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Kritische Fragen

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Die Entscheidung des Gemeinderates über den Bau und die Finanzierung der Wiener U-Bahn ist bis zum Herbst verschoben worden. Wir bringen einen Auszug aus der umfangreichen Stellungnahme der Ingenieurkammer für Wien, Niederösterreich und das Burgenland, die wie mehrere andere Fachgremien von der Gemeindeverwaltung dazu eingeladen wurde.

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Die Entscheidung des Gemeinderates über den Bau und die Finanzierung der Wiener U-Bahn ist bis zum Herbst verschoben worden. Wir bringen einen Auszug aus der umfangreichen Stellungnahme der Ingenieurkammer für Wien, Niederösterreich und das Burgenland, die wie mehrere andere Fachgremien von der Gemeindeverwaltung dazu eingeladen wurde.

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Die Ingenieurkammer für Wien, Niederösterreich und Burgenland begrüßt den Beschluß des Wiener Gemeinderates, zur Sanierung der Probleme des Wiener Massenverkehrs eine Untergrundbahn zu bauen.

Grundsätzliches

Die Erklärung, das Grundnetz lasse für den späteren Ausbau alle Möglichkeiten offen, wäre dann richtig, wenn durch eine Linienführung innerhalb des Grundnetzgebietes die Fortsetzung der Radiallinien nicht präjudiziert werden würde. Das Grundnetz ist so anzulegen, daß für das später anzuschließende Gesamtnetz tatsächlich mehrere Varianten offen bleiben.

uas Grundnetz allein kann nicht beurteilt werden, wenn nicht zumindest eine vorläufige Fassung für ein Gesamtnetz mitbeurteilt wird. Nur ein Gesamtnetz im Zusammenhang .mit den Prioritäten kann das Grundnetz ergeben.

Das Gesamtnetz ist in drei aufeinanderfolgenden Abschnitten zu beurteilen:

a) Dichtverbautes Gebiet ohne Innere Stadt. Die Trassen haben in den Schwerlinien von Wohn- und Arbeitshevölkerunig zu liegen.

b) Verknüpfung der Linien in der Inneren Stadt.

c) Weiterführung der Linien nach außen. Diese hängt weitgehend von endgültigen Entscheidungen über das Leitbild ab.

Die Frage der wirtschaftlichen Bauweise kann nur insofern von Bedeutung sein, als sie in Detailfragen für die Trassierung der Linien entscheidend sein kann; sie darf keinen Einfluß auf die generelle Linienfestlegung haben.

Die Frage nach dem nominellen Bauträger hat nur sekundäre Bedeutung. In erster Linie ist festzustellen, welche Linien vordringlich zu bauen sind, welche Betriebsmittel wirtschaftlicher sind, und erst dann kann festgestellt werden, ob in diesem oder jenem Fall besser die Verkehrsbetriebe oder die Bundesbahnen Bauträger sind oder auch eine eigene Massenverkehrsbetriebsgesellschaft zu gründen ist (siehe zum Beispiel Hamburg). Jedenfalls dürfen sachlich notwendige Entscheidungen nicht an Kompetenzfragen scheitern.

Zusammenhang U-Bahn-Planung und Stadtplanung

Bezüglich des Leitbildes der Stadt Ist noch keine Entscheidung gefallen. Abgesehen davon, daß keine Entscheidung bezüglich der vier „Stadtmodelle“ getroffen wurde, entsprechen diese auch nicht dem vielgliede-rigen Stadtraum.

Eine Entscheidung über das U-Bahn-Grundnetz setzt den Beschluß über einen allumfassenden Generälverkehrsplan voraus.

Das vorliegende Projekt ist nicht das erste U-Bahn-Projekt für Wien, sondern das jüngste einer Reihe. Es wäre zu begründen, warum auf die bereits vorliegenden älteren U-Bahn-Projekte nicht mehr zurückgegriffen wurde.

Als Grundlagen wären vergleichende Untersuchungen mit Massenverkehrsnetzen anderer Städte und deren derzeitiger und zukünftiger Betriebsweise von Interesse gewesen.

Netzgestaltung

Das Grundnetz sollte für den U-Bahn-Benützer einfach und klar sein. Eine Orientierung in der Stadt muß auch von ihren unterirdischen Verkehrslinien aus gegeben sein.

