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Signal: Freie Fahrt!

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ZWEI MINUTfN VOR NEUN. Der Lautsprecher hat sein Sprüchlein hergesagt. Einige Türen knallen ins Schloß. Der diensthabende Verkehrsbeamte hebt seinen Befehlsstab. Ex 111, einer eisernen Schlange gleich, züngelt zwischen Signalen und den Masten der Fahrleitung aus dem Betonrechteck des Wiener Westbahnhofs. Abschiedstücher flattern aus Fenstern, aus der Ferne wie Möwen anzusehen — und mit einem Male schrumpft der Zug zu einem winzigen Punkt zusammen. Nun sind auf einer Länge von 731 Kilometern hunderte Hände tätig, um den Zug zu geleiten. Wenn die Zeiger einige Minuten nach 19 Uhr weisen, , tritt 668 Kilometer westlich von Wien auf der Ostrampe des Arl-bergs der Statipnsvorstand aus dem hellen Dienstzimmer des Bahnhofs von Pettneu ins Freie. Noch einmal überzeugt er sich, ob alle Signale und Weichen richtig gestellt sind und schaut zum dunklen Himmel. In Wien war klares Wetter, hier, 1196 Meter hoch, tanzen Schneeflocken durch die Luft. „Aus Feldkirch ist Regen gemeldet“, sagt der Beamte und schaut auf seine Uhr. Der „Arlex“ hat eine kleine Verspätung. Unbeweglich steht der Mann mit der roten Mütze, auf die sich Schneeflocken setzen. Dann — ganz plötzlich — glüht ein Licht auf, noch eines. Ein Brausen fliegt durch die Abendluft, der Boden erzittert. Ein Luftdruck. Erhellte Fenster, zu einem Strich zusammengezogen, flitzen vorbei. „Er macht's vielleicht noch“, sagt der Beamte, und meint die Verspätung. „Ja, wenn wir'zwei Geleise hätten...“

WENN WIR ZWEI GELEISE HÄTTEN. Ein Satz, dem man noch viele ähnliche, in dem das Wort „hätte“ rorkorpin.tj an .die .eite stellen könnte.. Oer für voriges Jahr in Aussicht genommene zweigeleisige Ausbau der Arlbergstrecke, Teil Bludenz—Bregenz, der sich auf die kleine Etappe zwischen Bregenz und Lauterach bezieht, mußte verschoben werden. Heuer sollen diese vier Kilometer darankommen. Die technischen Vorarbeiten für das Legen des zweiten Geleises setzt man fort, erklärt uns die Bundesbahndirektion Innsbruck. Aber ann geht es weiter? Die 5 5 Millionen Schweizer Franken der Vorjahrsanleihe dienten nur der Verbesserung der Ausweichen auf der eingeleisigen Strecke Feldkirch bis Innsbruck. Ja, der Arlberg, der jetzt dem Ex 111 den Namen gab — wie ändern sich die Zeiten! Einstens war er eine Nebenstrecke. Man fuhr von Tetschen nach Triest und von Lemberg nach Ala. Vor rund 120 Jahren fand auf der Kaiser-Ferdinand-Nordbahn die Eröffnungsfahrt nach Deutsch-Wagram statt. Damals meinte Bäuerle nachdenklich: „Wir werden mehr Erfahrungen ■ und weniger Bildung haben...“ In der Folge sind schwerwiegende Irrtümer in der Verkehrsplanung gemacht worden, politische Einwirkungen verhinderten beispielsweise den Ausbau der Bahn im Zuge des Donautals, die geographische Stellung Wiens wurde verfälscht.

DIE ERSTE REPUBLIK mit ihrer Erbschaft verdüsterte die verkehrstechnische und damit auch wirtschaftliche Situation. Auf 350 Kilometer ist das Inntal für Oesterreich bestimmend, aber von der Mündung bis zur tirolischen Grenze gehört nur das rechte Ufer zu Oesterreich, und überdies muß der Reichenhaller Winkel auf einer der bekannt schwierigsten Strecken unseres Landes umfahren werden. Ein in achtzig Jahren gewachsenes, äußerlich gewiß imposantes Netz brachte finanzielle Lasten. Gesamtgliederung und Einzelheiten dieses Bahnnetzes tragen mit Schuld daran. Das Defizit der Bundesbahnen

beträgt nach dem neuen Budget rund 2,5 Milliarden Schilling, davon 1,7 Milliarden Schilling im ordentlichen Haushalt — ohne Investitionen. *

