erfolgte naturgemäß ein ungewöhnlicher Rückgang in der Benützung der freilich nicht ganz preiswerten Bahn: Guyer-Zeller hatte zwar vorsichtigerweise mit einem jährlichen Anfall von maximal 5000 Benutzern der Bahn bis zum Gipfel beziehungsweise zum Endpunkt gerechnet, anderseits war infolge der erheblich erhöhten Kosten eine entschieden größere Fahrgastzahl nötig geworden. Nach Besucherzahlen, die anfänglich die Guyer-Zellerschen Annahmen um ein Mehrfaches überstiegen, sank die Zahl der Reisenden für 1915 auf 5000, jedoch wurde in den Nachkriegsjahren die Gesamtbahn jährlich von 50.000 bis 100.000 Benutzern in Anspruch genommen. Die Rückschläge im zweiten Weltkrieg waren ebenfalls erheblich, jedoch brachten die Hochsaisonreisejahre nach 1950 Besucherzahlen bis mehr als 300.000! Aus dem ursprünglichen Defizit der Bahn (1915: mehr als 27.000 Franken) wurden immer größere Überschüsse (zum Beispiel 1960: mehr als eineinhalb Millionen Franken), die indes zur laufenden Sanierung der Bahn und insbesondere zur Renovierung des Wagenmaterials auch dringend gebraucht werden konnten.

In Anbetracht der jüngsten Überschüsse der Bahn, die ja ganzjährig, ohne Rücksicht auf die Witterungsverhältnisse, betrieben wird, ist es nicht verwunderlich, daß man gerade im derzeitigen Jubiläumsjahr sich erneut vor die Frage gestellt sieht, ob man nicht gut daran täte, den Torso vom Jungfraujoch endlich zum Gipfel fortzuführen, ein Projekt, das angesichts der heutigen technischen Neuentwicklungen gewiß mit Viel Geld und einiger Zeit zu lösen wäre und das manchen Besucher trotz der damit verbundenen relativ hohen Kosten (jetziger Fahrpreis inklusive Wengernalpbahn 300 Schilling) zu einer erneuten Fahrt in diese grandiose Bergwelt locken würde. Allerdings erheben die zuständigen Naturschutzvereinigungen energisch Protest, wogegen freilich auch wieder das Argument ins Treffen geführt werden kann, daß es rundum ja noch genügend Bergsteigerziele gäbe!

EMPFEHLENSWERT IST die Benützung der wechselweisen Anfahrt zur Kleinen Scheidegg, einmal über Lauterbrunnen, zum anderen über Grindelwald. Beide Male wird Interlaken-Ost (erreichbar mit der SBB sowohl über Bern—Thun als auch über Luzern—Brü-nigpaß—Meiringen) als Ausgangspunkt genommen. Bis Lauterbrunnen setzen wir uns in eine Schmalspurbahn (der BOB = Berner Oberland-Bahnen), dann Umstieg in die elektrifizierte und bezahnte Wengernalpbahn. Freilich kann man jetzt schon mitunter glauben, sich eher irgendwo in England oder den USA als mitten in der Schweiz zu befinden: Meist sind es Engländer oder Nordamerikaner, die in der Hauptsache gruppenweise diese Züge oder Strecken bevölkern. Interlaken war seit eh und je das englisch-amerikanische Fremdenzentrum in der Schweiz. Auch kommt hinzu, daß die großen Reisegesellschaften unter bestimmten Voraussetzungen stark verbilligte Preise (Pauschale) verschaffen können (zum Beispiel Kopplung mit Aufenthalt auf der Kleinen Scheidegg oder im Hotel auf dem Jungfraujoch und ähnliches). Vorbei an den berühmten und immer wieder zu bewundernden Staubbach-fäjlen und steil aufwärts in zahlreichen Windungen über den Kurort Wengen (1277 Meter), einer kleinen Hotelstadt auf einer geräumig sich hinziehenden Alpmatte: In fast unablässigem Anblick des Jungfraumassivs (freilich nur bei guter Witterung) zur Paßhöhe zwischen Lauterbrunnen und Grindelwald, der Kleinen Scheidegg. Hier erfolgt der Umstieg in die Jungfraubahn, die heute in der Regel mit komfortablen (stets geheizten) Trieb-wagenzügen befahren wird. Bis zur Station Eigergletscher bleibt die Bahn über der Erde, streckenweise von Schneeschutzgalerien überdacht, dann beginnt der große Tunnel, den man in der nunmehr noch eine dreiviertel Stunde dauernden Fahrt allenfalls in den Stationen Eigernordwand und Eismeer kurz verläßt, um von den eingehauenen Felsgalerien unvergeßliche Blicke in die phantastisch anmutenden Fels- und Eisblockszenerien zu werfen. *