Eine Linie vom Westbahnhof (über Mariähilferstraße) zum Praterstern oder eventuell weiter, erscheint in fast allen alten U-Bahn-Planungen als klassische Linie. Da sich diese Linie intuitiv als eine der wichtigsten anbietet, wäre zu begründen, warum von dieser Linie abgegangen wurde. Sollte sich ergeben, daß

eine Linie 1 vom Westbahnhof zum Praterstern gebaut wird, müßte der verbleibende Arm der derzeitigen Linie 1 aus dem Süden, seine Fortsetzung in einer Linie nach dem Nordwesten der Stadt erhalten.

Burggasse oder Mariahilferstraße?

Die geplante Linie durch die Burggasse zur Stadthalle ist abzulehnen, da es ungleich wichtiger ist, die Geschäftsstraße Wiens — die Mariahilferstraße — und damit auch den Westbahnhof schnell und gut zu erreichen und mit dem Entwicklungsgebiet jenseits der Donau zu verbinden.

Die Karte mit der Zieldichte des Berufsverkehrs zeigt eine Massie-

rung um die Mariähilferstraße, da heißte daß die Linie von der Stadt halle durch die Burggasse führend dieses Gebiet glatt umginge. Es bie iet sich eine Linienführung von der Schmelz zum Westbahnhof an.

Aus den Belasbungsplänen geht eindeutig hervor, daß die Belastung aus dem Bereich südlich,der Schmelz genau so wie in die Burggasse auch in die Mariähilferstraße geleitet werden könnte.

Die Parkraumuntersuchung von Dr. Dorfwirth zeigt, daß Autoabstell-plätze für die Arbeitsbevölkerung heute schon in den Bezirken 1, 6 und 7 fehlen.

Die Schwerlinie der Bezirke 6 und 7 ist die Mariahilferstraße. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer Führung einer U-Bahn-Linie in diesem Gebiet.

Die Länge der Mariahilferstraße von Getreidemarkt bis Gürtel ist mit 1,8 Kilometer zu groß, als daß diese Strecke von beiden Enden allein bedient werden könnte. Die Bedienung der Gegend Mariahilferstraße durch eine UHBahn-Linie ist auch deshalb zu fordern, weil die Entfernung der Straßenbahn von der Mariahilferstraße dringend geboten erscheint.

Zweierlinie

Es wird bezweifelt, ob eine U-Baihn-Linie in Verlängerung der jetzigen Zweierlinie nach Norden überhaupt eine entsprechende Frequenz aufweisen wird.

Eine Variante wäre die Linienführung durch die Garnisongasse, Schwarzspanierstraße in die Berggasse. Möglicherweise könnte im Zusammenhang mit dieser Baugrube auch gleich eine unterirdische Fortsetzung des Lastenstraßenautover-kehrs mit Unterfahrung der Währingerstraße erfolgen. Eine endgültige Lösung wird aber kaum vor

Festhegen des Projektes für die Universitätsstadt möglich sein.

Linkes Donauufer

Die Verlängerung der Linie 1 nach Kagran erscheint vorteilhafter als die Erschließung des linken Donauufers durch die Linie 3. Es würde dann eine durchgehende Radiallinie im Zuge sehr starken Verkehrs entstehen.

Bei Realisierung des Schnellbahnprojektes Ostbahn-Stadlau erübrigt sich die Linie 3 vorläufig nach Stadlau.

Die Führung von zwei U-Bahn-Linien nach St. Marx erscheint nicht gerechtfertigt.

Innere Stadt

Die Innere Stadt weist Zonen unterschiedlicher funktioneller Bedeutung auf. Durch Veränderungen von Verkehrsverhältnissen wird aber das bestehende räumlich funktionelle System und dessen Struktur 'beeinflußt. Eine Rücksichtnahme auf diesen Sachverhalt scheint aus den

vorliegenden Unterlagen nicht erkennbar.

Die Aufschließung durch ein Linienkreuz mit einem einzigen Umsteigepunkt im Zentrum ist keine sehr günstige Dösung. Der Knoten Stephansplatz würde unweigerlich die Hauptlast des Aus- und Einsteigens zu tragen haben.

Eine Dreiecksaufschließung ergäbe übersichtlicheres Umsteigen und bessere Verteilung der Passantenströme. Bei einer Dreieckslösung mit Einschleifung könnte auf tiefe Niveaus verzichtet werden.