DER VERWALTUNGSFACHMANN, den wir dazu befragten, weist auf die groteske Tatsache hin, daß 68.205 Aktiven 87.989 Pensionisten gegenüberstehen. Von 4499 Millionen Schilling Personalaufwand entfallen 73 Prozent auf Ruhegehälter. Der Abgeordnete einer Regierungspartei, dem Bundesminister für Verkehr und Elektrizitätswirtschaft nahestehend, erklärt

diesen Pensionsstand so: „Man hat früher sehr viele Eisenbahner aus rein politischen Gründen in den Ruhestand versetzt.“ Das Parteiblatt dieses Mannes schiebt indes die Schuld auf die Monarchie und das Erbe, das die Erste Republik antreten mußte. Beide geben aber nicht genau an, wie, wodurch, weshalb und wo. Bei den Gewerkschaften spricht man zuerst von einem Plan, die Arbeitszeit von 48 auf 45 Wochenstunden herabzusetzen. Welche Folgen man sich davon erwartet, wurde gleichfalls nicht präzise ausgeführt. Eine prominente Persönlichkeit des Bankfaches weist bei der Erörterung der Probleme darauf hin. daß. es keine nach kauf-männis'hen Prinzipien erstellte Bilanz gäbe und

man von dem Defizit kein richtiges Bild gewänne. Der Stationsvorstand des auf neuen Glanz hergerichteten Bahnhofes am Ausgang der Wachau, den wir gerade treffen, als er Fahrkarten ausgibt, macht ein bekümmertes Gesicht. „Wo soll ich anfangen, wem soll ich klagen, und hilft es was? Nein, glauben Sie mir, es geht alles heute so weiter, wie gestern, und morgen; wenn das Defizit noch größer geworden ist, haben wir die Schuld, weil wir Regiekarten haben. Na ja, Sie wissen ja! Dabei bin ich froh, wenn ich mich einmal daheim ausschlafen kann.“ Der Beamte im Stellwerk, drei Schnellzugstunden südlich von Wien, meint: „Sehn S\ dort, wo der große Hebel ist, dort müßte man hinschau'n.“ Der Bremser des zwanzig Minuten später einfahrenden Güterzuges: „Ich bin nur ein moderner Zigeuner. Mein kleiner Bub kennt mich noch gar nicht richtig. Ich denk halt an eine vernünftige Diensteinteilung, an Organisation und Planung für das ganze Land. Und wenn von den Bundesbahnen geredet wird, sollten iit T.ent wenicrtr nolitisieren “

ORGANISATIONSPLAN UND AUFBAU. Wo anfangen, wo enden, wo das Geld hernehmen? Wirken sich Pläne auch wirtschaftlich aus, kann man eine gegebene Verkehrssituation finanziell auffrisieren? Oder bleibt als der Weisheit letzter Schluß das mir von einem ängstlichen Ministerialrat zugeflüsterte ominöse Wort „Tarifrevision“? Es gibt hinderliche, kostenverzehrende Tatsachen. Nehmen wir die Strecke Krems—Grein. Die alte Kaiser-Ferdinands-Nord-bahn hatte eine Trassierung mit zwei Promille geplant, es wurde eine Linie mit zwölf Promille Steigung. Ein Massenverkehr, ein Schnellverkehr ist hier auf einer geographisch gegebenen Hauptschlagader nicht durchzuführen. Die syste-