DIE ENDSTATION JUNGFRAUJOCH befindet sich desgleichen unter der Erde. Darüber das schwaluennest-artig konstruierte Berghaus mit Terrasse, Restaurant, Hotel und Gaststube; von hier aus führt ein (nur mit Schneebrille und geeignetem Schuhwerk begehbarer) Weg zum Plateau Darunter, ebenfalls vom Berghaus direkt erreichbar, der sogenannte Eispalast mit Schlittschuhbahn, diversen Höhlen, mit heiteren Skulpturen (unter anderem ein ganz in Eis geschlagenes Auto, eine Bar mit Fässern, Tischen, Gläsern, Hockern tjsw., alles aus Eis!) Diese Eisgrotten sind elektrisch beleuchtet, ihre Wege können verhältnismäßig leicht begangen werden. Wenden wir uns zum Bahnhof der Jungfraubahn zurück, so erreichen wir nach der anderen Richtung den sogenannten Sphinxstollen, der zur internationalen Hochalpinen Forschungsstation (nicht zugänglich) und schließlich zum 112 Meter hohen Lift auf die Wetterwarte mit Aussichtsrundumgalerie (3573 Meter) führt. Von hier und von der Hotelterrasse bietet sich dem Besucher der weiteste Blick in die hochalpine Berg-, Eis- und Gletscherwelt. Vor einem auf der einen Seite die Ausläufer des Großen Aletsch-gletschers (mit 3 8 Kilometer Länge und 170 Quadratkilometer Ausdehnungsfläche der größte Gletscher Europas) und auf der anderen Seite die Reihe einmalig mächtiger Bergriesen (Mönch und Eiger; in Richtung Jungfrau Breithorn und Blümlisalp und vieles andere). Geht man den Sphinxstollen zu Ende, gelangt man zur Polarhundstation und zur Skischule (auch Sommerbetrieb und Sommerläufe).

DIE RÜCKFAHRT setzt man in unserem Fall am besten von der Kleinen Scheidegg mit der Wengernalpbahn in Richtung Grindelwald fort. Man steigt wieder auf der Kleinen Scheidegg um und wirft einen Abschiedsblick zum Jungfraumassiv hinauf. (Ein Aufstieg zum Jungfraugipfel ist für alpin geschulte Wanderer nicht besonders schwierig, man rechnet knappe vier Stunden mit Führer und bei günstigen Witterungsverhältnissen; hingegen gilt ein Aufstieg zum benachbarten Mönch als mühsam, ebenso eine Wanderung über Jungfraufirn und Aletschgletscher.) — Über Alpiglen mit seinen weiten Alpenrosenfeldern führt der andere Teil der Wengernalpbahn in neun Kilometer und in zuletzt erstaunlichem Gefälle nach dem nur noch gute 1000 Meter hoch gelegenen Grindelwald hinab. Dieser Teil der Fahrt ist freilich nochmals ein außergewöhnliches Erlebnis, wenngleich die Fels- und Eiswelt des Jungfraugebiets nun schon in einige Ferne und Höhe gerückt ist. In Zweilütschinen vereinigt sich die Schmalspurbahn aus Grindelwald mit der nach Lauterbrunnen; Interlaken-Ost ist dann verhältnismäßig rasch zu erreichen.

SCHLIESSEN WIR unseren Bericht mit einer keinesfalls übertriebenen Feststellung der Direktion der Jungfraubahn in ihrem Rechenschaftsbericht aus dem Jahre 1961: „Nicht jedem Besucher des Jungfraujochs ist ein heller Tag beschieden, der den Blick weit über die unvergleichliche Alpenwelt bis ins Tiefland freigibt, aber auch winterliche Stürme und entfesselte Elemente hinterlassen bei ungezählten Besuchern bleibende Eindrücke. Darauf ist die Weltgeltung der Tune-fraubahn zurückzuführen, die Jahr für Jahr Tausenden zum stärkten Erlebnis einer Schweizreise verhilft.“

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