„Innen“- oder „Entwicklungsverkehr“?

Es fehlt eine Aussage, ob der „Innenverkehr“ Vorrang vor dem „Entwicklungsverkehr“ haben soll und ob letzterer durch jahrelange Provisorien bewältigt werden kann.

Der provisorische USTRABA-Betrieb auf U-Bahn-Teilstrecken ist abzulehnen.

Der Umbau der Linie WD ist im Interesse einer Durchmesserlinie durch die Innenstadt zunächst zurückzustellen. Da die U-Bahn vor allem das Parkproblem für die Arbeitsbevölkerung. lösen muß, ist die vordringliche Errichtung einer Linie in die Innere Stadt an Stelle des Umbaues von Wiental- und Donaukanallinie erforderlich.

Fertigstellung der Schnellbahn

zu den vorbehalten der OBB bezüglich der Finanzierung ist zu bemerken, daß der Ausbau der noch nicht eröffneten Stationen auf der bestehenden S-Bahn-Linie sicher vordringlich zu geschehen hätte, damit diese Massenverkehrslinie voll ausgenützt werden kann (vor der U-Bahn). In diesem Zusammenhang sollte die Zahl und Lage der noch nicht eröffneten Stationen noch einmal überprüft werden.

Da (die U-Bahn das Parkproblem der Arbeitsbevölkerung lösen muß, ist eine vordringliche Lösung bezüglich park and ride-Einrichtungen anzustreben. Dies zunächst bei allen schon bestehenden Schnellverkehrsmitteln und dann gleichzeitig mit dem Ausbau weiterer ' U-Bahn-Linien.

Stationen

Die Haltestellen sollten grundsätzlich mit Mittelperron ausgestattet werden. Bei zukünftigen Haltestellenplanungen müßten unbedingt Fußgeherpassagen miteingeplant

werden. Die Haltestelle der Zweierlinie bei der Burggasse zeigt eine typische Fehlplanung.

Bezüglich Haltestellenbaustellen als große Verkehrsstörer wäre zu überlegen, inwieweit diese Bauwerke nicht im Rahmen von ohnedies geplanten Hochbauten abseits des Straßenquerschnittes unterzubringen wären.

Baugruben bei Haltestellen müssen nicht wirklich jahrelang offen sein. Es müßte möglich sein, Baugruben ehestens abzudecken und unterirdisch weiterzubaueni.

Es wird bezweifelt, daß die Standorte . der Betriebshöfe .. „Wasserleitungswiese“ und „Erdberg“ tatsächlich unabdingbare Notwendigkeiten sind.

Die Möglichkeit von Endbahnhöfen je Linie sollte erwogen werden. Diese müßten zur kurzfristigen Wartung ausreichen. Für die längerfristige Wartung steht die Hauptwerkstätte zur Verfügung.

Umland — Stadtregion

Es ist unrichtig, die Verkehrsplanung nur auf das Wiener Gemeindegebiet abzustellen.

Für die Wirtschaft gibt es keine Verwaltungsgrenzen.

Das Argument, daß die Einpendlerquote von Wien niedriger als in anderen Großstädten sei, ist nicht schlüssig (Zählung 1961: allein aus Niederösterreich 62.000).

So ist zum Beispiel die Behauptung, daß der Pendlerverkehr vom Westbahnhof gering sei, irrelevant;

erstens steigen auch in den Bahnhöfen vorher Pendler aus (viele Züge verkehren überhaupt nur bis Hütteldorf)„ anderseits sollten die Benutzer von tadividueMen Verkehrsmitteln aufgefangen werden.

Der Gedanke, die ehemaligen und nun elektrifizierten Stadtbahnlinien wieder dem VoUJbahnibetriab einzugliedern, ist naheliegend.

Es wird daher bezweifelt, daß es richtig ist, die für den seinerzeitigen Vollbahnbetrieb geschaffenen Anlagen nun mit einem innerstädtischen Verkehrsmittel, also einer U-Bahn, zu belegen und so auf die Dauer für

den Regionalverkehr auszuschließen.

Es ist nicht maßgebend, ob die ÖBB die S-Bahn derzeit weiter ausbauen wollen oder nicht. Nur objektive Gesichtspunkte sind herauszustellen.