matische Einfügung von Bahnen wurde schon frühzeitig unterlassen. Siehe Endstation in Stammersdorf. Nötige Verbindungsstücke, die eine erhöhte wirtschaftliche Ausnützung bestehender Trassen brächten, unterblieben. Siehe die Verbindung von Martinsberg-Gutenbrunn über Pögg-stall nach Weitenegg und ein Brückenbau zum Anschluß an die Westbahn. Das Waldviertel, seit je stiefmütterlich behandelt, gewänne so beispielsweise eine Verbindung von Schwarzenau (Franz-Josefs-Bahn) nach Westösterreich. Auch das Mühlviertel entbehrt der Aufschließung. Man kann nicht einmal vom Linzer Hauptbahnhof direkt nach Urfahr und dann nach Aigen-Schlägel fahren. Oft redete man, schon vor dem ersten Weltkrieg, über Bahnen von Kernhof nach Mariazell, beziehungsweise nach Neuberg (Verknüpfung der Westbahn und Südbahn) sowie von Gußwerk nach Au-Seewiesen. Alle Bemühungen des Fremdenverkehrs müssen am Ende mangels durchlaufender Schienenwege scheitern. Traurig-sieht es auch im Osten Wiens aus. Mit einer etwa drei Kilometer langen Strecke von Wolfstal nach Kittsee hätten wir eine Linie von der Donau bis Eisenstadt. Aber: Kittsee—Parndorf (20 km) ist eine stillgelegte Strecke.

AUF DER 10. VERKEHRSTAGUNG IN WIEN hat der Verkehrsminister den Vertretern der Wirtschaft einen Rechenschaftsbericht gegeben und zugleich einen Ausblick auf das heurige Jahr. Da ist die Rede gewesen von dem neuen Triebwagen Wien—Zürich, der eine Kürzung der Gesamtreisedauer von zwei Stunden bringen wird; von neubeschafften Schnellzugswagen mit sechs Plätzen je Abteil statt acht; von Elektrotrieb-wagen, Vierachsern zu 190 Plätzen; von den Verspätungen, hervorgerufen durch Langsamfahrstellen (auf den 60 km zwischen Wien und St. Pölten allein vier). Sicherlich hätte eine zeitgerechte Bereitstellung von Investitionsmitteln und ihre Aufteilung über ein Jahr noch mehr erreichen können. Der Minister hat bei der Aufzählung der Errungenschaften seit Kriegsende freilich nichts von den stillgelegten Bahnen gesagt — seit dem Ende der

Wien nach Salzburg). „Es sind nur Verkehrswinkel“, meinte dazu ein Experte gesprädishalber. Aber leben in den '„Winkeln“ nicht auch Mensehen, die' bequemer und schneller zur Arbeit und nach Hause kommen möchten? Freilich: es sind keine Beiträger zu den vier Milliarden Deviseneinnahmen des Fremdenverkehrs 1957 — aber. Beiträger zum Steueraufkommen! Da stehen die Grabsteine der neueren Verkehrsplanung : Fischamend—Götzendorf; Petronell—Bruck a. d. Leitha; Laa—Wildendürrnbach; Wolfstal bis Berg; Strem—Güssing; Rattersdorf-Li'ebing—Lützmannsburg; Schützen bis St. Margareten-Rust; Felixdorf bis Blumau-Neurißhof; drei Linien, die von Sollenau ausgehen (nach Wittmannsdorf, nach Steinabrückl, nach Ebenfurt); Weizelsdorf—Fer-lach; Breitstetten—Orth; die Verbindungsbahn, Vorortebahn, Donauuferbahn und so fort. Man redet jetzt — und hat Geld veranschlagt für die Jauntalbahn, welche uns von dem Transfer über südslawisches Gebiet unabhängig machen würde — und schon wackeln dazu bedenklich die Köpfe. Und glaubt man, daß eine Strecke, wie jene zwischen Friedburg—Lengau nach Schneegattern, wo ein Zug hin und zwei bedingt zurückfahren, die Leute dort zu einem oberösterreichischen Ländler begeistern wird? Es ist richtig, wie e

Generaldirektor Dr. SchantI tat, an die Perspektiven der kommenden europäischen Freihandelszone zu erinnern, an den europäischen Wagenpark, an die Gesellschaft zur Beschaffung von Eisenbahnfahrzeugen (EUROFINA) sowie an eine europäische Tarifvereinbarung mit Rücksicht auf Oesterreich als Transitland. Aber bei allem Weitblick dürfen die Steine vor den Füßen nicht übersehen werden. Freie Fahrt (und gefahrlose dazu) wünschten sich auch die von 11.093 schienengleichen Uebergängen Betroffenen. Der Finanzminister wurde gut daran tun, sich einmal mit seinem Kollegen unter grünem Licht zusammensetzen. Schließlich sitzen wir alle im gleichen Zug.

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