Bezüglich Günstigkeit eines Schnellbahnnetzes sei einerseits auf Berlin hingewiesen, wo seit Jahrzehnten sich ergänzende Schnellbahn- und U-Bahn-Netze bestehen, anderseits auf Paris, wo neben dem nun seit 60 Jahren bestehenden Metrosystem ein Schnellbahnnetz durch die inneren Stadtteile gebaut wird.

In Brüssel wurde eine Vollbahnlinie durch das Stadtzentrum gebaut.

Weitere innerstädtische Schnellbahnen mit Vollbahnprofll werden derzeit gebaut oder geplant in München, Frankfurt am Main, Stuttgart, Dresden, Leipzig und Hamburg.

Das Argument, daß die Umstellung des Gürtels auf U-Bahn an Stelle von S-Bahn deshalb besser wäre, weil die U-Bahn viel leistungsfähiger ist, scheint nicht stichhaltig.

Der Hinweis, daß ein U-Bahn-Netz nur unter Benützung der Wiental- und Donaukanallinie gebaut werden kann, scheint im Hinblick auf die Verhältnisse in anderen Großstädten nicht stichhaltig. Worin ist eine Begründung dafür zu suchen, die derzeitige Stadtbahn-linie vordringlich betriebsmäßig umzustellen?

Inwieweit sind Entwicklungen in anderen Ländern berücksichtigt worden, wie zum Beispiel:

a) Ob die U-Bahn sofort vollautomatisiert verkehren soll;

b) Frage der Luftbereifung (RATP — Paris, Montreal);

c) amerikanische Untersuchungen, die ergeben haben sollen, daß zukünftig nur noch Luiftlkissenbetrieb in Frage kommen wird, da sowohl die Anschaffungs- als auch die Betriebskosten wesentlich niedriger lägen.

Bauweise

Bei den Kostenangaben für die einzelnen Linienführungen werden nur die jeweiligen Baukosten berücksichtigt.

Ein echter Wirtschaftlichkeitsvergleich muß die Gesaintkosten, also auch jene, die die Wirtschaft durch den Bau erleidet, die Folgekosten des Baues miteinbeziehen (Social costs). Die offene und die Tunnelbauweise wären echt rechnerisch gegenüberzustellen, wobei auch die volkswirtschaftlichen Kosten einzukalkulieren wären.

Der Vorschlag, über dem U-Bahn-Tunnel einen Parktunnel anzuordnen, scheint nicht opportun. Günstiger wäre es, hier fließenden Verkehr unteraubringen und im Laufe der Zeit durch Umbauten oder Neubauten die Untergeschosse der anschließenden Gebäude aufzuschließen. Streckenweise müßte sogar überprüft werden, ob nicht im Zuge des Baues von U-Bahn-Tunnels auch gleich längere unterirdische Straßenzüge entweder zur unterirdischen Versorgung von Geschäftsvierteln oder auch als durchquerende Schnellstraßen angeordnet werden könnten.

Bei der Entscheidung bezüglich der Bauweise der U-Bahn und damit indirekt der Tieflage, sollte auch die Verwendung als Zivilschutzraum mit ins Kalkül gezogen werden.

Planungsvorgang

Die Größe des Bauvorhabens berücksichtigend, erscheint der Inge-nieurkammer die Überlegung des weiteren Planungsvorganges von besonderer Bedeutung.

Bei aller Anerkennung der bisher geleisteten Arbeiten erscheint die Erfassung und Koordinierung aller bedeutenden Planungskräfte unbedingt notwendig. Gelegentliche Gespräche sind begrüßenswert, aber nicht ausreichend.

Der Zusammenschluß von Planungsgruppen des Wiener Magistrates, der niederösterreichischen Landesregierung, der Wiener Verkehrsbetriebe, der ÖBB, von freischaffenden Fachleuten und von Instituten erscheint unerläßlich.

So wird entgegen der bei der Diskussion vertretenen Meinung auch daran zu denken sein, die bauliche und architektonische Gestaltung der Stationen mit Unterführungen, so, wie das vor 70 Jahren bei der Wiener Stadtbahn der Fall war, als baukünstlerische Tat zu setzen. Der richtige Weg, Bestlösungen zu finden, werden rechtzeitige Wettbewerbe sein,

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